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2014/04/21 08:32:22
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Das St. Wendeler Land und das Ostertal in der NS-Zeit
Datum 2014/04/25 10:03:54
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] 30. April 1945
2014/04/06 21:31:56
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Tagber: Orden in der Krise
Betreff 2014/04/25 12:19:28
Hans-Joachim Kühn
Re: [Regionalforum-Saar] Was hat nun das Geschilderte mit St. Wendel zutun?
2014/04/21 08:32:22
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Das St. Wendeler Land und das Ostertal in der NS-Zeit
Autor 2014/04/25 10:03:54
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] 30. April 1945

[Regionalforum-Saar] Vom Pomeranzengänger zum Gr oßhändler?

Date: 2014/04/25 09:57:08
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Reves, Christiane: Vom Pomeranzengänger zum  Großhändler? Netzwerke und
Migrationsverhalten der Brentano-Familien im 17.  und 18. Jahrhundert (=
Studien zur historischen Migrationsforschung 23).  Paderborn: Ferdinand
Schöningh Verlag 2011. ISBN 978-3-506-77107-0; 369 S.;  EUR 34,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Robert Brandt,  Goethe-Universität Frankfurt am Main
E-Mail:  <robbrandt(a)...

An Publikationen über die italienischen  Kaufmannsfamilien, die seit dem
17. Jahrhundert ihre Handelskreise sukzessive  in Städte und Regionen
nördlich der Alpen verlagerten, herrscht kein Mangel.  Rar gesät sind
aber Studien, welche nicht nur die in deutschen, sondern auch  in
italienischen Archiven lagernden Quellen ausgewertet haben. Dies  leistet
die in überarbeiteter Form vorliegende Dissertation von Christiane  Reves
zu Migration und Netzwerken der italienischen  Kaufmannsfamilien
Brentano. Dominierte in der bisherigen Forschung die  Untersuchung
einzelner Etappen, so nimmt die Autorin den gesamten  Migrationsprozess
von Italien bis Deutschland in den Blick.

Aus den  ca. drei Dutzend Kaufmannsfamilien, die in der Frühen Neuzeit in
den Norden  migrierten, hat Reves die vom Comer See stammenden Familien
Brentano  ausgewählt. Nach einer kurzen Einleitung, in der die Autorin
ihr Verständnis  von Migrationsforschung und Netzwerkanalyse erläutert,
werden in sieben  Kapiteln soziale und ökonomische Stellung in der
Herkunftsregion, Handels-  und Migrationstraditionen in Oberitalien sowie
Netzwerke, ökonomische  Konflikte und die Integration in der Zielregion,
vor allem in Frankfurt am  Main, untersucht.

Für Kaufleute und Handwerker vom Comer See lässt sich  eine zum Teil bis
ins Mittelalter zurückreichende Migrations- und  Handelstradition
nachweisen. Migration war in dieser Region meist "nicht das  Resultat
einer Ausnahme- oder Notsituation, sondern ein fester Bestandteil  des
Lebens" (S. 63). Auch in den Brentano-Familien, die überwiegend  der
dörflichen Oberschicht angehörten, hatte Migration eine lange, bis  ins
15. Jahrhundert nachweisbare Tradition. Ein zum Teil recht  stattlicher
Grund- und Immobilienbesitz, der meist verpachtet bzw. vermietet  wurde,
bildete die ökonomische Basis von Handel und Migration. Der Grund  für
die Migration war das Streben nach geschäftlicher Expansion und  weiterem
sozialen Aufstieg. Ab dem 17. Jahrhundert sollen "mehr als zwei  Drittel
aller Brentano-Familien in irgendeiner Weise an Handel und  Migration
beteiligt" (S. 157) gewesen sein.

Grundlage des beachtlichen  europaweiten Erfolges war ein dreistufiges
Netzwerk: Die Basis bildeten  vielfältige familiäre, ökonomische und
kulturelle Verbindungen zur  oberitalienischen Herkunftsregion, zu denen
neben dem Immobilienbesitz unter  anderem auch die Vergabe von Krediten
und Prokura sowie kirchliche Stiftungen  in den Heimatdörfern zählten.
Die zweite Ebene des Netzwerks bildeten die  kleinen, zeitlich begrenzten
Handelsgesellschaften mit zwei bis acht  Gesellschaftern, "in der Regel
[...] Verwandte und in Ausnahmefällen auch  Freunde" (S. 337). Ähnliches
galt für die dritte Ebene, für die  geschäftlichen und privaten
Beziehungen der Kaufleute vom Comer See an den  verschiedenen
europäischen Handelsplätzen. Auch hier blieb man weitgehend  unter sich;
Vertrauen basierte auf Verwandtschaft, Region und gemeinsamer  Kultur.

