Reinventing French Aid. The Politics of
Humanitarian Relief
in French-Occupied Germany, 1945–1952
Autor(en) Humbert, Laure
Erschienen Cambridge 2021: Cambridge
University Press
Anzahl Seiten 350 S.
Preis € 113,80
ISBN 978-1-108-83135-2
URL https://doi.org/10.1017/9781108916981
Rezensiert für H-Soz-Kult von Daniel Hadwiger, Leibniz-Institut
für
Raumbezogene Sozialforschung, Erkner
Bei Kriegsende im Frühjahr 1945 war Deutschland eine
„Flüchtlingsnation“. Nicht
nur rund 14 Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten
suchten in
Deutschland eine neue Perspektive, sondern auch etwa elf Millionen
Displaced
Persons (DPs). Eine Repatriierung, Emigration in andere Länder und
die
Zusammenführung von Familien musste organisiert werden. Die
Besatzungsmächte
sowie internationale Organisationen wie die United Nations Relief
and
Rehabilitation Administration (UNRRA) und die International
Refugee
Organization (IRO) versuchten die Unterbringung, Ernährung und
eine
medizinische Grundversorgung zugunsten der DPs sicherzustellen.
Allerdings
scheinen diejenigen Bevölkerungsgruppen nach Kriegsende weiterhin
am stärksten
benachteiligt worden zu sein, die paradoxerweise auch während des
Kriegs am
meisten gelitten hatten – insbesondere DPs aus Osteuropa.
Laure Humbert, Historikerin an der Universität Manchester,
untersucht in ihrer
quellenreichen Studie, wie die französische Besatzungsverwaltung
und
internationale Organisationen zwischen 1945 und 1952 humanitäre
Hilfe in der
französisch besetzten Zone Deutschlands zugunsten von DPs
leisteten. Im Sommer
1945 waren dort offiziell 150.000 DPs registriert. Angehörige aus
Russland,
Polen und Jugoslawien waren darunter die größten
Bevölkerungsgruppen. Die DPs
waren nicht nur in sich heterogen und setzten sich aus ehemaligen
KZ-Häftlingen, Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangenen
verschiedener Nationen
aller Altersgruppen zusammen. Sie besaßen auch ganz
unterschiedliche
Zukunftsperspektiven: Manche wurden von den Besatzungsmächten als
Arbeitskräfte
rekrutiert, manche gegen ihren Willen in ihre Heimatländer
zurückgeführt,
andere wiederum emigrierten nach Westeuropa, in die USA oder
Australien.
Humberts Studie untersucht weniger das Schicksal von DPs oder die
Sichtweise
der deutschen Zivilgesellschaft, sondern den Umgang von
französischen und
internationalen Organisationen mit DPs im Deutschland der
Nachkriegszeit.
Ziel des Buches ist es, das ungeklärte Verhältnis zwischen
französischer
Besatzungsmacht und den DPs aufzuzeigen und die Geschichte der DPs
mit der
nationalen Geschichte Frankreichs zu verbinden. Das Buch „follows
the journeys
of French relief workers in the German ruins“ (S. 4). Der Fokus
liegt auf den
Begegnungen zwischen französischen Amtspersonen, Fürsorger:innen,
DPs und
besiegten Deutschen auf dem Territorium der französischen
Besatzungszone.
Humbert argumentiert, dass die Fürsorge für DPs zu einem
politischen und
moralischen Projekt für den französischen Staat, die französischen
Besatzungsbehörden und internationale Organisationen geworden sei.
Das
Verhältnis zwischen UNRRA und der französischen
Besatzungsverwaltung blieb von
Kompetenzstreitigkeiten und ungeklärten Machtbefugnissen geprägt.
Zugleich
zeigt Humbert die Diskrepanz zwischen dem humanitären Diskurs und
der
Besatzungswirklichkeit auf, die von Chaos, Korruption und
ständigem
Ressourcenmangel geprägt war. Frankreich habe es schlussendlich
nicht geschafft,
sich als gastfreundliche und humanitäre Nation in der Zeit nach
dem
Vichy-Regime zu inszenieren.
