Suche Sortierung nach Monatsdigest
2015/10/22 18:25:16
Rolgeiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] The Jet Sex. Airline Stewardesses and the Making of an American Icon
Datum 2015/10/22 21:32:00
Rolgeiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] “Das St. Wendeler Land u nd seine geheimnisvolle keltische Vergangenheit”
2015/10/27 23:57:02
Rolgeiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] The Rise of Heritage
Betreff 2015/10/17 18:13:49
Michaela Becker
[Regionalforum-Saar] Vortrag 21.10.2015 "Feldpost briefe eines Wellesweiler Bürgers" und Die Grundsteinleg ung des HJ-Heimes in Wiebelskirchen 1938
2015/10/22 18:25:16
Rolgeiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] The Jet Sex. Airline Stewardesses and the Making of an American Icon
Autor 2015/10/22 21:32:00
Rolgeiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] “Das St. Wendeler Land u nd seine geheimnisvolle keltische Vergangenheit”

[Regionalforum-Saar] unbedingt die ersten drei Abs ätze lesen

Date: 2015/10/22 18:35:36
From: Rolgeiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...

Hallo,

an sich ist diese Email eine Rezension des Buches "Sintflut" von Adam Tooze.

Aber ich empfehle wirklich, die ersten drei Absätze zu lesen.
 
Mit freundlichem Gruß
 
Roland Geiger
 
------------------------


Tooze, Adam: Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916-1931. München:
Siedler Verlag 2015. ISBN 978-3-88680-928-8; 719 S.; EUR 34,99.

"Als sich die Tür zum 'amerikanischen Jahrhundert' im Januar 1917 öffnete, stand Wilson an der Schwelle bereit. Er kam nicht, um Partei zu ergreifen, sondern um Frieden zu stiften. Die erste wohl inszenierte Geltendmachung des amerikanischen Führungsanspruchs im 20. Jahrhundert zielte nicht darauf ab, zu gewährleisten, dass die 'richtige' Seite gewann, sondern darauf, dass keine Seite gewann." (S. 73)

Eine Tür öffnet sich, und Wilson steht an ihrer Schwelle, um der Welt den Frieden zu bringen. Er tut, was an der Zeit ist und wozu die Umstände ihn ermächtigen. Seit 200 Jahren schreiben Historiker im Modus der Teleologie und der Kausalität. Sie geben dem Leben der Verstorbenen einen Sinn, indem sie es mit dem Leben ihrer Vorfahren und Nachfahren verbinden und in eine Erzählung integrieren, die einen Anfang und ein Ende hat. Jedes Ereignis soll durch ein Geschehen verursacht werden, das ihm vorausliegt, und Strukturen sollen darüber entscheiden, wie sich diese Verursachung vollzieht. Niemand stellt die Frage, woher die Geschichte eigentlich weiß, was sie tun soll? Denn nur wenige Menschen können die Vorstellung ertragen, ihr Leben sei nichts weiter als eine Zusammensetzung von Augenblicken, die nichts miteinander verbindet. Sie wollen Sinn und Struktur, und sie erwarten, dass Historiker Erwartungen erfüllen. Man will nicht verunsichert werden, sondern lesen, was alle für gewiss halten: dass es einen historischen Prozess, ein Ende und einen Anfang gibt und dass zwischen Anfang und Ende ein kausaler Zusammenhang besteht.

Historiker dürfen unterschiedliche Geschichten schreiben, aber sie dürfen nicht gegen die Konventionen der Verursachungsprosa verstoßen, auf deren Beachtung sie sich verständigt haben. "Geschichte des Westens", "Das Zeitalter der Extreme", "Der dunkle Kontinent" - so lauten die Titel, die Historiker ihren Büchern gegeben haben.[1] Sie weisen den Leser schon darauf hin, dass es Gründe gab, warum alles so kommen musste, wie es kam. Aufklärung und Ignoranz, Licht und Dunkelheit. Zwischen diesen Polen bewegen sich die Erzählungen der Historiker. Ihre Bücher sind umfangreich, weil sie offenbar glauben, dass viel schreiben müsse, wer viel erklären will.
 
