Topos, Anekdote und Legende: Wandernde Texte und
ihre Deutung
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Tagungsberichte
Veranstalter Verband der Historiker und
Historikerinnen
Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands
(VGD)
Datum
05.10.2021 - 08.10.2021
Von Jean-Pascal Sopha, Arbeitsbereich Alte Geschichte, Fachbereich
Geschichte,
Universität Hamburg
Die hier beschriebene Sektion widmet sich dem Phänomen der
„wandernden Texte“,
worunter weit verbreitete Erzählungen bzw. Textinhalte verstanden
werden, deren
Autorenschaft im Unklaren bleibt. Konkret bearbeiten die
Referenten
exemplarisch Anekdoten, Topoi und Legenden, die jeweils auf ganz
eigene Art die
philologisch-kritische Methode herausfordern und deren
Realitätsbezug zwar
brisant, aber durchaus umstritten sein kann.
HENRY HEITMANN-GORDON (München) befasst sich im ersten Vortrag der
Sektion mit
der Frage, wie Anekdoten für die Geschichtsforschung nutzbar
gemacht werden
können. Anekdoten würden Einzelerzählungen über bekannte Personen
darstellen,
die jedoch oftmals nicht mit Parallelquellen kontrastiert werden
können. Sie
ließen sich zudem aus dem Kontext lösen und als „wandernde Texte“
auf andere
historische Personen übertragen. Die literarische Überlieferung
des frühen
Hellenismus zeichne sich durch die häufige Verwendung von
Anekdoten aus, und
gerade bei der Gestalt des Demetrios Poliorketes sei eine
biographische
Darstellung immer mit der Frage des Umgangs mit Anekdoten
verbunden.
Heitmann-Gordon zeigt den anekdotenhaften Charakter einer Episode
der
Demetrios-Vita des Plutarch auf, die von der Neuen Komödie
beeinflusst sei
(vgl. Plut. Demetr. 9.5-7). Der Rolle eines miles gloriosus
entsprechend,
trifft sich der Protagonist Demetrios Poliorketes (der
„Städtebelagerer“)
heimlich mit der schönen Kratesipolis (der „Stadtbezwingerin“) in
einem
unbewachten Zelt. Nachdem einige seiner Feinde dies bemerkt
hatten, überfielen
sie ihn und verjagten ihn, der sich eilends in Frauenkleider
verhüllte. Den
letzten Aspekt identifiziert Heitmann-Gordon als Wandermotiv, das
Plutarch
selbst auch in seiner Alkibiades-Vita anbringe und das immer
wieder Anwendung
im invektiven Diskurs der römischen Republik finde – prominent von
Cicero gegen
P. Clodius Pulcher vorgebracht.
Im Folgenden analysiert Heitmann-Gordon die Anekdote als
textlich-kommunikatives Mittel und stellt in Anlehnung an Stephen
Greenblatt
einen „touch of the real“, einen Hauch von Wirklichkeit, fest, der
der
prägnanten Episode innewohne. Durch die Kürze der Episode erteile
diese eine
Absage an eine klare Positionierung innerhalb des dargestellten
überzeitlichen
Konflikts, verfüge jedoch über ein hohes Zirkulationspotential,
woraus sich ihr
Charakter als Gemeinplatz, also als allgemein bekannte Erzählung,
speise.
Den Kern einer zweiten Anekdote bilde der Ausspruch „Dann sei kein
König“, der
Demetrios von einer alten Frau entgegengebracht wird, die zuvor
mehrfach
vergeblich versucht hatte, dem König ihre Probleme darzulegen, der
jedoch keine
Zeit habe, um sie sich anzuhören (vgl. Plut. Dem. 42,3f). Auch
diese Episode
finde sich in ähnlicher Ausführung mit anderen Herrschern in den
Quellen,
nämlich bei Plutarch für Philip II. von Makedonien, bei Cassius
Dio für Kaiser
Hadrian und bei Stobaios für Antipater. Das transportierte
Gerechtigkeitsbild
sei ausreichend allgemein gehalten, dass es auf jede dieser
Personen angewendet
werden könne, und schaffe dadurch eine narrative Kontinuität von
Philipp II.
bis zu Hadrian.
