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2016/01/04 23:37:47
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Tagungsbericht: Die Peutinger Tafel
Datum 2016/01/10 17:15:49
Stefan Reuter via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Informationen zu Grab von 1870 bei Rosbruck gesucht
2016/01/15 17:09:35
Michaela Becker
[Regionalforum-Saar] Schriftführer/in gesucht Well esweiler Arbeitskreis für Geschichte, Landeskunde u. V olkskultur e.V.
Betreff 2016/01/04 23:37:47
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Tagungsbericht: Die Peutinger Tafel
2016/01/04 23:37:47
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Tagungsbericht: Die Peutinger Tafel
Autor 2016/01/29 15:35:33
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] vergessene Schicksale aus der Tiefe holen

[Regionalforum-Saar] Stadt als Palimpsest. Zur Wechse lwirkung von Materialität und Gedächtnis.

Date: 2016/01/04 23:41:22
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...

Fängt kompliziert an, wird aber spätestens bei den Beispielen interessant.

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Binder, Julia: Stadt als Palimpsest. Zur Wechselwirkung von Materialität
und Gedächtnis. Berlin: Neofelis Verlag 2015. ISBN 978-3-95808-024-9;
222 S., 42 Abb.; EUR 24,00.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Andreas Ludwig, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
E-Mail: abgewaschene und dann neu beschriebene Urkunde bezeichnet, suggeriert
ein Geheimnis, dessen Entdeckung eine zuvor entfernte historische
Schicht freilegt. Julia Binder hat ihn für ihre Untersuchung auf
städtische Orte übertragen - gemeint ist dabei das Entfernen eines alten
und das Einschreiben eines neuen Textes in die städtische Topographie.
Die Vorstellung der Stadt als eines Palimpsests öffne den Blick nicht
nur für die mehrschichtige materielle Substanz der Jetztzeit, sondern
zugleich auch für die Gegenwartsbezogenheit des Umgangs mit ihr (S. 57).
Wie solche Prozesse verlaufen können, soll in einer Verknüpfung von
raum- und gedächtnistheoretischen Ansätzen untersucht werden. Binder
bezieht sich raumtheoretisch zum einen auf Henri Lefebvres "La
Production de l'Espace" (1974) und dessen Unterscheidung von geplantem
und gelebtem Raum, zum anderen auf Kevin Lynchs "Image of the City"
(1960), worin die Stadt als Struktur von nutzungsbezogenen
Wiedererkennungspunkten beschrieben wird. Gedächtnistheoretisch verweist
die Autorin auf Maurice Halbwachs' Begriff des sozialen Gedächtnisses,
den sie in einer akteurszentrierten Erweiterung benutzt; Erinnerung sei
stets gegenwartsbezogen und werde durch soziale Prozesse immer wieder
neu hergestellt. Ausgewählt hat sie vier Orte - drei in Berlin, einen in
Buenos Aires -, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Diktatur und
Diktaturgedächtnis stehen. Hier, so Binder, lasse sich ein schneller
Wandel sozialer Bedingungen beobachten - im Gegensatz zum langfristigen
Inventar der historischen Stadtlandschaft (S. 11). Die vier
Fallbeispiele zeigen unterschiedliche Facetten eines
Aushandlungsprozesses, der die gebaute Stadt mit dem sozialen Gedächtnis
von Akteuren in Beziehung setzt.

Das erste Beispiel ist das Funkhaus in der Berliner Nalepastraße
(Oberschöneweide), ab 1952 Sitz des Rundfunks der DDR. Nach dem Ende des
Sendebetriebs wurde der Gebäudekomplex funktionslos, dann von
staatlichen Instanzen verwaltet und 2005 schließlich privatisiert.
Binder beschreibt zunächst die isolierte stadträumliche Situation, die
das teilweise denkmalgeschützte Ensemble von der täglichen Wahrnehmung
durch die Stadtgesellschaft trennt, und hat in einem zweiten Schritt
Akteure interviewt, die mit dem Funkhaus zu tun hatten oder haben:
ehemalige Redakteure, Mitarbeiter der Immobilienverwaltung, Techniker.
Das Funkhaus Nalepastraße wird gleichsam als ein Nicht-Ort (Marc Augé)
identifiziert, denn ehemalige Redakteure des Staatsrundfunks der DDR
haben offenbar kein ortsgebundenes Gedächtnis entwickelt. Paradigmatisch
sei die Neubezeichnung des ehemaligen Rundfunkgebäudes durch die
staatlichen Besitzer als "Einrichtung gemäß Artikel 36
Einigungsvertrag". Obwohl zahlreiche materielle Relikte der
Rundfunk-Nutzung weiterhin vorhanden sind[1], beziehe sich das soziale
Gedächtnis vor allem auf den Funktionsabbruch nach 1990, der das
Funkhaus als kontaminierten Ort der Diktatur kodiere.

Das zweite Fallbeispiel ist ein Bereich des ehemaligen Grenzstreifens im
Zentrum Berlins. Nach der Restitution der Alteigentümer lange Zeit
ungenutzt, wurde die Brache zwischen 2006 und 2010 von einer
Künstlergruppe als Skulpturenpark bespielt.[2] Inzwischen ist die Brache
mit einem historisierenden Neubaukomplex bebaut und lässt keinerlei
Spuren der früheren Situation im geteilten Berlin mehr erkennen. Binder
weicht bei der Beschreibung dieses Ortes vom Konzept der
Gegenwartsbezogenheit insoweit ab, als sie die mittlerweile eingetretene
Komplettierung einer geschlossenen Stadtlandschaft eher am Rande
erwähnt, der historisch gewordenen, ohne Spuren verbleibenden
künstlerischen Zwischennutzung jedoch breiten Raum einräumt.