Nun also "Sintflut", ein Buch aus der Feder des amerikanischen
Wirtschaftshistorikers Adam Tooze. Er will nachweisen, dass nicht der
Kommunismus und nicht der Faschismus, sondern der amerikanische
Exzeptionalismus dem 20. Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt habe.
Das 20. Jahrhundert sei ein amerikanisches Jahrhundert gewesen, auch
wenn Lenin und Hitler versucht hätten, sich dem unausweichlichen Lauf
des Unabänderlichen entgegenzustellen. Aus dem Weltkrieg seien die USA
als eine unsichtbare Weltmacht hervorgegangen, die militärische Stärke
überhaupt nicht benötigte, um die Geschicke der Welt nach Belieben zu
lenken. Sie habe auf Kolonien und Schlachtschiffe verzichten können,
weil ihre Wirtschaftsmacht allein ausgereicht habe, allen Staaten ihren
Willen aufzuzwingen. Was immer die europäischen Mächte auch im Sinn
gehabt hätten, sie hätten sich an der amerikanischen Vormachtstellung
abarbeiten müssen. Aber wie entstand diese neue Weltordnung eigentlich
und worauf gründete sie sich? Wie konnte es geschehen, dass die USA zum
Universalreich des 20. Jahrhunderts wurden und warum scheiterten sie an
ihrer selbst gestellten Aufgabe, den Frieden dauerhaft in die Welt zu
bringen? Darauf gibt Tooze eine 600 Seiten lange Antwort.

In den Jahren des Ersten Weltkrieges seien die USA zu einer unsichtbaren
Supermacht geworden. Zuerst habe sich das Zentrum der Finanzwelt nach
Nordamerika verlagert. Die Regierungen Englands und Frankreichs hätten
sich Geld von privaten Banken in den USA geliehen, um den Krieg gegen
die Mittelmächte zu finanzieren. Ohne diese finanzielle Hilfe hätte die
Entente nicht einmal das erste Jahr des Kriegs heil überstehen können.
So aber sei die amerikanische Industrie für die Zwecke der Entente
mobilisiert worden. Alle Aufträge, die sie aus Übersee erhalten habe,
seien durch amerikanische Bankenkredite überhaupt erst ermöglicht
worden. Die amerikanische Wirtschaft wuchs, und die Entente begab sich
in die Abhängigkeit amerikanischer Banken. Aber die amerikanische
Wirtschaft war nun von europäischen Aufträgen abhängig geworden. Die
Regierung in Washington habe sich auf ihre Neutralität irgendwann gar
nicht mehr berufen können, weil sie bereits ökonomisch in den großen
Krieg verstrickt gewesen sei. Als die USA 1917 in den Krieg auf Seiten
der Entente eingetreten seien, hätten sie ihre finanzielle Unterstützung
mit der Auflage verbunden, dass Kredite aus den USA nur für Waren aus
den USA ausgegeben werden durften. Die gegenseitige Abhängigkeit war
also beschlossene Sache.

Nun lässt Tooze den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson auf die
Bühne treten. Manche Historiker hätten Wilson für einen weltfremden
Idealisten gehalten, dessen Programm, den Frieden in die Welt zu
bringen, am Zynismus des alten Europa gescheitert sei, schreibt Tooze.
In Wahrheit aber sei der amerikanische Präsident ein Realist gewesen,
der die Gunst der Stunde genutzt habe, um das System der internationalen
Beziehungen zu verändern. Er forderte einen Frieden ohne Sieg, und er
machte die amerikanische Hilfe für die Entente von der Erfüllung dieser
Verheißung abhängig. Die USA dürften nicht Partei ergreifen, weil sie
nur als neutrale Macht den Frieden erzwingen könnten. Der Zyklus der
Gewalt in der alten Welt müsse für immer unterbrochen werden, alles
andere sei ein "Verbrechen an der Zivilisation". Wilson sei keineswegs
ein Träumer gewesen, sondern ein Machtpolitiker, der von der moralischen
Überlegenheit seines Landes überzeugt gewesen sei. Die Erzwingung des
Friedens und die Weltmachtstellung der USA gehörten zusammen. Niemand
habe besser als Wilson gewusst, dass das Ende des Imperialismus der
Anfang der amerikanischen Hegemonie in der Welt sein würde.