Beide Anekdoten erlaubten dem Referenten zufolge Herrschaftskritik
und könnten
damit einer angenommenen Stimme der Unterdrückten Gehör
verschaffen. Jedoch
erfolge keine profunde Auseinandersetzung mit dem
gesellschaftlichen Wandel der
Zeit des frühen Hellenismus. Die Kritik werde nur im Rahmen der
Strukturen der
Monarchie geäußert, ohne aber die Alleinherrschaft an sich in
Frage zu stellen.
Dadurch schreibt Heitmann-Gordon ihr eine stabilisierende Funktion
zu, die in
diesem Fall die noch im Entstehen begriffene Herrschaftsstruktur
der
hellenistischen Könige durch narrativen Anschluss an die Zeit
Philipps II.
stütze. Der Rahmen dieser Anekdoten sei daher ein konservativer,
der auf die
Kontingenzkontrolle in dieser Zeit des politischen Wandels
gerichtet sei.
Der ursprünglich an zweiter Stelle geplante Vortrag von STEFANIE
HOLDER
(Hamburg) musste krankheitsbedingt leider ausfallen.
MICHAEL ZERJADTKE (Hamburg) befasste sich mit dem Topos als
Gattung wandernder
Texte. Die bloße Identifikation einer Beschreibung als Topos
sichere noch keine
Aussage über ihre historischen Verwertbarkeit, denn auch ein Topos
könne
helfen, sich der historischen Realität zu nähern. Deutlich werde
dieser
Sachverhalt durch die sprachwissenschaftliche Definition eines
Topos als
„Element des kollektiven Wissens“. Eine topische Aussage werde
gemeinhin als
real akzeptiert und spiegle unter Umständen auch den geltenden
Kenntnisstand
wider. Dieser könne geprägt sein von stereotypen
Betrachtungsweisen, allerdings
verweist Zerjadtke auf das Konzept der stereotype accuracy.
Demnach sei für die
Entstehung eines Topos die wahrgenommene Diskrepanz zwischen
Ingroup und Outgroup
ausschlaggebend, sodass schon marginal erscheinende Unterschiede
Grundlage für
Stereotype sein könnten.
In der Forschung würden weit über 60 Germanentopoi postuliert,
unter denen
Zerjadtke drei Gruppen identifiziert: physische Merkmale, wie
„Aussehen von
Land und Leuten“, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften. Die
Topoi aller
Kategorien würden jenseits der inhaltlichen Ebene auch Wertungen
und
Begründungen enthalten. Germanen erscheinen Zerjadtke zufolge in
topischen
Darstellungen daher nicht nur mit der typischen Kampfweise des
Sturmangriffs,
sondern zusätzlich mit der Wertung, dass sie sich verhielten wie
wilde Tiere;
sie seien nicht bloß groß, sondern auch plump. Diese Wertungen und
Begründungen
„sind durch ein Assoziationsnetz verbunden und aktivieren damit
weitere
Vorstellungen von einer Personengruppe“, sodass sich einzelne
Elemente einem
übergeordneten Kerntopos zuweisen ließen, ansonsten aber in
Hinblick auf eine
Untersuchung des Wahrheitsgrads der Topoi von geringem Wert seien.
Anhand von fünf Fallstudien zeigt Zerjadtke die Möglichkeiten auf,
Topoi nicht
nur als solche zu identifizieren, sondern sie für die Forschung
weiterführend
fruchtbar zu machen. So legt der Vortragende dar, dass die starke
Betonung der
Sümpfe Germaniens in den Quellen auf einen wahren Kern
zurückzuführen sei, da
sie dort nachweislich häufiger waren. In Hinblick auf die
Landwirtschaft sei
die Darstellung durch drei Elemente geprägt: Grundbesitz sei
weniger wertvoll,
die Bewirtschaftung primitiv und der Feldwechsel werde stark
betont. Durch die
Kontrastierung mit römischen Verhältnissen sei der letzte Punkt
überraschend,
da diese Praxis auch im römischen Bereich angewendet worden sei.
