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2012/10/15 19:45:03
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] auf den Spuren der Vorfahren
Datum 2012/10/23 15:31:26
Hans-Joachim Hoffmann
[Regionalforum-Saar] Ausstellungseröffnung "G ebrochene Säule" - Rede und Begleitprogramm
2012/10/07 19:43:05
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] „Gebrochene Säule“ – Von der Integration zur Deportation
Betreff 2012/10/15 19:45:03
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] auf den Spuren der Vorfahren
2012/10/15 19:45:03
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] auf den Spuren der Vorfahren
Autor 2012/10/23 19:15:34
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Ausstellung "Gebrochene S äule" in Ottweiler

[Regionalforum-Saar] Armut auf dem Lande

Date: 2012/10/17 22:22:35
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Ammerer, Gerhard; Schlenkrich, Elke; Veits-Falk, Sabine; Weiß, Alfred
Stefan (Hrsg.): Armut auf dem Lande. Mitteleuropa vom Spätmittelalter
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Wien: Böhlau Verlag Wien 2010. ISBN
978-3-205-78495-1; broschiert; 227 S.; EUR 35,00.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Inga Brandes, Fachbereich III - Neuere und Neueste Geschichte,
Universität Trier
E-Mail: <inga.brandes(a)... Mehrheit derjenigen, die heute in extremer Armut - mit weniger als
einem Dollar pro Tag - überleben müssen, findet sich in ländlichen
Gesellschaften.[1] Doch wie sich in solchen Gesellschaften die
Armutsdynamiken entwickelt haben, welche sozialen Beziehungen sich unter
Armutsgefährdung auflösen, welche Rolle etwa Landreformen,
Infrastrukturprojekte oder die Struktur der lokalen Gesellschaft bei der
Bekämpfung dieser ländlichen Armut spielen, das wurde bislang kaum
empirisch untersucht. Kurz: Ausmaß und Bedeutung der ländlichen Armut in
globaler Perspektive stehen in einem krassen Missverhältnis zu deren
Erforschung - auch in der Geschichtswissenschaft. Für Historiker/innen
hält die Armutsforschung zudem besondere Herausforderungen bereit: Je
näher die Fragestellung an das soziale Milieu, den Alltag und die
Familien der Armen heranrückt, desto schwieriger gestaltet sich das
Aufspüren und Erschließen geeigneter Quellenbestände. Existierten solche
Dokumente, so wurden sie oft nur durch glückliche Zufälle oder
engagierte Einzelpersonen überliefert.[2] Umso begrüßenswerter ist der
thematische Fokus des zu besprechenden Bandes: Seine neun Beiträge
explorieren das Bedingungsgefüge, in dem während der Frühen Neuzeit
Krankheit, Mittellosigkeit und Gewalt von verschiedenen Typen von Armen
auf dem Land subjektiv erfahren wurde. Es handelt sich um eine Sammlung
von kontextsensiblen Beobachtungen zu einer empirisch gestützten
Erfahrungsgeschichte von Armut. Vielschichtige soziale Exklusionen und
Ungleichheit in ländlichen Gesellschaften werden erhellt. Die
Beiträger/innen sehen sich nicht nur Gesetze, Verordnungen und
Herrscher-Nachlässe an, sondern wenden sich der historischen
Rekonstruktion der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebenswelt
verschiedener Gruppen von Armen zu.

Helmut Bräuer, dem der Band gewidmet ist, eröffnet mit einem
programmatischen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Armut in der
Frühen Neuzeit, der mit der Arbeitshypothese schließt, während der
Frühen Neuzeit habe sich eine spezifische "Landarmenmentalität" (S. 30)
herausgebildet. Diese Überlegung wird von den folgenden Beiträgen nur
insofern aufgegriffen als mit den mobilen, den weiblichen, den alten und
kranken Armen jeweils spezifische Gruppen ins Zentrum der historischen
Fallstudien gerückt werden.