In der alten Welt habe man auf den Ruf des amerikanischen Präsidenten
wie gewohnt reagiert. Das Ende aller geheimen Abkommen, ein Frieden ohne
Sieg und das Selbstbestimmungsrecht der Völker habe für sich nur in
Anspruch genommen, wer zum Sieg nicht mehr imstande war. Die deutsche
Reichsregierung zwang die USA nicht nur, in den Krieg einzutreten, sie
schlug die Friedensangebote Wilsons in den Wind, als ihre Armeen im
Herbst 1917 im Osten spektakuläre militärische Erfolge erzielten. Erst
als die Lage im Oktober 1918 aussichtslos wurde, bat sie um Vermittlung
auf der Grundlage jener 14 Punkte, die Wilson im Jahr 1915 formuliert
hatte. Wilson erkannte sogleich die Möglichkeiten, die sich ihm boten,
um seinen Willen durchsetzen. Er antwortete der Reichsregierung, ohne
die Verbündeten zu hören, und erklärte, Deutschland müsse den Nachweis
erbringen, dass es den Weg zur Demokratie beschritten habe. Die
Regierung in Berlin reagierte sofort. Der Kaiser musste ins Exil gehen,
die Exekutive unterwarf sich dem Willen der Legislative.

Zu Beginn der Friedenskonferenz in Versailles im Januar 1919 erklärte
Wilson, dass er nicht an der europäischen Politik und am europäischen
Frieden, sondern am Weltfrieden interessiert sei. Deshalb dürfe es
keinen Sieger geben. Wochen später kam die Enttäuschung. Es gelang
Wilson nicht, Frankreich und England einen Frieden aufzuzwingen, den sie
nicht wollten. Die Bestimmungen des Versailler Vertrages demütigten aber
nicht nur die deutsche Regierung. Sie waren auch das Gegenteil aller
Vorstellungen, die sich Wilson von der neuen Ordnung gemacht hatte.

Und dennoch sei der Anstoß Wilsons nicht folgenlos geblieben, glaubt
Tooze. Die Friedensverhandlungen in Versailles seien mit der Gründung
des Völkerbundes verknüpft gewesen, des ersten Versuchs, ein System der
kollektiven Sicherheit und Prävention zu begründen und den Krieg als
Mittel der Politik zu ächten. Überall auf der Welt hätten sich nationale
Minderheiten auf die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten berufen,
um ihr Verlangen nach Selbstbestimmung zu rechtfertigen. In den
Mutterländern habe kein Politiker noch ignorieren können, was in den
Kolonien gefordert worden sei. Im Zarenreich begehrten nationale
Bewegungen gegen die Zentralregierung auf, in der Türkei verlangten
Kurden, in Lybien die Nomadenstämme der Berber Autonomie und
Selbstbestimmung. In England kam es schon während des Krieges zu einer
Wahlrechtsreform, die den Kreis der Wähler ausweitete. Seither konnte
die Regierung den Willen des Volkes nicht länger ignorieren, wenn es
darum ging, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Lloyd George erklärte
1918, dass England keinen Krieg gegen die russischen Bolschewiki führen
könne. Denn kein Wähler würde ihm noch glauben, dass ein Krieg gegen die
Kommunisten ein Feldzug für die Freiheit sei.