In den Zielregionen verliefen Einstieg und Etablierung auf den  Märkten
alles andere als konfliktfrei. Die Verteilungskämpfe auf den  Frankfurter
Märkten, wo es schon etliche Kaufleute und Krämer gab, die mit  den
gleichen Waren handelten, führten des Öfteren zu  Auseinandersetzungen,
die bis vor die Reichsgerichte getragen wurden. Die  Brentano-Familien
versuchten ihre Position auf den Märkten durch den Erwerb  des
Beisassenstatus oder die Aufnahme in das Bürgerrecht zu verbessern,  was
aber bei der mehrheitlich lutherischen Bürgerschaft auf Ablehnung  stieß.
Durch die Interventionen Wiens, und weil der Rat die Interessen  der
Bürgerschaft in dieser Frage immer öfter ignorierte, gelang nach  1730
immer mehr italienischen Kaufleuten die Aufnahme in das Bürgerrecht.  In
der Folge setzte allmählich die ökonomische und kulturelle Ablösung  von
der oberitalienischen Herkunftsregion ein; die temporäre Migration  der
Kaufleute ging in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sukzessive  in
eine dauerhafte Abwanderung über. Die Ehefrauen folgten  schließlich
ihren Männern, zugleich wurden immer öfter Ehen mit deutschen  Frauen
geschlossen. Einzelnen Brentano-Familien gelang im 18./19.  Jahrhundert
der Aufstieg zunächst in die ökonomische, dann in die politische  Elite
Frankfurts und schließlich weit darüber hinaus, wofür die Namen  Clemens
Brentano und Bettine von Arnim, geborene Brentano, stehen.

Die  Stärke der flüssig geschriebenen Arbeit liegt in der Verbindung, die
sie  zwischen der älteren deutschen und der italienischen Forschung
herstellt,  indem zugleich die Situation in den Ausgangsorten, die
Wanderung an sich  sowie die Lebenssituation der Kaufleute in den
Zielorten in den Blick  genommen werden. Dabei kann so manche ältere
Vorstellung wie die vom armen  italienischen Pomeranzenhändler, der es in
der Fremde zum Erfolg brachte,  korrigiert werden. 

Jedoch bleiben in Reves Monographie etliche Fragen  offen. Die Arbeit ist
überwiegend deskriptiv angelegt, ausführlich wird aus  den interessanten
Quellen zitiert; jedoch erfolgt zu selten eine Auswertung  des Materials
entlang aktueller geschichtswissenschaftlicher Debatten. Die  Netzwerke
beispielsweise werden beschrieben, aber eine  sozialwissenschaftliche
Netzwerkanalyse wird nicht geboten. Störend ist in  diesem Zusammenhang
die stete Verwendung des Begriffs "Clan" für die  Brentano-Familien, ohne
dass dieser Begriff definiert, geschweige denn  problematisiert wird.

Unklar bleiben die Veränderungen nach 1730: Die  Autorin verweist auf das
komplexere Netzwerk der Brentano-Familien, das es  ihnen ermöglicht habe,
Waren wie beispielsweise Südfrüchte über Verwandte in  Italien günstig zu
beziehen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts  spielten diese
Netzwerke dann eine immer geringere Rolle und wurden durch  neue
Netzwerke in der Zielregion ersetzt. Die Akteure, Strukturen und  Regeln
dieser neuen Netzwerke werden aber nicht weiter beschrieben.  Unklar
bleibt auch, was sich nach 1750 eigentlich ökonomisch änderte, etwa  ob
die Brentanos mit der Integration in die städtische Gesellschaft  ganz
neuen Geschäften in anderen Branchen nachgingen.