Das dritte Beispiel stammt aus Buenos Aires und beschreibt die
Bemühungen von überlebenden Opfern der argentinischen Militärdikatur
zwischen 1976 und 1983, ehemalige innerstädtische Folterorte wieder
kenntlich zu machen. Die Folterkeller waren temporär eingerichtet und
wurden später überbaut, so dass die Orte der Diktatur in der
Stadtlandschaft bald nicht mehr auffindbar waren; sie wurden erst durch
zivilgesellschaftliche Gruppen gesucht und im Wortsinn wieder
ausgegraben. Das Beispiel zeigt eindrucksvoll die Bedeutung eines
ortgebundenen Gedächtnisses für die Betroffenen, jedoch zugleich den
Wandel der Erinnerungskultur, auf den die offizielle politische
Unterstützung der Akteure seit Beginn der 2000er-Jahre verweist.

Aushandlungsprozesse zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen
Akteuren stehen auch im Zentrum des letzten Untersuchungsbeispiels, der
Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße.[3] Das hier in den
letzten Jahren entstandene Gedenkensemble ist der aktuellste Eingriff in
die Stadtlandschaft; vorangegangen waren der Mauerbau und die
nachfolgende Freiräumung des Ost-Berliner Grenzstreifens. Die DDR hatte
nach 1961 die direkt an der Grenze liegende Häuserzeile abgerissen,
einen Friedhof überbaut und zuletzt, noch in den 1980er-Jahren, die im
Grenzstreifen liegende Kirche gesprengt. Nach 1990 entwickelte sich eine
konfligierende Interessenlage, indem einerseits die von der Grenzanlage
betroffenen Grundstücke restituiert wurden, andererseits an der Bernauer
Straße eine Gedenkstätte errichtet werden sollte, die auch den
Mauerverlauf und das auf Ost-Berliner Seite liegende
sicherheitstechnische Hinterland erfahrbar machen sollte. Während die
Mauerteile, wie fast überall in Berlin, zu Beginn der 1990er-Jahre
entfernt wurden, sollte nun eine exemplarische Markierung des Ortes
erfolgen. Akteure für die Errichtung des Gedächtnisortes waren der Staat
sowie die örtliche Kirchengemeinde; Widerstand erfolgte durch einige
Bewohner der neu errichteten Häuser auf dem ehemaligen Mauerstreifen.

Wie unterscheiden sich diese Beispiele nun hinsichtlich einer
akteurszentrierten Gedächtnisbildung am konkreten Ort, und wie passen
sie in das Konzept der Stadt als Palimpsest? Am Berliner Rundfunkhaus
sind materielle Spuren erkennbar, eine soziale Gedächtnisbildung am Ort
ist jedoch nicht auszumachen - eine "Wechselwirkung von Materialität und
Gedächtnis", wie im Untertitel des Bandes formuliert, findet nicht
statt; es erscheint treffender, von einer kulturellen Neuaneignung zu
sprechen. Die zentralen Berliner Mauergrundstücke zeigten eine solche
Wechselwirkung nur temporär, und weder Materialität noch soziales
Gedächtnis konnten auf längere Sicht erhalten werden. Die Berliner
Mauergedenkstätte ist schon deshalb ein fragliches Beispiel, weil die
materielle Substanz abgetragen war und für eine Gedächtnisbildung am Ort
nachträglich neu organisiert werden musste. Buenos Aires erscheint im
Vergleich als positives Gegenbeispiel, denn hier gelang es durch
zivilgesellschaftliche Initiative, die verschütteten materiellen
Überreste im sozialen Gedächtnis der Stadt zu verankern.

Die vier sehr unterschiedlichen Fälle repräsentieren eine Spannbreite,
die auf die Möglichkeiten ortsbezogener und ortsgebundener sozialer
Gedächtnisbildung hinweist. Obwohl das Diktaturgedächtnis ihre
gemeinsame Klammer ist, vermag die Auswahl nicht recht zu überzeugen;
die kurzzeitige künstlerische Intervention im innerstädtischen
Mauerstreifen hat, folgt man Binders Ausführungen, wenig soziale oder
kommunikative Interaktion mit sich gebracht, und sie entfaltete keine
nachhaltige Wirkung. Die Auswahl der untersuchten Orte wird über ihre
Gemeinsamkeit als Orte der Diktatur hinaus nicht begründet. Vielleicht
deshalb wird eine Systematisierung der empirischen Befunde auch nur
angedeutet. Zudem fehlt eine Diskussion über die zeitliche Dimension der
aufgeführten Beispiele vor dem Hintergrund des Konzepts der "lieux de
mémoire" und der darin enthaltenen These eines Übergangs vom sozialen
zum kulturellen Gedächtnis. Zu problematisieren wäre in dieser Hinsicht,
ob die Gedenkstätte Berliner Mauer nicht eher einem kulturellen als
einem sozialen Gedächtnis zuzuordnen ist. Julia Binders Konzept der
Stadt als Palimpsest ist vor allem am Beispiel von Buenos Aires
einleuchtend, weil das Überschriebene wieder lesbar gemacht werden
konnte und damit die konkreten historischen Schichtungen im heutigen
Stadtraum sichtbar sind.


Anmerkungen:
[1] Für Bildmaterial siehe etwa
<http://funkhausberlin.blogspot.de>
(30.11.2015).
[2] Vgl. <http://www.skulpturenpark.org> (30.11.2015).
[3] Vgl. <http://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/> (30.11.2015).

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Jan-Holger Kirsch