Aber auch auf der internationalen Bühne habe der Anstoß Wilsons mehr
bewegt, als mancher meint. Tooze glaubt, dass die Reparationsleistungen,
die dem Deutschen Reich durch den Friedensvertrag auferlegt worden
seien, nicht Ausdruck der Rache, sondern ökonomischer Vernunft gewesen
seien. Man habe die britischen und französischen Steuerzahler entlasten
müssen, die Wiederaufbau und Sozialleistungen niemals hätten finanzieren
können. Immerhin habe die deutsche Regierung doch anerkannt, dass
niemand anderes als sie selbst für die Kriegsschäden aufkommen musste.
In London und Paris habe man verstanden, dass der Frieden mit
Deutschland nur von kurzer Dauer sein würde, wenn ihn niemand erzwingen
konnte. Alle Beteiligten wussten, dass nur die USA die Macht hatten,
diesen Frieden zu garantieren.

Zwischen November 1921 und Februar 1922 kamen die Vertreter der
Großmächte in Washington zusammen, um über die Rüstungsbegrenzung auf
den Weltmeeren zu beraten. Die USA boten nicht nur an, alle
Großkampfschiffe sofort zu verschrotten, sie setzten auch durch, dass
die Tonnage der amerikanischen, britischen und japanischen Flotte im
Verhältnis 5:5:3 fixiert werden müsse. Erstmals hatten die USA ihren
Führungsanspruch offen demonstriert, und erstmals hatte sich ein
europäischer Staat diesem Anspruch unterworfen und den USA das Recht
zugestanden, die Regeln der internationalen Politik zu bestimmen.

In Deutschland wurde der Versailler Vertrag zwar als ein Dokument
schändlicher Unterwerfung verstanden. Aber die führenden Politiker, so
Tooze, hätten doch auch die Vorteile gesehen, der sich aus der
Unterwerfung ergaben. Denn die Unterschrift unter den Vertrag sei
überhaupt erst die Voraussetzung für die Entstehung jenes Systems
kollektiver Sicherheit gewesen, mit deren Hilfe das Abkommen in Frage
gestellt werden konnte. Alle imperialistischen Regierungen hätten ihre
Außenpolitik auf neue Grundlagen gestellt, und deshalb seien sie auch
imstande gewesen, miteinander im Gespräch zu bleiben. Deutschlands
Politiker hätten darauf gehofft, dass die USA in Europa dauerhaft im
Spiel bleiben würden, weil sie sich von ihrer Vermittlung erhofften, was
ihnen die Siegermächte nicht zugestehen mochten.

Inzwischen aber hätten die Europäer begriffen, so Tooze, dass sie darauf
angewiesen waren, miteinander zu kooperieren, und sie seien darin dem
amerikanischen Vorbild gefolgt. Die Konferenz von Genua sei der erste
Versuch gewesen, die Sowjetunion und Deutschland in ein System
internationaler Beziehungen zu integrieren und Frankreichs
Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Die Ruhrkrise war der Beweis dafür,
dass es ohne eine gegenseitige Verständigung keinen dauerhaften Frieden
geben würde, der Dawes-Plan im Jahr 1924 das Eingeständnis, dass von
Kompromissen alle profitieren würden. Der Dawes-Plan regelte die
Reparationsfragen auf eine Weise, die Deutschland und Frankreich
zufriedenstellten, und er verschaffte der Regierung in Berlin jene
amerikanischen Kredite, die sie überhaupt erst handlungsfähig machten.
Gustav Stresemann habe begriffen, schreibt Tooze, dass Deutschland sich
auf die amerikanische Hegemonie einstellen und den deutschen Markt für
amerikanische Investitionen öffnen musste. Je mehr Kredite Deutschland
aus den USA bekam, desto größer würde auch die Abhängigkeit beider
Länder voneinander werden. Aus all diesen Einsichten sei am Ende das
Projekt des geeinten Europa geboren worden. 1929 erklärte Stresemann
gegenüber Briand, dass die Europäer keine andere Wahl hätten, als sich
in einer Union zusammenzuschließen, um den Frieden zu sichern und den
Weltmachtanspruch der USA herauszufordern.

