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2022/09/19 17:07:14 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Kirchenrechnungen, Barbiere und der Arzneischatz |
Datum | 2022/09/22 20:57:03 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Die Kriegsereignisse vor Saarbr ücken im Herbst 1793 nach den Berichten dreier Augenzeugen |
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2022/09/26 10:47:30 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Krieg oder Frieden? |
Betreff | |||
2022/09/19 17:07:14 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Kirchenrechnungen, Barbiere und der Arzneischatz |
Autor | 2022/09/22 20:57:03 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Die Kriegsereignisse vor Saarbr ücken im Herbst 1793 nach den Berichten dreier Augenzeugen |
Date: 2022/09/19 20:36:13
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...
Autoren Florian Grotz; Wolfgang Schroeder
Erschienen Wiesbaden 2021: Springer
Anzahl Seiten VIII, 472 S.
Preis € 24,99
ISBN 978-3-658-08637-4
Inhalt siehe meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-75302.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Michael Ruck, Seminar für
Politikwissenschaft und
Politikdidaktik, Europa-Universität Flensburg
Das vor der Jahrtausendwende viel beschworene „Ende der
Geschichte“ hat sich
nicht ereignet. Stattdessen ist allenthalben spürbar, dass wir in
einer Epoche
tiefgreifend beschleunigten Wandels leben. Der Begriff
„Zeitenwende“ wird
mittlerweile inflationär verwendet. Wahlweise richtet sich der
besorgte Blick
dabei auf den globalen Klimawandel, innerstaatliche und
transnationale
Migrationsströme, pandemische Bedrohungen von Leben und
Gesundheit, die Rückkehr
des großflächigen Angriffskrieges als Instrument
zwischenstaatlicher
Machtpolitik nach Europa, die Krise erdumspannender Wirtschafts-
und
Finanzbeziehungen oder die Schwächung der europäischen und
globalen Governance
im Zuge einer tendenziellen Desintegration internationaler und
supranationaler
Institutionen.
Auch im binnenstaatlichen Kontext vollzieht sich hierzulande eine
beschleunigte
Transformation von gesellschaftlich-kulturellen Werten,
Einstellungen und
Konventionen wie von politisch-ökonomischen Regeln, Prozeduren und
Institutionen. Durchgängig ist dabei eine Renaissance des Staates
im
Allgemeinen und der Exekutive als dominanter Agent einer umfassend
definierten
Daseinsvorsorge im Besonderen zu beobachten.
Eine Begleiterscheinung des multiplen Wandels in „dynamischen
Zeiten“ ist die
progressive Entwertung überkommenen Wissens und bisheriger
Gewissheiten. Als
Thesaurus gesicherter Wissensbestände sind wissenschaftliche
Lehrbücher und
Nachschlagewerke ein probater Indikator für diesen beschleunigten
Verlust
kulturellen Kapitals. Insbesondere gilt das für
sozialwissenschaftliche
Disziplinen. Deren Erkenntnisgegenstand „Gesellschaft“
transformiert sich
gleichsam fortlaufend vor ihren Augen. Hier ist mithin das Risiko
am größten,
mit synthetischen Bestandsaufnahmen auf den Markt zu kommen, deren
Halbwertszeit schmerzlich gegen Null tendiert. Diese bittere
Erfahrung haben
etwa vor gut drei Jahrzehnten jene Autoren machen müssen, welche
zum
40-jährigen Gründungsjubiläum der weiland DDR Gesamtdarstellungen
publiziert
haben, deren Gegenstand dann binnen weniger Monate aus der realen
Welt
verschwand.
Eingedenk dessen liegt es nahe, das mitten in der Corona-Krise und
kurz vor dem
Ukraine-Krieg erschienene Hand- und Lehrbuch zum politischen
System der
Bundesrepublik Deutschland vor allem auch unter dem Gesichtspunkt
zu
betrachten, ob das Werk neben gültigem Gegenwartswissen einen
tendenziell
wachsenden Anteil nurmehr zeithistorisch beachtlicher Erkenntnisse
vermittelt.
Beide Autoren verfügen über ein besonderes Sensorium für diese
Problematik.
Florian Grotz, Professor für Politikwissenschaft, insbesondere
Vergleichende
Regierungslehre an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr
Hamburg, und
Wolfgang Schroeder, Professor für das Politische System der BRD –
Staatlichkeit
im Wandel an der Universität Kassel, sind nicht nur als profunde
Kenner des
deutschen Regierungssystems im europäischen Kontext
hervorgetreten. Ihre
Werdegänge und ihr ebenso umfang- wie facettenreiches Œuvre weisen
sie als
Protagonisten einer historisch-genetischen Erkenntnisperspektive
innerhalb der
Politikwissenschaft aus.
