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Rolgeiger
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[Regionalforum-Saar] aus Joachim Fernaus "Rosen für Apoll"

Date: 2007/11/19 10:21:19
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Guten Morgen,

 

heuer möchte ich Ihnen einen Text vorstellen, den ich längstens in einem Buch über die Geschichte gelesen habe. Der Autor heißt Joachim Fernau, er war deutscher Historiker und lebte von 1909 bis 1988. Heute ist er - frag ich gerade andere Historiker nach ihm - weitgehend unbekannt.

 

Les ich allerdings diesen Text, dann weiß ich auch "weitergehend" warum :-)

 

Roland Geiger, St. Wendel

 

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Das 18. Kapitel seines Buches befaßt sich mit dem Perikleischen Zeitalter. Statt das ganze Kapitel zu rezitieren (ha, dies soll ein Anreiz für Sie sein, sich das Buch zuzulegen und selber zu lesen!), hier nur Fernaus eigene Kapiteleinführung, gefolgt von seinen Gedanken über den Fortschritt:

 

"Das achtzehnte Kapitel ist dem perikleischen Athen gewidmet. An der feierlichen Ausdrucksweise mögen Sie die Hochachtung ermessen, deren sich dieses »goldene« Zeitalter allgemein erfreut. Allerdings, untersucht man es einmal mit den Augen des Juweliers statt des Jubiliers, so kommt man zu mancherlei Entdeckungen. Und wie die Romanciers es tun, möchte ich hier den Satz voranstellen: »Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und gegenwärtigen Zuständen sind vom Autor voll beabsichtigt.«" (S.214)

 

 

"Die Sonne Homers, die Veilchenfelder, Apoll – noch ist das alles da, noch sind die Instinkte die gleichen wie früher. Aber Triebe, neue Triebe haben scharfe Linien in das Gesicht des Volkes gegraben. Die meisten Historiker wollen es nicht wahrhaben, weil sie die Menschen als Hühnerfarm ansehen und das Perikleische Zeitalter nur nach den gelegten Eiern beurteilen, aber es ist dennoch so: Die Athener sind gealtert. Rapide, viel erschreckender als alle anderen Griechen. Lassen Sie sich nicht täuschen, durch kein strahlendes Lachen und keinen federnden Gang. Es gibt untrügliche Zeichen.

 

Die Athener haben die Unschuld des Herzens und das köstlichste Gut der Griechen, die innere Zeitlosigkeit, verloren. »Ihre einzige Weisheit ist, jeden Zustand zu überholen und fortzuschreiten«, beschimpft Aristophanes sie, Griechenlands Bernard Shaw.

 

Damit ist das ominöse Wort gefallen für das Narkotikum, an das sich seitdem alle ziellos und ruhelos gewordenen Völker klammern: Fortschritt.

 

Welch ein Stichwort, Freunde! Drei Minuten, nur drei Minuten noch gönnen Sie mir!

 

Der Wahn vom »Fortschritt« ist, philosophisch gesehen, ein Denkzwang, der aus einer seelischen Erkrankung kommt. Er tritt epidemisch auf, und zwar immer dann, wenn die Lebenskraft eines Volkes sich zu erschöpfen beginnt. Man findet ihn bei jedem Kulturkreis, jedem Volk, jeder Rasse.

 

Dieser Denkzwang ist eine Ersatz-Erscheinung. Die Gehirne der Massenmenschen, die sich, ohne Wachstum oder Erweiterung, sprunghaft emanzipiert haben, verkraften ihr plötzliches Empfinden für große Dimensionen, für Weite, Zeit und Entwicklung nicht; sie verlieren den Halt, sie verlieren das, woran sie sich halten konnten, sie werden halt-los. In dem Worte steckt sehr richtig schon die Bewegung. Sie haben den »Sinn im Kleinen« verloren und sehen keinen im Größeren; sie vermuten nur, daß er irgendwo steckt, daß irgendwo in der Zukunft, irgendwo anders das Ziel, das Lohnende, das Befriedigende ist. Man muß also vorwärts schreiten!

 

Der wahre Inhalt des Fortschritts ist Wechsel. Mit einer Qualitätssteigerung hat er nichts zu tun, nichts mit einer Höherentwicklung, wie man sie fälschlich immer mit dem Wort Fortschritt verbindet! Auch ein Imkreisedrehen wird von der erkrankten Seele durchaus als Fortschritt empfunden – blicken Sie um sich, und Sie haben den Beweis vor Augen. Die kranke Seele konsumiert die Bewegung, den Wechsel wie eine Droge! Zustände, die zuvor von Dauer waren und auch von Dauer sein sollten, werden jetzt am laufenden Band »verbraucht«. Der Fortschrittler ist – vergessen Sie diesen Satz niemals mehr – ein Verbraucher! Mit nichts anderem hat er zu tun. Und damit sind wir bei einer entscheidenden Erkenntnis: Fortschritt ist Umsatz. Und zwar nicht etwa »eine Art Umsatz«, sondern er ist das Prinzip des Umsatzes schlechthin. Sie werden sich fragen, wie ich das Wort Umsatz meine: Genauso wie der Kaufmann. Es ist identisch mit dem merkantilen Begriff.

 

Daher, meine Freunde, ist die Wirtschaft auch der Mäzen des »Fortschritts«! (Und der Todfeind des biblischen Paradieses.) Mit einer Fortschrittsepidemie geht stets eine Wirtschaftsepidemie parallel.

 

Dies war der Zustand, in dem sich das perikleische Athen befand.

 

Selbstverständlich war es stolz darauf. Mehr noch; im Zustand des Fortschrittswahns wird die Massenseele tyrannisch. Sie verlangt, daß sich ihr jedermann im Fortschrittsglauben anschließt. Obwohl sie kein Heil weiß, gebärdet sie sich als Heilskünder.

 

Hier liegt die Erklärung für die merkwürdige Erscheinung, daß Athen Freunde wie Feinde, vor allem aber die »unterentwickelten Länder« aufforderte, dieselbe Verfassung, dieselbe Lebensform, dieselbe Wirtschaft anzunehmen; daß es die nicht Folgsamen zuerst als rückständig belächelte, dann anprangerte und schließlich bekämpfte. Das war etwas, was den Griechen alten Schlages, wie sie in Thessalien, Epirus, Ägina und Sparta saßen, rätselhaft war. Sie nahmen es für eine neuartige, undurchsichtige Politik. Es war jedoch –und ist immer in der Welt – nichts als die Angst vor dem Alleinstehen, der angstvolle Wunsch der wurzellos gewordenen Massenseele nach Bestätigung. Vielleicht mehr: der Wunsch, Vergleichsmöglichkeiten zu vernichten. In solchen Wünschen leben heute ganze Erdteile. Allerdings ohne Parthenon." (S. 230-233)

 

Joachim Fernau

Rosen für Apoll - die Geschichte der Griechen

Ullstein Verlag

ISBN-13: 978-3-548-23037-5

Seite 230-233