Kreative
Impulse und Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im
mittelalterlichen Europa.
Julia Becker,; Julia Burkhardt,
Reihe Klöster als Innovationslabore 9
Erschienen Regensburg 2021: Schnell
& Steiner
Anzahl Seiten 464 S.
Preis € 59,00
ISBN 978-3-7954-3627-8
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Rezensiert für H-Soz-Kult von Hannes Engl, Lehrstuhl für
Mittlere
Geschichte, RWTH Aachen
Der hier vorgestellte Band geht aus einer internationalen Tagung
hervor, die im
Rahmen des von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und
der Sächsischen
Akademie der Wissenschaften geförderten Forschungsprojekts
„Klöster im
Hochmittelalter: Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und
Ordnungsmodelle“ veranstaltet wurde. Im Zentrum steht die Frage,
ob die
religiösen Gemeinschaften des Mittelalters überhaupt Innovations-
und
Transferleistungen mit nachhaltiger Wirkung erbracht haben und
woran sich diese
in quantitativer wie qualitativer Hinsicht bemessen lassen.
Bereits vorab wird
jedoch klargestellt, dass „Innovation“ nicht allein aus der heute
gängigen
Sicht des Wirtschaftswesens als linear ablaufender Prozess zu
verstehen sei,
der ausgehend von einer kreativen Idee (inventio) zunächst zu
deren Umsetzung (innovatio)
und dann zu einer breitgestreuten Akzeptanz derselben (diffusio)
führt und sich
somit letztlich durch das Kriterium des Erfolgs bemisst. Dezidiert
werden
ebenso Prozesse des Scheiterns kreativer Impulse verfolgt (S.
10–13). Die 16
Einzelbeiträge des Bandes sind in vier Themenbereiche
untergliedert, in denen
die Herausgeberinnen „exemplarisch kreative Impulse und
Innovationsleistungen
religiöser Gemeinschaften vermuten“ (S. 14). Sie fokussieren die
Rolle
charismatischer Individuen (1), Innovationen im technischen
Bereich sowie deren
regionale Visibilität (2), die Bedeutung von Netzwerken und
anderen Formen der
Gemeinschaftsbildung (3) und schließlich die Vermittlung von
Wissen in
Interaktion mit weltlichen Herrschaftsträgern (4).
Da das Mönchtum in der mittelalterlichen Gesellschaft eine
vorbildhafte und
Deutungshoheit beanspruchende Schlüsselposition für die
Gewährleistung des
individuellen wie kollektiven Seelenheils innehatte, widmete es
einen Großteil
seiner intellektuellen Tätigkeiten der Durchdringung des
immateriellen
Zeit-Raum-Gefüges, um Lebensentwürfe für ein möglichst
sündenfreies Dasein im
Diesseits als Vorbereitung für das Jenseits bereitzustellen. Aus
dieser
gesellschaftlichen Verantwortung resultierte ein „enormes
Innovationspotential“
(Eva Schlotheuber, S. 413–434, bes. S. 426), das nicht nur in der
mannigfaltigen Produktion normativer Texte (Ordensregeln,
Traktate,
Fürstenspiegel, etc.) oder kompilierten Wissens zum Ausdruck kam,
sondern auch
in technischen Neuerungen, etwa in der Waldwirtschaft oder im
Wasserbau, wo
insbesondere die Zisterzienser wegweisende Impulse gaben (Oliver
Auge, S.
169–182).
Als Impulsgeber bedeutender Neuerungen bleiben aber häufig
einzelne Individuen
in Erinnerung, sei es aufgrund ihrer schriftlichen
Hinterlassenschaften, sei
es, weil sie bereits von den Zeitgenossen als charismatische
Persönlichkeiten
wahrgenommen wurden oder weil ihnen im Nachhinein eine
sinnstiftende Funktion
für die oft langwierigen und konfliktreichen
Ordensbildungsprozesse zukam. Dass
sich derartige Konflikte durchaus positiv auf kreative Impulse
auswirken
konnten, veranschaulicht Jens Röhrkasten anhand der allmählichen
Spaltung des
Franziskanerordens und der interessensgebundenen Vereinnahmung der
Person des
Ordensgründers im 13. und 14. Jahrhundert. Der ordensinterne
Konflikt um die
von Franziskus vorgelebte Armut und dem Bedürfnis einer adäquaten
materiellen
Versorgung der Gemeinschaften führte hier zu einer Reihe
innovativer
„Rechtskonstrukte“. Aufgrund ihrer Bestätigung von päpstlicher
Seite schufen
sie einen breiten Spielraum für die Anpassung ordensgebundener
Richtlinien an
finanzielle Unwägbarkeiten und lokalspezifische Gegebenheiten (S.