Die
Bewirtschaftungstechnik jedoch lasse sich tatsächlich als der
römischen
unterlegen beschreiben und auch der andersartige Umgang mit
Landbesitz sei
historisch fassbar. Ferner eigne sich die Technik des
Sturmangriffs tatsächlich
als sinnvollste Kampfweise gegen die römischen Truppen, sodass die
Betonung
dieses Elements nicht überrasche. Auch die unterstellte geringere
Ausdauer der
Germanen sei auf diese dynamische Kampfweise sowie den Umstand,
dass die
Frontkämpfer der Römer durchgewechselt wurden, zurückzuführen. Den
Topos der
untreuen Germanen führt Zerjadtke auf einen confirmation bias
zurück, durch den
Ereignisse im Zuge des Bataveraufstand und die Varusschlacht stark
in das
Germanenbild eingeflossen seien, die Treue der kaiserlichen
Leibwache oder
anderer germanischer Truppenteile hingegen nicht. Außerdem sei es
möglich, dass
unterschiedliche Rechtsvorstellungen zu einem Bild der perfidia
führten.
Zerjadtke schlussfolgert, dass in vielen Fällen ein Realitätsbezug
potentiell
herausgearbeitet werden kann, die Topoi jedoch individuell
betrachtet werden
müssten. Dabei gelte es, die inhaltliche Ebene von der wertenden
und
begründenden zu trennen, da lediglich erstere für eine graduelle
Abwägung des
historischen Kerns eines Topos relevant sei. So lasse sich, auch
jenseits der
klassischen Diskursanalyse, eine topische Darstellung
geschichtswissenschaftlich verwerten.
ALEXANDER FREE (München) untersucht den Briefwechsel zwischen dem
osrhoenischen
Herrscher Abgar V. und Jesus, dessen Authentizität bis weit in die
Moderne
umstritten war, aber von vielen Stimmen angenommen wurde. Dieser
„wandernde
Text“ sei ausgesprochen weit verbreitet, da er in altgriechischer,
altsyrischer, äthiopischer und koptischer Sprache in ganz
unterschiedlichen
Kontexten kursierte. Neben der edessenischen Lokaltradition finde
sich die
Erzählung auf „Textträgern von Mesopotamien bis nach Spanien, von
Ägypten bis
ans Schwarze Meer“, weil der Brief als Schutzsymbol und -amulett
verwendet
worden sei. Die 1900 auf einem Türsturz in Edessa gefundene
Inschrift enthält
die grundlegenden Elemente der verschiedenen
Überlieferungstraditionen: Abgar
wendet sich an Jesus, von dessen Wunderheilungen er gehört habe,
und bietet im
Gegenzug an, dass dieser sich in Edessa niederlassen könne. Jesus
antwortete,
er könne nicht persönlich erscheinen, er entsende aber einen
seiner Jünger, der
Abgar heilen und die Stadt beschützen solle.
Schon in der Antike werde die Episode vielfach rezipiert: Zuerst
erscheine sie
um 324 n. Chr. in der Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea.
Hieronymus
und Augustinus stellen den pseudepigraphischen Charakter des
Briefwechsels
heraus, und Papst Gelasius erklärte den Briefwechsel zwischen 492
und 496 in
einem Dekret offiziell für apokryph. Nichtsdestoweniger werde die
Episode von
der überwiegenden Mehrheit als historisch akzeptiert, wie
beispielsweise die
anekdotenhafte Verwendung bei Prokop belege. Nicht grundlos werde
bis ins 19.
Jahrhundert über eine Einschätzung der Authentizität gestritten.
Free arbeitet an diesem Beispiel das methodische Kernproblem
antiker
Authentizitätsbewertung heraus. Schon Thukydides und Herodot
nennen als
sicherste Quelle ihrer Arbeit die eigene Betrachtung und ziehen
dort, wo diese
nicht möglich ist, Augenzeugenberichte heran, die beide Autoren
selbst als
nicht vollständig zuverlässig beschreiben. Die Autoren hätten aber
die eigene
Befangenheit nicht reflektiert.