Gerhard Ammerer beschäftigt sich in einem sehr instruktiven Aufsatz in
vergleichender Perspektive mit der Raumkonzeption und den Zeitökonomien
von Vagierenden im 18. Jahrhundert. Klug schließt er sperriges
Quellenmaterial auf, um die individuelle Handhabung der vielzitierten
Ökonomie des Notbehelfs zu rekonstruieren. So folgten etwa umherziehende
Bettler festen Routen, deponierten Besitztümer an den von ihnen
begangenen Strecken, hielten sich während des Bettelns an etablierte
Kommunikationsmuster und pflegten regelmäßig Austausch mit den
Sesshaften. Der Autor widerlegt schlüssig die These, dass Fahrende in
Habsburg heimatlose und entwurzelte Individuen gewesen seien. Mit dem
Sozialprofil von aktenkundig gewordenen Bettlern und Vaganten, ihren
Einkommensmöglichkeiten und Überlebensstrategien befasst sich auch
Sebastian Schmidt am Beispiel der englischen Grafschaft Essex. Im
kursorischen Vergleich mit Fürsorgepolitiken in Territorien des Alten
Reichs zeigt er überzeugend auf, dass die Fürsorgepraktiken im
frühneuzeitlichen Essex als "relativ großzügig" (S. 138) gelten können.
Sein Beitrag lenkt den Blick besonders auf das Potenzial des
problemorientierten historischen Vergleichs für die historische
Armutsforschung. Die Konzentration auf Personen und soziale Gruppen, so
Schmidt, eröffne der historisch vergleichenden Wirtschafts-, Sozial- und
Kulturgeschichte neue Forschungsfelder wie zum Beispiel Praktiken der
Mobilität und Vernetzung, der Raumwahrnehmung, der Ernährung, der
Zeitökonomie oder der Transfer lokalen Wissens.

Die Beiträge von Otto Ulbricht, Sabine Veits-Falk und Elke Schlenkrich
beleuchten jeweils das Spannungsfeld zwischen vielfachen Exklusionen,
denen bettelnde, arme oder armutsgefährdete Frauen ausgesetzt waren, und
partiellen Inklusionschancen, etwa durch Gelegenheitsarbeiten.

Christina Vanja, Alfred Stefan Weiß und Martin Scheutz widmen sich der
Gruppe der kranken und alten Armen. Alfred Stefan Weiß geht es um eine
Sozialgeschichte der armen Insassen von Hospitälern in der Steiermark
und Kärnten im langen Zeitraum zwischen 1350 und 1920. Er zeichnet die
Versorgung von einzelnen Armen in Institutionen verschiedener Größe nach
und setzt die Versorgungsleistung immer wieder ins Verhältnis zur
sozioökonomischen Umgebung der Spitäler. Weiß betont, dass es wechselnde
Regime und Praktiken im Umgang mit Armen und Kranken gab, gleichzeitig
aber eine Kontinuität der genutzten Gebäude. Daran schließt er Fragen
nach der historischen Prägekraft dieser Stein gewordenen Form und
Funktion an. Erneut wird die lückenhafte Überlieferungssituation zum
Ausgangspunkt für Überlegungen, wie die Geschichte einer Fürsorgekultur
in Kärnten und der Steiermark, die die Praktiken der Armen und der
Bevölkerung über einen langen Zeitraum hinweg berücksichtigt, zu
schreiben sei. Martin Scheutz nimmt am Beispiel Wiens die Praxis der
Deportation alter Armer aufs Land in den Blick. Die Stadt Wien betrieb
zur Versorgung ihrer würdigen Armen ein räumlich weit gefächertes Netz
von Versorgungshausanstalten. Das damit verbundene System der
Deportation von alten Armen auf das Land diente unter anderem dazu, die
Armut in der Residenzstadt unsichtbar zu machen.