Generell liefert das umfangreiche, übersichtlich gegliederte und
gut lesbare
Handbuch zuverlässig den versprochenen „theoretisch und empirisch
fundierten
Überblick über die politischen Institutionen und Prozesse“ – also
„polity“ und
„politics“ – der zweiten deutschen Republik unter den Auspizien
von nationaler
Wiedervereinigung und supranationaler Europäisierung.
Berechtigterweise wird
der Blick dabei immer wieder auf die spezifischen Funktionsweisen
des deutschen
wie des Mehrebenensystems der EU gelenkt. Denn die „doppelte
Politikverflechtung“ (Fritz W. Scharpf) prägt nun schon seit
Jahrzehnten
maßgeblich das Regieren in Deutschland.
Nach einer konzisen Einführung in die konzeptionellen Grundlagen
„zwischen
Mehrheits- und Konsensdemokratie“ sowie einem gerafften Überblick
über die
historische Entwicklung der Bonn-Berliner Republik behandeln die
beiden Autoren
in jeweils gesonderten Kapiteln kenntnisreich und stringent das
deutsche
Grundgesetz, Deutschland im Prozess der europäischen Integration,
das
föderalstaatliche System, die Grundregeln der repräsentativen
Demokratie, den
intermediären Raum mit Parteien, Verbänden und Medien, die Organe
des
gewaltenteiligen Staates Bundestag, Bundesregierung,
Bundespräsident, Bundesrat
und Bundesverfassungsgericht sowie in ihren Grundzügen die
Regierungssysteme
der deutschen Länder und die kommunale Selbstverwaltung.
Abschließend ziehen
Grotz und Schroeder unter der Fragestellung „Resiliente
Demokratie?“ ein
nachdenkliches Fazit der „Performanz des politischen Systems der
Bundesrepublik“, das in prononcierte Vorschläge zur „Stärkung
demokratischer
Resilienz“ mündet.
Alle genannten Abschnitte sind in instruktive Sachbeiträge und ein
problemorientiertes
Fazit gegliedert, dessen aussagekräftige Überschrift die jeweilige
Hauptspannungslinie in Frageform prägnant verdeutlicht –
beispielweise:
„Flexibler oder rigider Verfassungsrahmen?“; „Funktionale
Arbeitsteilung oder
immobile Staatsorganisation?“; „Leistungsfähiges Parlament oder
marginalisierte
Instanz?“; „Balance von exekutiver Gestaltungsmacht und
Integrationsfähigkeit?“; „Neutraler Verfassungshüter oder
politischer
Gestalter?“; „Keimzelle der Demokratie oder Krise der
Selbstverwaltung?“.
Hervorzuheben ist das durchgängig erkennbare Bemühen der beiden
Autoren, den
auf Carl Schmitt zurückgehenden Dualismus von „Verfassung und
Verfassungswirklichkeit“ in ihre Darlegungen einzubeziehen. Denn
die
unauflösbare Spannung von konstitutionellen Normvorgaben,
justizieller
Normenauslegung und Normenzurichtung im Willensbildungs- und
Entscheidungsprozess des laufenden Politikbetriebs erzeugt jene
konfliktträchtige Dynamik, welche gegenwärtig einen neuen
Veränderungsschub des
Gesamtsystems voranzutreiben scheint.
Ein hervorstehendes Merkmal dieser Gegenwartsentwicklung unter den
Auspizien
einander überlagernder Großkrisen ist das hyperpragmatische
Krisenreaktionshandeln staatlicher Akteure während der sich
jagenden „Stunden
der Exekutive“. Dieser tiefgreifende Strukturwandel der
politischen
Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse („politics“) hat
ersichtlich seinen
Preis. Generell wird eingespielte Gewaltenteilung fortlaufend auf
harte Proben
gestellt. Und im tagespolitischen Geschäft der inhaltlichen
„Policy“-Produktion
lassen hektische Kurswechsel die Profile nicht nur der
(ehemaligen)
„Volksparteien“, sondern auch der aufstrebenden Konkurrenz aus dem
Umfeld der
Neuen Sozialen Bewegungen mehr und mehr verschwimmen. Dazu
vermittelt eine
gleich klingende Begleitrhetorik („Framing“) den irritierenden
Eindruck
programmatischer Konvergenz. Das erschwert es den Parteistrategen
einerseits,
gegen die grassierende Apathie der Anhänger- und Wählerschaft zu
mobilisieren.
