deutsche Rezension von „D. Fassin: Death of a
Traveller“
[Ob das Buch auch in Frankreich erschienen ist? Oh! Es ist. Hätte
ich nicht geglaubt,
Mort d'un voyageur. Une contre-enquête]
Death of a Traveller. A Counter Investigation
Autor(en) Didier Fassin
Erschienen Cambridge 2021: Polity
Press
Anzahl Seiten 160 S.
Preis € 18,10
ISBN 978-1-5095-4741-8
Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-60028.pdf
Rezensiert für den Rezensionsdienst
"Europäische
Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Jens
Adam, Universität Bremen
„Eine einfache Geschichte“ – so bezeichnet Didier Fassin die
Ereignisse, die
den Anlass für sein neues Buch bieten (S. xi): An einem
Frühlingstag stürmt
eine Eliteeinheit der Gendarmerie ein Grundstück am Rande eines
Dorfs im
ländlichen Frankreich. Hier, auf dem elterlichen Hof, vermuten sie
einen für
diverse kleinere Delikte verurteilten jungen Mann, der nach einem
richterlich
gewährten Freigang nicht ins Gefängnis zurückgekehrt war. Sie
durchforsten die
Gebäude und Wohnwagen, verwüsten die Einrichtung der Häuser und
legen den fünf
anwesenden Familienmitgliedern Handschellen an. Der Einsatz
kulminiert in der Erschießung
des Gesuchten in einem Nebengebäude durch zwei Polizisten.
In der Frage nach den unmittelbaren Umständen dieser Tötung
verliert die
Geschichte ihre Einfachheit. Gendarmerie und Angehörige geben
unterschiedliche,
sich wechselseitig ausschließende Berichte von der Ereigniskette
zu Protokoll.
Die Polizisten sprechen von Notwehr und einer verhältnismäßigen
Steigerung der
Zwangsmittel, mit denen sie auf die körperlichen Angriffe des in
seinem
Versteck entdeckten jungen Manns reagierten. Aus Perspektive der
Familie fielen
die tödlichen Schüsse bereits kurz nachdem die Polizisten den
Schuppen betreten
hatten – ohne vorangehenden Wortwechsel, Kampf oder Warnungen und
ohne
vernehmbare Versuche, dem Gesuchten auf andere Weise habhaft zu
werden. Bereits
wenige Stunden nach den Ereignissen treten Asymmetrien zutage, die
die folgende
juristische Aufarbeitung prägen werden: Staatsanwaltschaft, lokale
Medien und
später auch eine polizeiinterne Untersuchungskommission übernehmen
weitgehend
die Version der Einsatzkräfte; die Erzählung der Angehörigen
findet hier kaum
Beachtung. Der juristische Prozess wird nach einigen Jahren ohne
eine Anklage
gegen die beiden Polizisten enden.
Es ist in erster Linie die Schwester des Getöteten, die dieser
sukzessiven
Durchsetzung einer asymmetrischen „juristischen Wahrheit“
entgegentritt (S.
55ff.). Über Videos verbreitet sie die Beobachtungen und
Erfahrungen der
Familie im Netz; sie organisiert Protest- und Erinnerungsmärsche;
und sie nimmt
Kontakt zu anderen Familien mit ähnlichen Geschichten auf. Ein
Muster tritt
hervor, das die größere gesellschaftliche Relevanz jedes einzelnen
Falles
verdeutlicht. Die Opfer von Polizeigewalt, zumeist junge Männer,
entstammen in
aller Regel den sozial schwachen französischen Vorstädten,
Einwandererfamilien
oder rassifizierten Minderheiten (S. 60ff.). So auch Angelo, der
getötete
Freigänger, dessen Familie – wenn auch inzwischen selbst sesshaft
– einer
rechtlich und sozial markierten, vielfältig diskriminierten,
landfahrenden
Gruppe („gens du voyage“; S. xxii; S. 51ff.) angehört. Im Rahmen
ihrer
Bemühungen um Unterstützung und Aufmerksamkeit kontaktiert Angelos
Schwester
den Anthropologen Didier Fassin (S. 1ff.), der in der jüngeren
Vergangenheit
durch Bücher zur Polizeiarbeit in französischen Banlieus, zur
Politik des
Strafens in westlichen Demokratien oder zu den gesellschaftlichen
Ungleichheiten von „Leben“ hervorgetreten ist.[1] Von der Geschichte und
ihren Ungereimtheiten
berührt, beginnt Fassin eine „Gegenuntersuchung“
(„counter-investigation“;
„contre-enquête“).