Dass der Band schwerpunktmäßig die Geschichte der Armen und der Armut in
ländlichen Gesellschaften thematisiert, und gleichzeitig die historische
Kategorie Raum stärker berücksichtigt, ist zu begrüßen. Allerdings
überzeugt Helmut Bräuers Hypothese, dass sich zwischen dem 15. und 19.
Jahrhundert eine spezifische Landarmenmentalität herausgebildet habe,
auch nach der Lektüre der Beiträge nicht. Zu blass bleiben in seinen
einleitenden Erwägungen insbesondere die agrarhistorischen Bezüge und
Begriffe. Die umfassenden konzeptionellen Probleme, die eine diachron
und europäisch vergleichende Sozialgeschichte subjektiver
Armutserfahrungen in Europa aufwirft, sind zudem andernorts bereits
systematischer und ausführlicher dargelegt worden.[3] Richtig bleibt der
Appell an die deutschsprachige Forschung der frühneuzeitlichen
Soziabilität und den in ihr herrschenden vielfältigen
Reziprozitätsbeziehungen noch stärkere Beachtung zu schenken.

Indem die vergangenen Lebenswelten von Armen präzise und differenziert
rekonstruiert werden, widerlegen sowohl die einzelnen Beiträge als auch
die Beiträge in ihrer Summe sehr überzeugend die in Handbüchern und
Synthesen der deutschen und österreichischen Geschichtswissenschaft noch
immer weit verbreitete These, dass Arme, Bettler und Vaganten in der
Vergangenheit nur als sozial isolierte Randexistenzen analytisch zu
fassen seien.[4]

Die konsequente kultur- und sozialhistorische Akteurszentrierung der
Fragestellungen stellt eine Stärke des Bandes dar, weil sie die
Erschließung neuer Quellengruppen sowie die Entwicklung innovativer
Auswertungsmethoden ermöglicht. Die Konzentration auf Personen und
soziale Gruppen erweist sich heuristisch unter anderem deshalb als
fruchtbar, weil sie die historische Armutsforschung für die Fragen und
Konzepte der Gesellschaftsgeschichte weiter öffnet. Anstatt allein die
Vorgeschichten heutiger Sozialstaatlichkeit und Sozialpolitik zu
untersuchen, schärfen die Beiträge den Blick für die historische
Vielfalt der Überlebensstrategien von Armen und Armutsgefährdeten.


Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu
<http://www.un.org/en/globalissues/briefingpapers/ruralpov/developingworld.shtml>
(06.08.2012).
[2] Das bekannteste Beispiel bietet die englische Grafschaft Essex, in
der ein Archivar für die Erhaltung eines umfangreichen Konvoluts von
Armenbriefen sorgte. Ausgewählte Briefe sind publiziert in: Thomas
Sokoll (Hrsg.), Essex Pauper Letters 1731-1837 (=Records of Social and
Economic History, New Series 30), Oxford 2001.
[3] Vgl. etwa Robert Jütte, Poverty and Deviance in Early Modern Europe
(=New Approaches to European History), Cambridge 1994; Andreas Gestrich
/ Lutz Raphael / Herbert Uerlings (Hrsg.), Strangers and Poor People.
Changing Patterns of Inclusion and Exclusion in Europe and the
Mediterranean World from Classical Antiquity to the Present Day
(=Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis
zur Gegenwart 13), Frankfurt am Main u.a. 2009.
[4] Instabile Beschäftigungsverhältnisse betrafen im 19. Jahrhundert und
20. Jahrhundert einen großen Teil der habsburgischen bzw.
österreichischen Bevölkerung. Auch die Forschergruppe der Wiener
Historikerin Sigrid Wadauer zeigt, dass es nicht sachgerecht ist, wenn
die geschichtswissenschaftliche Forschung von Verarmung und Armut
betroffene Personen a priori als Randexistenzen betrachtet. Vgl.
ausführlicher dazu "The Production of Work. Welfare, Labour-market and
the Disputed Boundaries of Labour (1880-1938)"
<http://pow.univie.ac.at/> (05.10.2012).


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
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