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2012/07/19 23:39:09
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Konf: Das Zollwesen des Imperium Romanum - Jena 09/12
Datum 2012/07/20 08:04:03
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Von Zeit und Raum und anderen Dingen
2012/07/27 17:52:35
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] den kelten auf der spur
Betreff 2012/07/02 08:39:38
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] eigentlich nur die Glosse
2012/07/19 23:39:09
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Konf: Das Zollwesen des Imperium Romanum - Jena 09/12
Autor 2012/07/20 08:04:03
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Von Zeit und Raum und anderen Dingen

[Regionalforum-Saar] Die letzte Million

Date: 2012/07/20 07:57:20
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Cohen, Gerard Daniel: In War's Wake. Europe's Displaced Persons in the
Postwar Order (= Oxford Studies in International History). Oxford:
Oxford University Press 2011. ISBN 978-0-19-539968-4; VIII, 237 S.; EUR
29,99.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Michael G. Esch, Centre Marc Bloch, Berlin
E-Mail: <emg(a)... Klage, dass Migrationsphänomene in ihrer Bedeutung für die
allgemeine Geschichte - interessiere sie sich nun für soziale,
soziokulturelle, ökonomische, rechtliche oder politische Entwicklungen -
meist nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt werden, ist zwar nicht
neu, aber auch heute noch selten unbegründet. Gerard Daniel Cohens
Studie über die International Refugee Organisation (IRO), eine
UNO-Einrichtung, die von 1946 bis 1951 für die Betreuung und Verteilung
europäischer Displaced Persons (DPs) zuständig war, verspricht hier in
mehrerlei Hinsicht Abhilfe. Cohens Zugang erinnert insofern an das
Konzept einer "Sozialgeschichte der Macht" des von ihm allerdings nicht
herangezogenen Gérard Noiriel[1], als er bestimmte Migrationsphänomene
(und die Versuche, sie verwaltbar zu machen) beschreibt und sie
gleichzeitig in den Kontext darüber hinausgehender politischer Diskurse
und Entscheidungswege stellt.

Cohen konzentriert sich auf die "last million", das heißt jene Gruppe
von Holocaust-Überlebenden, ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, Deportierten
sowie Nachkriegsflüchtlingen aus dem Osten, die nach dem Abschluss der
Massenrückführungen durch die United Nations Relief and Rehabilitation
Administration (UNRRA) in DP-Lagern vor allem in Deutschland und
Österreich verblieben. Cohen interessiert sich allerdings weniger für
die DPs selbst. Sein Hauptinteresse liegt auf der Frage, wie die
politische und organisatorische Beschäftigung mit den europäischen DPs
zu Definitionen, Konkretisierungen und Weichenstellungen geführt oder
beigetragen hat, deren Bedeutung weit über den konkreten Anlass - 1,2
Millionen Menschen, die sich weigerten, in ihre Heimatländer
zurückzukehren - hinausging.

Das Buch verfolgt eine Reihe von Themenkomplexen, die jeweils im Rahmen
der Tätigkeit der IRO und ihres Umfelds - Politiker,
Nichtregierungsorganisationen - beleuchtet werden: den Stellenwert der
DPs für die Selbstverortung des westlichen Lagers im beginnenden Kalten
Krieg sowie die damit zusammenhängende Verschiebung der Definition von
"Flüchtling" im Sinne der UNO vom Opfer des Faschismus und
Nationalsozialismus hin zum politischen Flüchtling aus dem östlichen
Europa; die Institutionalisierung eines internationalen Humanismus und
die Etablierung eines neuen Begriffs von Menschenrechten; die
(partielle) Integration der DPs in ein globales Regime der
Arbeitskräfteverteilung; sowie schließlich die Kulmination der genannten
Aspekte - bzw. ihrer Auswirkungen - in der Legitimation einer
eigenständigen jüdischen Staatlichkeit. Bereits in dieser Anlage wird
deutlich, dass es Cohen weniger um einen Beitrag zur Geschichte von
Migrationen und ihrer Kanalisierung geht als um eine "Fallstudie zur
internationalen Geschichte nach 1945" (S. 8).

