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2023/07/19 09:44:02 Matthias Gard via Regionalforum-Saar Re: [Regionalforum-Saar] Lesehilfen |
Datum | 2023/07/19 16:12:38 Joerg Weinkauf via Regionalforum-Saar Re: [Regionalforum-Saar] Lesehilfen |
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Betreff | 2023/07/09 17:23:07 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Den Frieden gewonnen? Städt e nach 1648 im Vergleich |
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2023/07/19 09:12:07 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Lesehilfen |
Autor | 2023/07/31 20:32:31 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] „Quo vadis“-Buch: De r Skandal der Skandale |
Date: 2023/07/19 12:23:54
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...
Anat
Feinberg. Die Villa in Berlin. Eine jüdische Familiengeschichte
1924–1934
Erschienen Göttingen 2022: Wallstein
Verlag
Anzahl Seiten 232 S.
Preis € 26,00
ISBN 978-3-8353-5315-2
Rezensiert für H-Soz-Kult von Jakob Stürmann,
Leibniz-Institut für jüdische
Geschichte und Kultur – Simon Dubnow
Berlin ist seit langem ein multi- und transkultureller Ort, der
von ganz
unterschiedlichen Migrationsbewegungen geprägt wurde und wird.
Für die 1920er-Jahre
beschreibt Karl Schlögel die Millionenstadt als „Ostbahnhof
Europas“, die auch
zehntausende Jüdinnen und Juden aus dem östlichen Europa
durchquerten.[1] Einige von ihnen trugen
dazu bei, dass
die Hauptstadt der Weimarer Republik für eine Dekade „die
Metropole hebräischer
Kultur“ wurde.[2] Anat Feinberg,
Professorin für hebräische
und jüdische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien in
Heidelberg,
beschreibt dieses kurzlebige Milieu. Im Mittelpunkt ihrer
Erzählung steht die
Familie Grüngard, die zwischen 1924 und 1934 in Berlin wohnte
und dessen Villa
im bürgerlichen Bezirk Schöneberg zu einem zentralen
Veranstaltungsort der
zionistischen Bewegung avancierte.
Feinbergs Buch ist eine für den geschichtswissenschaftlichen
Kontext
unkonventionelle Publikation. Die Literaturwissenschaftlerin
nutzt Stilmittel
aus der Belletristik, um das Leben der Familie Grüngard im
Berlin der
Zwischenkriegszeit auf ansprechende Weise wiederzugeben. Das
Buch ist in kurze
Tagebucheinträge untergliedert, die aus der Feder eines fiktiven
Erzählers stammen:
David, der „Ziehsohn der Grüngards“ (S. 74), geht im Haus ein
und aus. Damit
wirkt er als ein literarischer Filter der Autorin. Die
Wiedergabe der
Geschehnisse aus seiner Perspektive ermöglicht es Feinberg,
Wissenslücken, die
trotz intensiver historischer Recherche geblieben sind,
literarisch zu füllen
und so den Leserinnen und Lesern eine ansprechende und
zusammenhängende
familienbiografische Erzählung zu präsentieren.
Im Zentrum der Geschichte steht die vierköpfige Familie
Grüngard. Zu ihr
gehören der Vater Faivel, die Mutter Braina, der Sohn Jehuda und
die Tochter
Ayala. Faivel und Braina stammen beide aus der Stadt Verzholova,
die vor dem
Ersten Weltkrieg auf dem Staatsgebiet des Russländischen Reiches
lag, nur
wenige Kilometer entfernt von der Grenze zu Ostpreußen.[3] Ungewollt verschlägt es
die Familie nach
Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Leipzig. Mit Hilfe
familiärer Netzwerke
gelangen sie aber sehr bald nach Stockholm. Erst 1924 ziehen
sie, nun mit
schwedischer Staatsbürgerschaft, in die pulsierende Hauptstadt
der Weimarer
Republik. Wie auch in ihren bisherigen Wohnorten sucht die
Familie sogleich
Anschluss an die zionistische Bewegung. In der darauffolgenden
Dekade wird ihre
aus 18 Zimmern bestehende Villa für die in Berlin lebenden
Jüdinnen und Juden
zu einem wichtigen Anlaufpunkt. Dort finden Banketts, Teeabende,
zionistische
Vorträge, hebräische Literaturabende und Konzerte statt. Nach
nur wenigen
Monaten scheint es, als ob die Familie Grüngard in Berlin
verwurzelt sei.
Faivel und Braina sind „bestens im Bilde über alle jüdischen
Angelegenheiten in
der Stadt“ (S. 44).