Das Buch beeindruckt einerseits durch die politische und „ethische
Dringlichkeit“ (S. 3) der hier geschilderten Zusammenhänge.
Andererseits ist es
gerade der programmatisch unterlegte Begriff einer
„Gegenuntersuchung“, der
nachhaltig in Erinnerung bleibt (S. 3ff.). Nicht zuletzt, da sich
über ihn
wegweisende Anschlüsse an zeitgenössische Diskussionen zu einer
engagierten,
eingreifenden und öffentlich sichtbaren Anthropologie herstellen
lassen.
Ethnografie erscheint hier als ein Modus der kritischen
Wissensproduktion, der
nicht nur marginalisierten Gruppen Gehör verschafft, sondern aktiv
in
gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Wahrheit und
Gerechtigkeit interveniert.
Der gut lesbare Text ist offensichtlich für ein breiteres Publikum
geschrieben
und kommt ganz ohne Fußnoten oder Literaturverweise aus. Dennoch
knüpft Fassin
an theoretische Debatten und die methodische Praxis einer
kritischen
Sozialwissenschaft an. Dies gilt etwa für seine Auseinandersetzung
mit zwei
unterschiedlichen, sich in der Regel konzeptionell ausschließenden
Umgangsweisen mit „Wahrheit“ (S. xiv ff.): dem – etwa von Pierre
Bourdieu
vertretenen – Programm der sukzessiven Aufdeckung einer zunächst
von den
Machtverhältnissen verborgenen Wahrheit einerseits; sowie einem –
eher
foucauldianisch inspirierten – nüchternen Nachzeichnen
„verschiedener
Modalitäten von Wahrheit“ (S. xvii) und somit des Auftauchens, der
Etablierung
und eventuellen Kollision unterschiedlicher Wahrheitsregime
andererseits.
Fassins Text bewegt sich in diesem Spannungsverhältnis, indem er
zunächst
unterschiedliche Erzählungen der Geschehnisse gleichberechtigt
nebeneinanderstellt, um im Schlussteil doch eine eigene, aus
seiner Perspektive
plausible Version der Geschehnisse vorzustellen.
Dies geschieht in methodischer Hinsicht durch eine schrittweise
Rekonstruktion
der Ereignisse auf Basis einer kritischen Analyse aller
verfügbaren
Materialien. Fassin nimmt für sich in Anspruch, jeder Aussage das
gleiche
Gewicht zu geben, sich nicht von Vorannahmen einer größeren
Glaubwürdigkeit
bestimmter Protagonist:innen leiten zu lassen und die vielfältigen
Widersprüche, Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten der
juristischen
Version ins Zentrum seiner Untersuchung zu stellen. Der
„juristischen Wahrheit“
des gesprochenen Rechts (S. 95; S. 104f.; S. 123), die den Fall
eigentlich zu
einem bindenden Abschluss gebracht hat, setzt er eine
„ethnografische Wahrheit“
(S. xviii; S. 124) entgegen. Hierzu bringt er ausgeschlossene
Alternativen
wieder ins Spiel, ordnet Untersuchungsmaterialien neu und
verbindet sie mit den
Erkenntnissen sozialwissenschaftlicher Studien zu der zunehmenden
Militarisierung der Polizei, der Ausdehnung des Strafsystems
gegenüber sozial
schwächeren Gruppen oder auch zu der Brüchigkeit des Grundsatzes
der Gleichheit
vor dem Gesetz (S. xiii).
Dieses Ringen um eine „ethnografische Wahrheit“ übersetzt sich in
folgende
Struktur des Textes. Zunächst stellt Fassin die sich teils
wechselseitig
ausschließenden Versionen der wichtigsten Protagonist:innen von
den Ereignissen
in einzelnen Abschnitten vor (S. 11–50) – jeweils so, als könnten
sie wahr
sein. Erst in einem zweiten Schritt zieht er weitere Materialien –
etwa die
Berichte der Autopsie oder der ballistischen Untersuchung – hinzu,
um die
Plausibilität dieser Erzählungen kritisch zu überprüfen. In diesen
Textteilen
wird also der juristische Prozess selbst – samt seiner Texte,
Rationalitäten
und Wahrheitsbehauptungen – zum Gegenstand der ethnografischen
Untersuchung (S.