Das erste Kapitel zeigt, wie die große Zahl an DPs, die ab 1946 durch
eine erste Welle jüdischer und nichtjüdischer Flüchtlinge insbesondere
aus Polen noch anstieg, zu einem sowohl sozioökonomischen wie auch
politischen Problem wurde: Die Anwesenheit mehrerer hunderttausend
Hilfsbedürftiger belastete nicht nur die ab Frühjahr 1946 von
amerikanischer Seite initiierten Wiederaufbauanstrengungen - zumal ja
gleichzeitig die Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung aus
Ostmitteleuropa einsetzte. Die Auseinandersetzung über das Schicksal der
DPs markierte zugleich den Anfang des Kalten Kriegs: Der von der
Sowjetunion und Polen geforderten - zur Not zwangsweisen - Rücksiedlung
der DPs setzte das sich formierende westliche Lager eine Definition von
"Flüchtling" entgegen, in die DPs, die nicht in kommunistisch regierte
Länder zurückkehren wollten, eingeschlossen wurden. Zwar erscheint es
als nicht hinreichend belegt, dass "Menschenrechtspolitik nicht nur das
Ende des Kalten Kriegs beschleunigte, [...] sondern auch zu seinem
Ausbruch führte" (S. 19). Cohen übersieht hier die Bedeutung
strategischer Paradigmenwechsel im Frühjahr 1946: Der sich im Besuch des
US-Außenministers Byrnes ankündigende Wechsel hin zu einer Integration
Deutschlands in ein gegen den Osten gerichtetes westliches Lager
zeichnete sich nicht bei der Frage der Rückkehr der DPs ab, sondern beim
Problem der polnischen Verfügungsgewalt über die ehemaligen deutschen
Ostgebiete und der Aufteilung Europas bzw. der Welt in einen
amerikanischen und einen sowjetischen Einflussbereich. Mit anderen
Worten: Das Zerwürfnis der ehemaligen Alliierten entzündete sich nicht
an Menschenrechtsfragen, sondern wurde allenfalls über den
Menschenrechtsdiskurs vermittelt. Dort, wo Cohen sich auf die
detaillierte Beschreibung des westlichen Vorgehens beschränkt, wird
deutlich, dass ihm dies auch selbst klar ist. Richtig ist aber, dass der
Disput über die DPs insofern zur Frontstellung zwischen Ost und West
beitrug, als ein Diskurs über individualisierte Menschenrechte (im
Gegensatz zu kollektiven Schutzrechten, wie sie nach dem Ersten
Weltkrieg in Form der Minderheitenschutzrechte eingeführt worden waren)
maßgeblich für die Positionierung und Legitimierung des westlichen
Lagers wurde und schließlich in der Genfer Konvention von 1951
festgeschrieben wurde.

Die ersten drei Kapitel bieten eine anregende, wenn auch an manchen
Stellen nicht unproblematische Analyse der Art, wie der internationale
Umgang mit den europäischen DPs zur Entwicklung eines internationalen
Menschenrechtskatalogs führte, der von internationalen Organisationen im
Rahmen der UNO sowie von NGOs - hier in erster Linie kirchlichen
Akteuren - konkretisiert und garantiert wurde. Sehr überzeugend, wenn
auch nicht unbedingt neu, zeigt Cohen, wie dieser Katalog - insbesondere
was spezifische Asyl- und Fluchtrechte angeht - auf die Flüchtlinge aus
dem östlichen Europa zugeschnitten wurde und sich ausdrücklich auch nur
auf sie bezog, obwohl der einen Million Flüchtlinge und Deportierte in
Europa weitere Millionen weltweit gegenüberstanden.

Cohen belegt differenziert, wie der humanistische Idealismus seitens der
IRO-Akteure zusammentraf mit einer Mischung aus ideologisch-kultureller
Verengung des Blicks auf den idealen, erwünschten Flüchtling,
strategischem Kalkül im beginnenden Machtkampf mit dem Osten sowie
wirtschafts- und bevölkerungspolitischem Ordnungswillen seitens der USA
und Großbritanniens. Ein Missverhältnis in der Beschreibung östlicher
und westlicher Kalküle und gewisse Mängel in der historischen
Kontextualisierung werden allerdings beispielsweise im fünften Kapitel
deutlich, das den Umgang mit der durch die Flüchtlingswellen erzeugten
"Überbevölkerung" ("surplus population") beschreibt. Zum einen fehlt der
Hinweis, dass die IRO damit einen Diskurs aufgriff, der die europäische
bevölkerungspolitische Diskussion mindestens seit dem Ende des Ersten
Weltkriegs nachhaltig geprägt hatte. Zum anderen wird dem aufmerksamen
Leser nicht entgehen, dass die utilitaristische Einwanderungspolitik der
westlichen Länder, die sich die körperlich und von den kulturellen und
beruflichen Kompetenzen her attraktivsten DPs aussuchten, und die
Überlegungen der IRO zu einer planvollen globalen Distribution von
Arbeitskräften sich nur graduell vom Wunsch der östlichen Staaten
unterschieden, Arbeitskräfte zurückzubekommen, die ihre
Staatsangehörigkeit besaßen. Dies widerspricht der von Cohen
postulierten prinzipiellen Andersartigkeit der sowjetischen Politik. Das
letzte Kapitel wiederum zeichnet nach, wie die Diskussion um die
jüdischen DPs - für die die IRO faktisch nicht zuständig war -
wesentlich zur Legitimierung der 1948 deklarierten israelischen
Staatlichkeit beitrug.