79–110, bes.
S. 86–89).
Welche gesellschaftliche Tragweite die nachmalige
Instrumentalisierung
charismatischer Persönlichkeiten haben konnte, verdeutlicht auch
Claire Taylor
Jones in ihrer Studie über die Rezeption der Vita Katharinas von
Siena und der
Regel des dritten Ordens der Dominikaner im spätmittelalterlichen
Süddeutschland.
Überzeugend legt sie dar, wie die Übersetzungen dieser Texte,
insbesondere Der
geistliche Rosengarten, im Nürnberg des 15. Jahrhunderts eine
geradezu
katalytische Wirkung auf Klostereintritte von Laienschwestern
entfachten.
Maßgeblich hierfür waren die in den Übersetzungen akzentuierte
Umformung
Katharinas von einer frommen Laienschwester zu einer Nonne, die
gezielte
Verbreitung dieser Übersetzungen durch die Generalkapitel und
nicht zuletzt die
von dort ergangenen Anweisungen zur Einbindung Katharinas in die
ordensinterne
Liturgie. Indes zeigt die große Varianz an Ausprägungen
liturgischer Praxis in
den süddeutschen Klöstern der Dominikanerinnen, dass auf
Zentralisierung
zielende Vorgaben der Ordensleitung und deren ortsgebundene
Anpassung an lokalspezifische
Traditionen nicht zwangsläufig im Widerspruch zueinander stehen
mussten,
sondern durchaus synergetisch wirken konnten (S. 111–149).
Als entscheidender Faktor für die Nachhaltigkeit von
Innovationsleistungen
erwies sich die Anpassungsfähigkeit an lokale Gegebenheiten
insbesondere im
Bereich technischer Neuerungen, wie es Philipp Stenzig anhand der
Montantätigkeit der Zisterzienser im Westharz illustriert (S.
183–208). Dies
gilt bisweilen auch für Neuerungen in der Bauweise
mittelalterlicher Klöster.
Ein besonders aussagekräftiges Beispiel hierfür ist der Umbau der
Zisterzienserabtei Villers-en-Brabant (Diözese Lüttich). Sie wurde
um 1146 von
einem größeren adeligen Netzwerk unter der Führung der Herren von
Marbais
gegründet, geriet dann aber spätestens seit den 1180er Jahren in
den Einfluss
der Herzöge von Brabant, die sie zu einem ihrer Hausklöster,
inklusive
dynastieeigener Grablege, machten und dort 1248 ein umfassendes
Bauprogramm in
die Wege leiteten. Die von den Herzögen initiierte Bauform
entsprach gerade
aufgrund ihres stellvertretend für die weltliche Macht stehenden
Westflügels
und den dort angebrachten Wandmalereien, welche ihren Anspruch als
mächtige
lotharingische Reichsfürsten karolingischen Ursprungs zur Geltung
bringen
sollten, so gar nicht der Ordensnorm der Zisterzienser und stellte
damals
zweifelsohne ein markantes Novum dar. In mindestens ebenso
markanter Weise
symbolisierte der gegenüberliegende, den Klosterheiligen gewidmete
Ostflügel
die Bipolarität zwischen weltlicher und geistlicher Machtsphäre
und zugleich
deren wechselseitiges Miteinander (Thomas Coomans, S. 214–219).
Wie vielschichtig und weitreichend derartige Verflechtungen
zwischen religiösen
Gemeinschaften und weltlichen Akteuren waren, unterstreichen
ferner Andreas
Rehberg für die Klostergründungen der Colonna im stadtrömischen
Umfeld (S.
273–313) und Andreas Rüther für die nordöstlichen Grenzgebiete des
Reiches (S.
315–340). Die kaum zu unterschätzende Bedeutung solcher
„Verflechtungsgeschichten“ gerade für die diffusio klösterlicher
Innovationen
stellt Christina Lutter anhand der Expansionspolitik der
Babenberger im 12.