Generell  interessiert sich die Autorin nicht wirklich für
Wirtschaftsgeschichte,  obwohl sie ein genuin wirtschaftshistorisches
Thema bearbeitet. Folglich  werden Prozesse der Marktbildung
angesprochen, aber nicht näher untersucht;  eine Auseinandersetzung mit
der entsprechenden Forschung fehlt weitgehend.  Dabei hätten sich gerade
die Brentano-Familien beispielsweise für eine nähere  Betrachtung des
Zusammenhangs von Rechtsbruch und vorindustriellen Märkten  angeboten,
war doch das bewusste Unterlaufen der geltenden Rechtsnormen  zumindest
in den ersten Jahrzehnten integraler Bestandteil des  Geschäftsmodells
der oberitalienischen Kaufleute.

Auch hätte man an  dieser Stelle gerne etwas zur Konsumgeschichte
gelesen; das seitenweise  Aufzählen von Luxusgütern, mit denen die
italienischen Kaufleute handelten,  kann nur ein erster Schritt in diese
Richtung sein. Die Autorin hätte sich  dann gar nicht erstaunt zeigen
müssen, dass der Rat den Beschwerden der  bürgerlichen Krämer über die
italienischen Kaufleute häufig nicht gerade  energisch nachging: Auch
Ratsmitglieder dürften diese Waren konsumiert haben!  Der
Nahrungsbegriff, mit dem die Krämer ihre Beschwerden über  die
italienischen Kaufleute zu untermauern versuchten, wird erwähnt;  die
Forschungen zur Nahrungssemantik wurden aber nicht  rezipiert.
Stattdessen präsentiert die Autorin die italienischen Kaufleute  als
Vertreter des "freien Handels" - eine Formulierung, welche die  Italiener
bzw. ihre Advokaten benutzten. Die Autorin legt hier, wie an  vielen
anderen Stellen auch, die Quellen schlicht wörtlich aus, ohne  zu
berücksichtigen, dass die italienischen Kaufleute und ihre Advokaten  -
wie auch die Gegenseite - in ihren Supplikationen und  Prozessschriften
bestimmte Strategien und Semantiken wählten, um ihre  Interessen beim Rat
durchzusetzen. Ob die italienischen Kaufleute Anhänger  von so etwas wie
einer freien Marktwirtschaft waren, lässt sich diesen  Quellen nicht
wirklich entnehmen. Plausibler ist, dass die Brentano-Familien  im 17.
und Anfang des 18. Jahrhunderts am jeweiligen Ort lediglich  den
größtmöglichen wirtschaftlichen Vorteil suchten, ohne sich  lokal
wirklich festlegen zu müssen; der Bruch der geltenden  Handelsnormen
konnte hierbei eine von mehreren Praktiken sein. Mit der  sukzessiven
Integration in die reichsstädtische Gesellschaft Frankfurts in  der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließ man die illegalen  Praktiken
hinter sich und genoss bürgerliche Handelsfreiheiten  bzw.
Handelsprivilegien.

Die Ausführungen zur wirtschaftshistorischen  Zauberformel "Vertrauen",
auf dem die Handelsunternehmen der  Brentano-Familien ruhten, hätten
sicher gewonnen, wäre auch die einschlägige  Literatur rezipiert worden.
Gerne hätte man auch Näheres über die Verlierer  unter den Brentanos
erfahren: An einer einzigen Stelle wird in dem Buch von  der Armut unter
erfolglosen Unternehmern und am Handel nicht beteiligten  Brentanos
gesprochen, leider ohne Beispiele und Belege (S. 123). Die  Ausführungen
zu den Anfang des 18. Jahrhunderts immer härter werdenden  Konflikten mit
den bürgerlichen Krämern in Frankfurt hätten an Kontur  gewonnen, wenn
deutlicher herausgestellt worden wäre, dass sie Teil eines  viel größeren
politischen Konflikts waren, des so genannten  Frankfurter
Verfassungskonflikts, der die Reichsstadt beinahe drei  Jahrzehnte
erschütterte.

Diese zahlreichen Einwände trüben das  Gesamtbild der Arbeit: Der
Erschließung vieler neuer interessanter Quellen  stehen Analysen und
Interpretationen gegenüber, die etliche Fragen offen  lassen.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Stefan Gorißen  <stefan.gorissen(a)...

URL zur Zitation dieses  Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2014-2-