Die Darstellung speist sich quellenmäßig aus den (offensichtlich nicht
sehr ergiebigen[2]) IRO-Records, vor allem jedoch aus Äußerungen von
Akteuren innerhalb und im Umfeld der IRO. Deren Tätigkeit wiederum wird
über eine recht einseitige Heranziehung der Literatur kontextualisiert:
Während die englische, französische und deutsche Literatur insbesondere
zur internationalen Politik der ersten Nachkriegsjahre sehr intensiv
genutzt wird, stützen sich Cohens Darlegungen sowjetischer und
polnischer Argumentationen und Vorstöße auf eine unzureichende Basis;
sie sind dementsprechend undifferenziert. So fehlt der Hinweis, dass das
Insistieren des östlichen Lagers, nur antifaschistische Kämpfer dürften
als DPs anerkannt werden, sich aus einem Heldendiskurs speiste, dem der
ab Ende der 1940er-Jahre - in der Tat nicht zuletzt am Fall der DPs -
entwickelte und durchgesetzte Opferdiskurs entgegenstand.[3]

Die Qualität der Arbeit, nämlich die Einbettung einer speziellen
migrationspolitischen Organisation in zeitgenössische politische
Diskurse sowie die Rekonstruktion ihrer Wirkung auf politische
Weichenstellungen, insbesondere die Entwicklung des westlichen
Menschenrechtsdiskurses und die darauf aufbauende Gründung des Staats
Israel, wird durch den eher vagen totalitarismustheoretischen Blick auf
das östliche Europa geschmälert. Ein ähnlich differenzierter und
scharfer Blick, wie Cohen ihn über weite Strecken auf die Westalliierten
richtet, wäre wünschenswert gewesen. Hinzu kommt als quasi
epistemologisches Problem, dass Cohen die Installation des
Menschenrechtsdiskurses an sich durchweg positiv konnotiert, was ihm die
Analyse der strategisch-ideologischen Dimension der "human rights
revolution" mitunter verstellt. Dieser Vorbehalt gilt nicht allein
angesichts problematischer Verwendungen von Menschenrechtsmotiven für
militärische Interventionen, sondern bereits für Cohens Auffassung, die
1946-1951 installierten individualisierten Menschenrechte seien
"einklagbar" bzw. durchsetzbar ("enforceable"): Individuen haben nicht
unbedingt Zugang zu internationalen Gerichtshöfen, Asylrechte hängen von
den Gesetzgebungen der Nationalstaaten ab, und die Durchsetzung
proklamierter Menschenrechte verläuft häufig eben über die militärische
Intervention staatlicher Großkollektive. Gerard Daniel Cohens Arbeit ist
dennoch eine insgesamt lesenswerte Mischung aus einer politischen
Diskurs-, Ideen- und Organisationsgeschichte und einem
antitotalitaristischen Plädoyer für aktive Menschenrechtspolitik.


Anmerkungen:
[1] Gérard Noiriel, Etat, nation et immigration. Vers une histoire du
pouvoir, Paris 2001.
[2] Siehe die Beschreibung des Bestands unter
<http://www.unhcr.org/440315582.pdf> (04.07.2012).
[3] Siehe dazu u.a. die Beiträge von Tanja Penter und Julia Landau in
den demnächst erscheinenden Ergebnissen eines Forschungsprojekts zur
Geschichte der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" und
ihrer Partnerorganisationen
(<http://www.ruhr-uni-bochum.de/lehrstuhl-ng2/forschung/evz.html>,
04.07.2012). Die Publikation ist für August angekündigt: Constantin
Goschler (Hrsg., in Zusammenarbeit mit José Brunner, Krzysztof
Ruchniewicz und Philipp Ther), Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am
Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft" und ihre Partnerorganisationen, 4 Bde., Göttingen 2012.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Jan-Holger Kirsch <kirsch(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-3-045>