77–115). Fassin zeigt hierbei, in welch starkem Umfang die
richterliche
Begründung, die zur Einstellung des Verfahrens gegen die beiden
Polizisten
führte, die Widersprüche zwischen den Aussagen unterschiedlicher
Polizeiangehöriger
sowie zwischen diesen Aussagen, der Autopsie und dem ballistischen
Bericht
übergeht. Gleichzeitig werden die Bedingungen und Modi der
systematischen
Nichtbeachtung der alternativen Erzählungen herausgearbeitet.
Fassin
argumentiert, dass die juristische Wahrheitsfindung auf
„Hierarchien der
Glaubwürdigkeit“ (S. 93) beruht: Die Aussagen von Polizist:innen
einerseits und
von Angehörigen marginalisierter oder rassifizierter Minderheiten
andererseits
unterliegen sehr ungleichen Chancen und Bedingungen als „wahr“
anerkannt zu
werden.
Fassins Gegenuntersuchung beschränkt sich aber nicht auf die
Aufdeckung solcher
Schwachstellen und Widersprüche innerhalb der „offiziell
gemachten“
juristischen Wahrheit. Im letzten Teil des Buches schlägt er eine
alternative,
in seiner Einschätzung durch die Kombination empirischer
Materialien und die
explizite Einbeziehung von Ungereimtheiten plausibilisierte
Version der
Ereigniskette vor, die zu dem Tod Angelos führte und stellt
hierdurch die Frage
nach Schuld und Verantwortung neu (S. 116ff.). Er revidiert
gewissermaßen die
„juristische Wahrheit“ auf Basis seiner ethnografischen Forschung
und ersetzt
das Narrativ von der Notwehr und der verhältnismäßigen Reaktion
der
Einsatzkräfte auf einen Angriff des Gesuchten. Er vermutet
stattdessen eine
situative Panik der beiden Polizisten, die zu den tödlichen
Schüssen ohne
vorherige handgreifliche Auseinandersetzung oder Warnung führte.
Fassin
beschränkt sich aber nicht auf diese Kritik individuellen Handelns
und
institutionellen Vertuschens, sondern verweist auf großflächige
gesellschaftliche Entwicklungen, die die „Bedingungen der
Möglichkeit“ (S. 9)
für den tödlichen Verlauf dieser Intervention geschaffen haben.
Hier nennt er
einerseits die wachsende Selbstverständlichkeit, polizeiliche
Elite- und
Anti-Terroreinheiten auch für die Verfolgung von Kleinkriminellen
und
Alltagsdelikten einzusetzen. Andererseits betont er den tiefen
gesellschaftlichen Rassismus gegenüber den „gens du voyage“, der
maßgeblich
dazu beigetragen habe, die übertriebene Form des Einsatzes, die
Schüsse und die
Ignoranz gegenüber den Aussagen der Familienmitglieder zu
plausibilisieren (S.
113f.)
Didier Fassin ist sich darüber im Klaren, dass seine
„ethnografische Wahrheit“
nicht die gleiche performative Kraft besitzt wie das „gesprochene
Recht“ in
einem abgeschlossenen Verfahren. Durch seine Gegenuntersuchung
möchte er
dennoch in gesellschaftliche Prozesse der Produktion von Wahrheit
und
Gerechtigkeit intervenieren, vor allem aber dem Getöteten und
seiner Familie
etwas von ihrer Würde zurückgeben (S. 10). Gleichzeitig zielt sein
Text auf
eine grundlegendere Kritik: Denn der Tod des jungen Mannes ist für
Fassin kein
bedauerlicher Einzelfall. Er erklärt sich nicht aus einer
situativen
Dysfunktionalität des französischen Justiz- und Polizeiapparats,
sondern
verweist vielmehr auf deren normales Funktionieren (S. xxiiiv).
Anmerkung:
[1] Didier Fassin, Enforcing
Order. An Ethnography
of Urban Policing, Cambridge 2011; Didier Fassin, Der Wille zum
Strafen, Berlin
2018; Didier Fassin, Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung,
Berlin 2017.
Zitation
Jens Adam: Rezension zu: Fassin, Didier: Death
of a
Traveller. A Counter Investigation. Cambridge 2021. ISBN 978-1-5095-4741-8, In: H-Soz-Kult,
17.09.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-95501>.