Die Beurteilung der Echtheit des Textes sei hier jedoch nicht nur
für die
edessenische Lokaltradition von Bedeutung, sondern in hohem Maße
auch in
theologischer Hinsicht, da der Briefwechsel vielfach als
Schutzsymbol verwendet
worden sei. Beispiele einer solchen inschriftlichen Überlieferung
seien etwa
aus Philippi, dem lydischen Gurdja, Ankara oder Ephesos bekannt,
als privates
Amulett zum Schutz vor Krankheiten außerdem auf ägyptischen
Papyri. Der Glaube
an die Authentizität des Briefwechsels sei hier entscheidend für
die
Schutzfunktion, denn wenn der pseudepigraphische Charakter der
Episode
angenommen würde, werde ein solcher Talisman zum Zeichen des
Aberglaubens und
seine Funktionalität zweifelhaft.
Im Vergleich zur Episode bei Eusebios sei die Darstellung bei
Prokop um weitere
Details angereichert, die der Beschreibung weitere Authentizität
verleihen sollten:
Beispielsweise werde Abgars Krankheit, um deren Heilung er Jesus
ersuche, hier
als Fußkrankheit konkretisiert und Abgar habe von Palästinensern,
die sich in
Edessa aufgehalten haben, von Jesus Anwesenheit erfahren. Free
bemerkt, dass
Prokop nicht die Echtheit des gesamten Briefwechsels diskutiere,
da ihm sich
diese allein aufgrund des physischen Vorhandenseins der Texte in
Edessa
erschlossen habe. Der Historiograph habe hingegen festgestellt,
dass die
Schlussformel, die die Stadt Ephesos vor der Übernahme durch
Barbaren schützen
solle, eine Ergänzung gegenüber der Überlieferung durch Eusebios
darstelle,
überlasse die Interpretation dieses Sachverhalts jedoch seinem
Leser. Auch der
Pilgerin Egeria werde bei ihrem Besuch in Edessa der Brief Jesu
vorgeführt, und
sie führe die Tatsache, dass ihr eine kürzere Variante bekannt
ist, auf
Kürzungen in ihrer Heimat Spanien zurück. Die edessenische
Erzählung sei
folglich als invented tradition zur Unterstützung der lokalen
Christen zu
beschreiben.
Abschließend fasst Free zusammen, dass die Episode in der Antike
ausreichend
Anhaltspunkte geboten habe, um als authentisch wahrgenommen zu
werden. Als
intentionale Geschichte sei sie ein Teil der Lokaltradition
Edessas geworden.
Das Vorhandensein der Texte in Edessa und die anekdotenhafte
Verwendung der
Episode in Prokops Werk hätten ihr einen allgemeingültigen
Charakter verliehen.
In der von Alexander Free eingeleiteten und moderierten
Schlussdiskussion
wurden die methodischen Herausforderungen vor dem Hintergrund der
Fragen
diskutiert, ob die Beschäftigung mit leichter zu verwertenden
Quellen nicht
einen höheren Ertrag versprechen würde und auf welche Weise sich
die von den
Vortragenden verwendeten Methoden und Impulse beispielsweise aus
den Bereichen
der Soziologie, Linguistik, Literaturwissenschaft und Archäologie
in die
kritisch-hermeneutische Methodik der Alten Geschichte sowie die
klassische
Diskursanalyse integrieren lassen.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitungs: Alexander Free (München)
Henry Heitmann-Gordon (München): Erzählen als Kontrolle:
Hellenistische
Anekdoten und der "touch of the real”
Stefanie Holder (Hamburg): Lob und Tadel: Das ambivalente Bild des
Gymnasiarchen Isidoros (ausgefallen)
Michael Zerjadtke (Hamburg): Zum Umgang mit Topoi in der antiken
Ethnographie
Alexander Free (München): Die sogenannte Abgar-Legende als
Beispiel für die
Unsicherheit antiker Geschichtsschreibung
Zitation
Tagungsbericht: HT 2021: Topos, Anekdote und Legende: Wandernde
Texte und ihre
Deutung, 05.10.2021 – 08.10.2021 hybrid (München), in: H-Soz-Kult,
18.12.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9236>.