Andererseits sind sie ständig in Versuchung, sich unvermittelt von
aktivistischen Minderheiten und deren medialen Unterstützern
kampagnenhaft zu
situativem und proaktivem Handeln treiben zu lassen.
Das rezente „Corona-Notstandsregime“ könnte eine neue Qualität
dieser
Entwicklung markieren. Im „Krieg gegen das Virus“ haben politische
und
administrative „Durchgreifer“ und „Macher“ im Frühjahr 2020 mit
Unterstützung
mehr oder minder gouvernementaler Medien und größerer Teile des
verunsicherten
Publikums in der „Stunde der Exekutive“ mit maßnahmestaatlicher
Entschlossenheit
und Härte eine maximalistische Ad-hoc-„Strategie“ verfolgt. Im
laufenden „Kampf
gegen die drohende Klimakatastrophe“ werden zwar längerfristige
Etappenziele
auf dem Weg zur klimaneutralen Transformation propagiert. Deren
planmäßige und
schrittweise Ansteuerung wird jedoch durch „klimaalarmistische“
Forderungen
überlagert und teils auch konterkariert, ohne Rücksicht auf
anderweitige
Verluste drastische Sofortmaßnahmen zu ergreifen.
Die kumulativen Wirkungen dieser Krisen werden seit dem Frühjahr
2022 noch
potenziert durch die aktuellen und noch gar nicht absehbaren
Implikationen des
Krieges in der Ukraine. Was die derzeitige Rhetorik des multiplen
Ausnahmezustands, dessen Gebieter nach einer bekannten Sentenz
Carl Schmitts
wahrhaft souverän ist, für die planende Gestaltung künftiger
Politik und für
das Verhältnis von politischer Verwaltung und wissenschaftlicher
Expertise
längerfristig bedeuten, muss sich erst noch erweisen.
Grotz und Schroeder zeigen sich in ihren „Zehn Thesen zur
Performanz des
politischen Systems der Bundesrepublik“ verhalten zuversichtlich,
dass
hierzulande auch die dramatischen Herausforderungen der Gegenwart
und näheren
Zukunft erfolgreich bewältigt werden können. Grundlage dieser
günstigen „Resilienz“-Prognose
ist ihr Befund, dass das „bundesdeutsche Regierungssystem unter
Druck“ zwar
ersichtlich unter „abnehmende[r] Performanz“ leide, seine vitalen
Aufgaben
indessen bei „fortdauernder institutioneller Stabilität“ weiterhin
zureichend
erfülle (S. 407). Das gelte auch für die gebeutelten Hauptakteure
im
intermediären Raum. Sowohl die etablierten Parteien als auch die
klassischen
Verbände seien nach wie vor in der Lage, ihren unabdingbaren
Beitrag zum
Funktionieren der „grundlegenden Willensbildungs- und
Entscheidungsmechanismen
des deutschen Regierungssystems“ mit hinreichender Stabilität und
Zuverlässigkeit zu leisten (S. 415) – allen angesprochenen
Performanzproblemen
im deutschen und europäischen Mehrebenensystem (Kommunen – Länder
– Bund – EU)
zum Trotz.
Gleichwohl konstatieren die beiden Autoren abschließend
„konkrete(n) Handlungs-
und Reformbedarf, um die Resilienz der handelnden Individuen,
Organisationen
und Institutionen zu erhöhen“ (S. 423). Dazu formulieren sie drei
dezidierte
Hauptforderungen (S. 424): „Erstens muss die breite Mehrheit der
Gesellschaft
positiv zum politischen System eingestellt sein. […] Zweitens
müssen die
Institutionen der systemnotwendigen Leistungserbringung die an sie
gerichteten
Anforderungen erfüllen. […] Drittens bedarf es eines breit
aufgestellten,
demokratiefreundlichen Mediensystems und seiner aufgeklärten
Nutzung durch die
Bürgerinnen.“
Die praktisch-politischen Konsequenzen dieses ambitionierten
Programms können
auch in einer umfangreichen Einführung nicht im Einzelnen
diskutiert werden.
Das ebenso profunde wie meinungsstarke Werk liefert jedoch auf der
Höhe der
Zeit eine solide Grundlage für intensive Seminardiskussionen.
Zitation
Michael Ruck: Rezension zu: Grotz, Florian; Schroeder, Wolfgang:
Das politische
System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung. Wiesbaden
2021: ISBN 978-3-658-08637-4, , In: H-Soz-Kult,
19.09.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-114382>.