Und was ist  nun die Moral von der Geschichte? Die "abwesende Gegenwart"
der USA, glaubt Tooze, hätte die europäischen Mächte dazu gebracht,
Frieden zu halten und ein System der kollektiven Sicherheit zu
errichten, in dem die Interessen der einen mit den Wünschen der anderen
in Übereinstimmung gebracht werden konnten. Wilsons Idee vom Weltfrieden
unter amerikanischer Herrschaft sei eine höhere Form des Realismus
gewesen, dem sich die Europäer aus eigenem Interesse am Ende unterworfen
hätten. Hätten die USA über eine Strategie verfügt, um dieses Programm
zum Erfolg zu führen, so muss man Tooze wohl verstehen, hätte der Zweite
Weltkrieg verhindert werden können, die Europäische Union wäre vor ihrer
Zeit entstanden. Denn die neue Ordnung sei in den Augen ihrer
Repräsentanten stabil gewesen, und deshalb seien Hitler und Trotzki so
mutlos gewesen. "Was nach dem Ersten Weltkrieg aufkam, war eine
multipolare, polyzentrische Suche nach Strategien der Befriedung. Und
bei dieser Suche stützte sich das Kalkül aller Großmächte auf einen
zentralen Faktor: die Vereinigten Staaten." (S. 37)

Aber diese Rechnung ging nicht auf, weil der Ideologie der
Einzigartigkeit keine Strategie gefolgt sei. Und so hatten die
Nationalisten in Europa leichtes Spiel, ihre Vision der Vergeltung und
der ethnischen Säuberung zu verwirklichen. Fast überall in Europa
setzten sie sich am Ende gegen die Anwälte der Verständigung durch, weil
sie immerhin darauf verweisen konnten, dass die neue Ordnung an der
Bewältigung der großen Wirtschaftskrise gescheitert war. Aber selbst
darin gaben Nationalisten, Faschisten und Kommunisten nur Antworten auf
Fragen, die die amerikanische Herausforderung aufgeworfen hatte,
schreibt Tooze. Und dennoch war ihr Aufbegehren vergeblich, und sie
wussten, dass sie verlieren würden: die einen 1945, die anderen 1989.
Die Macht der USA beruhte auf moralischer Autorität, militärischer
Stärke und wirtschaftlicher Überlegenheit. Was hätte man dagegen schon
ausrichten können? Man könnte mit Tooze auch sagen, dass der
amerikanische Weltmachtanspruch überhaupt nicht herausgefordert werden
konnte. Man konnte sich allenfalls an ihm abarbeiten.

Was sollen Historiker mit dieser Interpretation anfangen? Es kommt
darauf an, was man wissen will. Wer eine Antwort auf die Frage erwartet,
warum die USA in den Jahren des Ersten Weltkrieges zur Weltmacht wurden
und warum Europa im System der internationalen Beziehungen an Bedeutung
verlor, wird in diesem Buch manches finden, was er noch nicht wusste.
Wer aber wissen will, warum Nationalisten und Kommunisten den Sieg über
die liberale Ordnung davontrugen, wird sich mit dem Hinweis, die USA
hätten keine Strategie verfolgt, kaum zufrieden geben können. Denn die
internationale Ordnung war keineswegs stabil, die Racheengel nicht
schwach, sondern stark. Wie mächtig die USA auch immer gewesen sein
mochten - im Horizont der Zeitgenossen stellte die Russische Revolution
alles in den Schatten, was bislang geschehen war. Der Bürgerkrieg
kostete Millionen Menschen das Leben, Millionen flüchteten aus dem Land,
ethnische Säuberungen und Hungerepidemien  dezimierten die Bevölkerung
des untergegangenen Imperiums. Inmitten der Gewalt versuchten die
Bolschewiki, mit harter Hand eine Ordnung zu errichten, die sich als
Antwort auf alle ungelösten Fragen verstand.