Laure Humbert hat bereits mit zahlreichen Publikationen zu
Flüchtlingen und DPs
im Europa der Nachkriegszeit zur neueren, transnational geprägten
Geschichtsschreibung
zur französischen Besatzungszone beigetragen.[1] Seit den 1990er-Jahren
wurde die
französische Besatzungszone in Deutschland nicht mehr als
ausgebeutete Zone
betrachtet. Vielmehr zeichnete die Forschung ein differenziertes
Bild, indem
etwa auf die frühe Öffnung der Universitäten sowie die besondere
Kultur- und
Sozialpolitik für die deutsche Bevölkerung hingewiesen wurde.[2] Humberts Studie nimmt nun
eine
Zwischenposition zwischen deutsch- und französischsprachiger
Forschung ein. Sie
untersucht weder den Alltag der Deutschen vor Ort noch etwa die
französische
Wirtschaftspolitik in der Zone. Stattdessen interessiert sie sich
für
internationale und französische Organisationen, die sich in der
französischen
Besatzungszone mit DPs auseinandersetzten.
Humberts Studie gliedert sich in zwei Teile. Die ersten drei
Kapitel des Buches
analysieren den Aufbau und die Rolle der französischen Verwaltung
und der
internationalen Organisationen, die drei letzten Kapitel deren
soziale Arbeit
vor Ort zugunsten der DPs.
Das erste Kapitel behandelt französische Diskussionen zur
Anwerbung und
Integration von DPs im kriegszerstörten Frankreich. Humbert zeigt,
dass die
französische Regierung nicht nur die politische Einstellung der
DPs überprüfte,
sondern sie auch nach Herkunft und Geschlecht hierarchisierte. So
bevorzugte
Frankreich DPs aus dem Baltikum und dem Banat gegenüber polnischen
DPs und
zeigte wenig Interesse an jüdischen DPs als Arbeitskräfte für den
französischen
Arbeitsmarkt. Spannend ist ebenso die Rolle von „Banater
Schwaben“, die sich
unter Hinweis auf ihre im 18. Jahrhundert aus dem Elsass
ausgewanderten
Vorfahren als Franzosen inszenierten. Durch eine erfolgreiche
Lobbypolitik
erhielten Angehörige aus dem Banat mehr finanzielle und materielle
Hilfe von
französischen Verantwortlichen als andere DP-Gruppen.
Das zweite Kapitel behandelt den Verwaltungsaufbau, das
UNRRA-Personal und die
Einrichtung von DP Lagern in der französischen Zone. Humbert
hinterfragt die
Meinung von Zeitgenossen, dass es DPs in Großlagern schlechter
ergangen sei als
in Privatunterkünften (S. 88). Die 244 Sozialarbeiter:innen, die
1945 für die
UNRRA in der französischen Zone in den DP Lagern arbeiteten, waren
jedoch oft
unqualifiziert und stammten zum Großteil aus Frankreich. Deutlich
macht
Humbert, inwiefern „relief work was understood […] as a vehicle
for the restoration
of French prestige“ (S. 127).
Die Überprüfung und Repatriierung von DPs in der französischen
Zone ist
Schwerpunkt des dritten Kapitels. Humbert zeigt die komplexen
Machtstrukturen
zwischen den alliierten Besatzungsmächten und die unsichere
Haltung Frankreichs
gegenüber der Sowjetunion auf, deren DPs auch gegen deren Willen
repatriiert
wurden. Broschüren zur humanitären Hilfe von DPs sollten die
neutrale Position
der UNRRA in der französischen Zone aufzeigen und DPs davon
überzeugen, sich
als Arbeitskraft in Frankreich zu bewerben.
Im darauffolgenden Kapitel untersucht Humbert, wie die UNRRA auf
die
Bedürfnisse von DPs reagierte. Sie nuanciert die These von Tara
Zahra, dass
nach 1945 Kenntnisse der Psychologie in der sozialen Arbeit in
Deutschland
Einzug hielten.[3] Humbert zeigt auf, dass
dies insbesondere
für die britische und amerikanische Zone galt; viele französische
Sozialarbeiter:innen dagegen „had […] never heard of Freud“ (S.
203). Eine
Besonderheit der französischen Sozialarbeit war vielmehr die
Förderung von
Kultur wie Kunstausstellungen oder Konzerten durch DPs.
Im fünften Kapitel zeigt Humbert, wie Erwerbsmöglichkeiten für DPs
in der
lokalen Wirtschaft geschaffen wurden. Arbeit betrachtete die UNRRA
als
Therapie, um die DPs wieder in einen normalen Alltag zu
integrieren. DPs
arbeiteten für die UNRRA, oft aber auch für deutsche Unternehmen,
wo sie wie im
Krieg weiterhin schlecht bezahlte und unattraktive Beschäftigungen
ausführten.