Jahrhundert heraus. Zum Ausbau ihrer Territorialherrschaft setzten
diese
gezielt auf das von den Zisterziensern ausgehende technische und
landwirtschaftliche
Innovationspotential, um sich durch Klostergründungen im Verbund
mit den weißen
Mönchen neue Räume anzueignen (S. 347–360). Letztlich gaben hier
also rein
weltliche Interessen den entscheidenden Impuls für die diffusio im
geistlichen
Milieu erdachter Innovationen. Vor diesem Hintergrund erscheint
Innovation in
erster Linie als ein sozialer Prozess, der einflussreiche Förderer
braucht, um
nachhaltig wirksam zu sein.
Dies manifestiert sich darüber hinaus in der Herausbildung eines
institutionell
organisierten Bildungswesens und anderen Formen der
Wissensvermittlung. So
zeigt Václav Žůrek auf, dass die von Karl IV. geförderte
Einbindung der
religiösen Gemeinschaften Prags in die neu entstehenden
Universitäten der
Residenzstadt des Luxemburgers als Teil eines übergeordneten
Herrschaftsprogramm gesehen werden kann, dessen heils- und
nationalgeschichtliche Konzepte über den Theologieunterricht sog.
doctores
bullati vermittelt werden sollten (S. 397–411). Ein gutes
Gegenbeispiel hierzu
liefert Vanina Kopp mit ihrem Beitrag zu kreativen Impulsen
königlicher
Ratgeber unter den Valois im 14. und 15. Jahrhundert (S. 375–396).
Hier hatte
der religiöse Stand sein Monopol auf Wissensvermittlung einbüßen
müssen und
befand sich deshalb in einer Konkurrenzsituation zu Ratgebern aus
anderen
Gesellschaftsschichten, die in einem regen literarischen
Wettbewerb um die
Gunst des Königs buhlten. Verstärkt wurde diese
Konkurrenzsituation noch durch
das angesichts zunehmender militärischer und politischer Krisen
gesteigerte
Bedürfnis der Valois-Könige an Ratschlägen und Handlungsentwürfen.
Krisen,
Konkurrenz und Nachfrage regten die Kreativität der Schreibenden
an und
förderten insbesondere Übersetzungen antiker Werke in die
Vernakularsprache zu
Tage, von denen etwa die Aristoteles-Übersetzung des Kanonikers
Nicolas Oresme
auch nachhaltigen Einfluss auf die Gestaltung des
Krönungszeremoniells der
Valois übte (S. 388f.).
Aufgrund des breiten Spektrums an Themenbereichen identifiziert
der Band
Faktoren, die in ganz unterschiedlichen Kontexten maßgeblich für
das vermehrte
Auftreten, den Erfolg oder das Scheitern kreativer Impulse waren.
In mehreren
Beiträgen wird deutlich, dass Innovationen im klerikalen Milieu
häufig aus
einer Konkurrenzsituation erwuchsen, dass sie aber auch auf
Anpassungsfähigkeit
und Zusammenarbeit mit gesellschaftlich bedeutsamen Akteuren
ausgelegt sein
mussten, um eine nachhaltige bzw. raumgreifende Wirkung zu
zeitigen. Dies
unterstreicht die Prozesshaftigkeit von Innovationsleistungen
religiöser
Gemeinschaften als ein vielschichtiges gesellschaftliches Phänomen
und eröffnet
Vergleichsperspektiven für weiterführende Untersuchungen zur
Entstehung,
Umsetzung und gesellschaftlichen Einwurzelung kreativer Impulse
innerhalb wie
außerhalb der Welt mittelalterlicher Klöster. Wenngleich sich die
Struktur
einiger Beiträge mangels Unterteilungen in Themenbereiche bzw.
Sinnabschnitte
etwas mühsam erschließt, überzeugt der Band insgesamt dennoch in
seiner
inhaltlichen Konzeption und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte
für Forschungen
im Bereich des mittelalterlichen Klosterwesens. Abgerundet wird er
durch ein
Verzeichnis der insgesamt 37 farblichen Abbildungen sowie durch
ein Namens- und
Ortsregister.
Zitation
Hannes Engl: Rezension zu: Becker, Julia; Burkhardt, Julia
(Hrsg.): Kreative
Impulse und Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im
mittelalterlichen Europa Regensburg 2021. ISBN 978-3-7954-3627-8, In: H-Soz-Kult,
15.09.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-96256>.
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