Niemand in Europa konnte ignorieren, was dort geschah. Die einen
fürchteten sich vor der elementaren Gewalt, die in der Sowjetunion zum
Stil der Politik geworden war, die anderen sahen in den Bolschewiki
Heilsbringer, die Wirtschaftskrisen, Armut und soziale Ungleichheit aus
der Welt schaffen würden. Nach den Exzessen des Ersten Weltkriegs war
die Ordnung des Liberalismus diskreditiert, und sie hatte auch nach dem
Ende des Krieges keines ihrer Versprechen einlösen können. Der
Kommunismus war eine Bedrohung, der sich alle Nachkriegsgesellschaften
stellen mussten. Manche begegneten ihm mit sozialen Reformen, andere
sahen im Faschismus und im Nationalsozialismus die Antwort auf alle
Fragen. In der Zwischenkriegszeit gab es in Europa fast nur noch
autoritäre Ordnungen, die sich als Alternative zum Kommunismus
verstanden. Wie hätte eine Strategie aussehen sollen, die dieser
Entwicklung gerecht geworden wäre? Denn es kommt nicht darauf an, was
der Fall ist, sondern wie Menschen wahrnehmen, was der Fall ist. Davon
weiß dieses Buch gar nichts zu erzählen. Die einzigen Menschen, die in
ihm überhaupt in Erscheinung treten, sind Woodrow Wilson, Lloyd George,
Georges Clemenceau und Gustav Stresemann. Sie erkennen, was an der Zeit
ist, und sie handeln so, wie es die Zeit von ihnen verlangt. Und was tun
ihre Gegner? Sie handeln, indem sie auf die amerikanische
Herausforderung mit Ablehnung antworten.

Aber haben wirklich alle Akteure das Gleiche gesehen? Es fällt schwer,
das zu glauben. Stalin und Hitler waren Bewunderer amerikanischer
Effizienz, aber Verächter der Demokratie, die sie für eine Staatsform
der Vergangenheit hielten. So aber urteilten in Europa nicht nur
Faschisten und Kommunisten. Aus der Perspektive vieler Menschen in
Europa waren die Sowjetunion und die faschistischen Regime die
eigentlichen Herausforderungen, auf die sie eine Antwort finden mussten.
Von den USA wussten sie nichts. Aber dieses Unwissen hatte eine
Bedeutung dafür, wofür und wogegen sie sich entschieden. So gesehen
könnte man auch vom sowjetischen Jahrhundert sprechen, und manche
amerikanische Zeitgenossen hätten diesem Urteil wahrscheinlich
zugestimmt.

Warum schreiben Historiker umfangreiche Bücher, wenn sie doch auf
wenigen Seiten erklären könnten, worauf es ihnen ankommt? Wahrscheinlich
ist es die Befürchtung, man werde von anderen Historikern nicht Ernst
genommen, die sie dazu verleitet, geschwätzig zu werden. Tooze ist kein
Schriftsteller, kein Erzähler. Seine Prosa ist umständlich, ungenau,
seine Sätze sind sperrig bis zur Unverständlichkeit. Er weicht vom Thema
ab, in manchen Kapiteln beschreibt er, was man schon weiß oder was man
nicht wissen muss, um sein Argument zu verstehen. So wird die Lektüre
zur Qual. Auch Geschichtsschreibung darf unterhaltsam sein. Sie ist eine
Kunst, die auf Wissen beruht, und auf der Begabung, dieses Wissen in
eine literarische Form zu bringen. Wer braucht schon einen Historiker,
der zwar viel weiß, aber nicht davon erzählen kann?

Anmerkung:
[1] Heinrich-August Winkler, Die Geschichte des Westens, 4 Bde., München
2011-2015; Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des
20. Jahrhunderts, München 1995; Mark Mazower, Der dunkle Kontinent.
Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000.

URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2015-4-054>