In äußerst liebevolle Weise zeichnet Feinberg die Berliner Jahre
der Familie
Grüngard nach und erweckt damit ein ganz besonderes Milieu der
Weimarer
Republik neu zum Leben. Die sicherlich in Teilen ausgeschmückten
privaten
Erzählungen werden mit historischen Fakten verflochten. Dabei
stehen Aspekte
wie die osteuropäisch jüdische Herkunft, die Sprachenvielfalt
der jüdischen
Migrationscommunity, generationelle Prägungen und das jeweils
individuelle kulturelle
und politische Engagement der Familienmitglieder im Vordergrund.
Ausgehend von
Alltagsschwierigkeiten macht Feinberg außerdem auf die
politischen
Herausforderungen der Zeit aufmerksam. So erfolgt der Umzug der
Familie nach
Berlin fast zeitgleich mit dem Aufbruch des jüdischen Dichters
Chaim Nachman
Bialik in das Mandatsgebiet Palästina. Die Hyperinflation des
Jahres 1923, die
den Grüngards beim Kauf des Hauses zugutekommt, bringt den
bereits in Berlin
lebenden Bialik in enorme finanzielle Schwierigkeiten. Zum
Jahreswechsel
1925/26, als das kulturelle Leben in der Stadt prosperiert und
Braina die
Stücke das hebräischen Theaterensembles Habimah besucht,
behauptet mit
Oscar Wassermann ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, dass
der
Antisemitismus im Land abnehme. Nur fünf Jahre später erringen
die
Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl einen Stimmenanteil
von 18 Prozent.
Die Partei schätzen Jüdinnen und Juden bereits zu diesem
Zeitpunkt als so
gefährlich ein, dass über sie vielfach gesprochen und der
Begriff „Nazi“ bei
hebräischsprachigen Unterredungen verwendet wird.
Parallel zu den sich permanent wandelnden politischen
Rahmenbedingungen
vollzieht sich der Aufbau und die Stärkung der
jüdisch-nationalen Bewegung. Im
Buch gelingt es, diese Gleichzeitigkeit aufzuzeigen. In
besonderer Weise
profitierte die zionistische Bewegung Berlins von der
Grüngard-Villa als
halböffentlicher Veranstaltungsort. Anhand von Einladungen weist
Feinberg nach,
dass zahlreiche jüdische Intellektuelle sowie Künstlerinnen und
Künstler, wie
Sammy Gronemann, Fischl Schneersohn, David Koigen, Olga und
Bruno Eisner im
Haus ein- und ausgingen. Mit dem Fokus auf den Wohn- und
Lebensort der Familie
rückt Feinberg auf subtile Weise eine methodische
Herausforderung der
Geschichtswissenschaft in den Fokus: Kleine und oftmals auch
migrantische
politische Bewegungen organisieren sich zumeist im privaten Raum
und bei
halböffentlichen Veranstaltungen. Für dessen Rekonstruktion
erscheint der
Zugang zu Privatarchiven sehr häufig als unabdinglich. Die Villa
in der
Freiherr-vom-Stein-Straße war ein solcher Ort.
Ein weiterer von der Autorin hervorgehobener Aspekt ist die
Internationalität
der zeitgenössischen zionistischen Bewegung. Feinberg verweist
nicht nur auf
die internationalen Gäste in der Villa. Ebenso kann die Familie
auf Netzwerke
zurückgreifen, die durch den bereits vollzogenen Migrationsweg
entstanden sind.
Noch wichtiger erscheint aber, dass der Wunsch zur Übersiedlung
nach Eretz
Israel innerhalb der Familie eine Grundüberzeugung ist. Sie
manifestiert sich
auch durch Reisen ins Mandatsgebiet Palästina, wirtschaftliche
Investitionen
vor Ort und dem Erleben von Antisemitismus in Deutschland. Damit
wirkt das
Leben in Berlin aus unterschiedlichen Gründen im gesamten
Zeitraum als ein Zwischenstopp.
Schlussendlich müssen die Grüngards die Stadt im Frühjahr 1934
unter Zwang
verlassen.
Auch auf einer zweiten Ebene bricht Feinberg mit früheren
Konventionen der
deutschen Geschichtswissenschaft. Ihr Buch ist eine Beschreibung
der eigenen
Familien- und Herkunftsgeschichte: Faivel und Braina sind ihre
Großeltern,
Jehuda ihr Onkel und Ayala ihre Mutter. Mit Sicherheit ist die
persönliche Nähe
zum Forschungsobjekt ein zentraler Grund dafür, dass sie mit
literarischen
Mitteln eine gewisse Distanz und Verfremdung herbeiführt. Wie
schwer Feinberg
das Verfassen des Buches fiel, deutet sie in einer dem Buch
vorangestellten
„Rückblende“ an: „So verstrichen Wochen, Monate. Das Material
stapelte sich auf
und neben dem Schreibtisch, auf den Regalen, sogar auf dem
Teppich. Ich habe
kein einziges Wort geschrieben.“ (S. 7) Auf derselben Seite
bemerkt sie auch,
dass sie „kein wissenschaftliches, kein historisches Buch
schreiben wollte“.