Die UNRRA und deutsche Firmen bevorzugten ebenso wie Frankreich
DPs aus dem
Baltikum und dem Banat, während DPs aus Polen und der Ukraine
weiterhin
diskriminiert wurden und öfter außerhalb des DP-Lagers arbeiten
mussten.
Im letzten Kapitel analysiert Humbert die Umsetzung der
Anwerbestrategien
Frankreichs aus der Perspektive der DPs. Bis 1950 emigrierten rund
37.000 DPs
nach Frankreich, während nach Großbritannien zweimal so viele DPs
gingen. Der
Großteil der DPs versuchte in die USA, Kanada und Australien zu
emigrieren.
Frankreich schaffte es nicht, „to rebuild the image of the nation
as an
industrious and generous state“ (S. 323). Stattdessen galt
Frankreich unter den
DP als verarmtes Land und behielt bei ihnen mit seinen strengen
und beliebigen
Auswahlkriterien einen schlechten Ruf.
Humberts Untersuchung schließt mit dem Fokus auf die französische
und
internationale humanitäre Hilfe im Nachkriegsdeutschland eine
wichtige
Forschungslücke. Indem sie Diskurse internationaler Organisationen
und die
Praxis vor Ort miteinander abgleicht, wird deutlich, dass der
Zweite Weltkrieg
mit seinen Folgeerscheinungen für die Geschichte der humanitären
Hilfe nicht
unbedingt ein modernisierender Moment gewesen ist. Methoden aus
der
Zwischenkriegszeit und diskriminierende Vorurteile beeinflussten
weiterhin die
soziale Arbeit in der Nachkriegszeit. Ein Spezifikum der
französischen Politik
scheint die Kulturpolitik gewesen zu sein, die sich auch in der
Förderung von
DPs als Künstler:innen manifestierte. Ihre Studie zeigt auf Basis
von
zahlreichen Quellen insbesondere aus dem UN-Archiv und dem
französischen
Außenministerium die Relevanz einer dritten Perspektive zur
französischen
Besatzungszone in Deutschland auf. Humbert begreift die Geschichte
der
französischen Zone nicht als eine rein deutsch-französische
Geschichte, sondern
erweitert diese durch die Sichtweise von internationalen
Hilfsorganisationen
und DPs.
Das Fehlen deutschsprachiger Forschungsliteratur und deutscher
Quellen ist
allerdings bedauerlich. So hätten im Kapitel zur Unterbringung von
DPs bei
deutschen Privatpersonen (S. 96f.) oder zur Arbeit von DPs in
deutschen Firmen
(S. 267ff.) auch Quellen aus den südwestdeutschen Archiven gewiss
interessante
Befunde beigesteuert. Auch der Austausch zu weiteren
internationalen
Hilfsorganisationen und deutschen Wohlfahrtsorganisationen wäre
lohnend
gewesen. Insgesamt legt Laure Humberts jedoch eine spannende und
kenntnisreiche
Studie vor, die für die bisherige Forschung zur französischen Zone
und zur
Geschichte der humanitären Hilfe ein großer Gewinn ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Sharif Gemie /
Laure Humbert /
Fiona Reid (Hrsg.), Outcast Europe. Refugees and Relief Workers in
an Era of
Total War 1936–48, London 2012; Laure Humbert, The French in Exile
and Post-War
International Relief, c. 1941–1945, in: Historical Journal 61
(2017), S.
1041–1064.
[2] Vgl. etwa Andreas Linsenmann,
Musik als
politischer Faktor. Konzepte, Institutionen und Praxis
französischer
Umerziehungs- und Kulturpolitik in Deutschland, 1945–1949/50,
Tübingen 2010.
[3] Vgl. Tara Zahra, “The
Psychological Marshall
Plan”. Displacement, Gender, and Human Rights after World War II,
in: Central
European History 44 (2011), S. 37–62.
Zitation
Daniel Hadwiger: Rezension zu: Humbert, Laure: Reinventing French
Aid. The
Politics of Humanitarian Relief in French-Occupied Germany,
1945–1952. Cambridge
2021. ISBN 978-1-108-83135-2, In: H-Soz-Kult,
17.02.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-112537>.
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