Nichtsdestotrotz verweisen das umfangreiche Literatur- und
Quellenverzeichnis und
ihre bereits zuvor veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel
über ihre
Familie auf eine akribische Recherchearbeit, die sich gleichsam
im Buch
wiederfindet.[4]
In Die Villa in Berlin beschreibt Feinberg eine Episode
der Berliner
Stadtgeschichte, die durch die Machtübertragung an die
Nationalsozialisten ein
gewaltvolles und tragisches Ende fand. Lange Zeit war die
Geschichte der
zionistischen Bewegung im Deutschland vor 1933 von der
notwendigen Aufarbeitung
des Nationalsozialismus und des Holocaust überdeckt. Aus
heutiger Sicht
erscheint es aber immer wichtiger, sich auch mit den
kulturpolitischen Ansätzen
des Zionismus in der Zeit der Weimarer Republik
auseinanderzusetzen. Dies führt
zu einem breiteren Verständnis für die Geschichte der
zionistischen Bewegung
vor dem Holocaust und zeigt einen wichtigen Aspekt der
deutsch-jüdischen
Verflechtungsgeschichte in den ersten Dekaden des 20.
Jahrhunderts – eine
umfangreiche Thematik, der sich in den letzten Jahren auch
andere Forscherinnen
und Forscher angenommen haben.[5] Das besondere Verdienst
dieses Buches ist
es jedoch, dass es die geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse
für ein
breiteres Lesepublikum aufbereitet. Somit ist sehr zu hoffen,
dass die
beeindruckende, hervorragend zu lesende Darstellung auch über
das
fachwissenschaftliche Publikum hinaus wahrgenommen wird und eine
große
Leserinnen- und Leserschaft findet.
Anmerkungen:
[1] Karl Schlögel, Berlin
Ostbahnhof Europas.
Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998; für die
jüdische
Migrationsbewegung aus dem östlichen Europa vgl. Anne-Christin
Saß, Berliner
Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer
Republik,
Göttingen 2012.
[2] Michael Brenner, Jüdische
Sprachen und die
neuere deutsch-jüdische Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Jüdische
Sprachen in
deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis
ins 20.
Jahrhundert, Göttingen 2002, S. 7–10, hier S. 7. Hervorhebung im
Original.
[3] Vgl. Anat Feinberg, „Wir
laden Sie höflich
ein“ – The Grüngard Salon and Jewish-Zionist Sociability in
Berlin in the
1920s, in: Gertrud Pickhan / Verena Dohrn (Hrsg.), Transit und
Transformation.
Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939, Göttingen
2010, S.
234–253, hier S. 236.
[4] Vgl. neben Literaturhinweis
in Fußnote drei
auch Anat Feinberg, „The sky of Eretz Israel, my sky“. Berlin
and the Early
Yishuv as Reflected in the Letters of Feivel Shraga Grüngard,
in: Nathanael
Riemer (Hrsg.), Jewish Lifeworlds and Jewish Thought.
Festschrift presented to
Karl E. Grözinger on the Occasion of his 70th Birthday,
Wiesbaden 2012, S.
309–320.
[5] Für den deutschsprachigen
Raum ist
diesbezüglich besonders das Forschungsprojekt „Charlottengrad
und
Scheunenviertel. Osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der
1920/30er
Jahre“ zu nennen. Hieraus hervorgegangene und für das Thema
relevante
Publikationen sind u.a.: Tamara Or, Heimat im Exil. Eine
hebräische Diasporakultur
in Berlin, 1897–1933, Göttingen 2020; Shachar Pinsker, Spaces of
Hebrew and
Yiddish Modernism – The Urban Cafés of Berlin, in: Gertrud
Pickhan / Verena
Dohrn (Hrsg.), Transit und Transformation.
Osteuropäisch-jüdische Migranten in
Berlin 1918–1939, Göttingen 2010, S. 56–76.
Zitation
Jakob Stürmann: Rezension zu: Feinberg, Anat: Die Villa in
Berlin. Eine
jüdische Familiengeschichte 1924–1934. Göttingen 2022 , ISBN 978-3-8353-5315-2,, In: H-Soz-Kult,
19.07.2023, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-131572>.