K.
N. Piechocki: Cartographic Humanism
Cartographic
Humanism. The Making of Early Modern Europe
Author
Katharina N. Piechocki
Erschienen
Chicago 2019: University
of Chicago Press
Anzahl
Seiten 311 S.
Preis
€ 40,92
ISBN
978-0-226-64118-8
Rezensiert
für H-Soz-Kult von Isabella Walser-Bürgler, Ludwig Boltzmann
Institut für
Neulateinische Studien, Innsbruck
Mit Katharina Piechockis gut recherchierter Studie zu den
Europavorstellungen
des 16. Jahrhunderts liegt ein weiterer Meilenstein der
frühneuzeitlichen
Europaforschung vor. Der interdisziplinäre Wert dieser Studie
kann nicht hoch
genug geschätzt werden. Es verschmelzen darin Ideen-,
Wissenschafts- und
Politikgeschichte auf derart überzeugende Weise mit
neulateinischer Philologie
und volkssprachlicher Literaturwissenschaft, dass der strikt
monodisziplinäre
Zugang zum Thema wohl grundsätzlich hinterfragt werden muss.
Inhaltlich macht es sich die Autorin zur Aufgabe, die
kartografische
„Erfindung“ Europas im 16. Jahrhundert nachzuzeichnen. Vor 1600,
so wird in der
Einleitung argumentiert (S. 1–25), stellte Europa nicht mehr als
ein vages
geografisches Konzept dar, geprägt von unklaren inneren und
äußeren Grenzen. Im
Zuge der hegemonialen, imperialistischen und kolonialistischen
Bestrebungen
nahm dieses Konzept aber zunehmend Gestalt an und bereitete so
den
Europadiskurs des 17. und 18. Jahrhunderts vor. Als Motor dieser
Entwicklung
macht Piechocki die Kartografie aus, die sie zum Instrument der
europäischen
Selbstreflexion stilisiert. Erst durch kartografische
Verortungsversuche konnte
sich Europa ab dem Ende des 15. Jahrhunderts in der sich stetig
verändernden
kosmografischen Realität – verändert etwa durch Kolumbus’
Überquerung des
Atlantiks (1492), Vasco da Gamas Umrundung des Kaps der Guten
Hoffnung (1498),
Magellans Weltumsegelung (1519–1522) und Kopernikus’ Einführung
des
heliozentrischen Weltbildes (1543) – neu finden und überhaupt
erst begreifen
lernen.
Im Zentrum der Untersuchung stehen aber nicht geografische
Karten im engen Sinn
(wenn überhaupt, dann dienen diese nur zur Ergänzung des
eigentlichen
Arguments), sondern literarische und wissenschaftliche „Bilder
von Europa“. Die
kartografische Herausbildung Europas wird dabei anhand von fünf
zentralen
Texten des 16. Jahrhunderts beleuchtet: Conrad Celtis’ Quatuor
Libri Amorum
(1502), Maciej Miechowitas Tractatus de Duabus Sarmatiis
(1517),
Geoffroy Torys Champ fleury (1529), Girolamo Fracastoros
Syphilis
sive Morbus Gallicus (1530) und Luís de Camões’ Os
Lusíadas (1572).
An diese Textauswahl knüpfen sich gleich zwei positive
Beobachtungen
hinsichtlich Piechockis Umgang mit dem frühneuzeitlichen
Europadiskurs: Erstens
erschließen die Texte den Lesern einen Raumzusammenhang zwischen
Deutschland,
Polen, Frankreich, Italien und Portugal einerseits und zwischen
Europa und
Amerika bzw. Asien andererseits, der bislang nur äußerst selten
in dieser Form
Beachtung und komparatistische Aufarbeitung fand. Zweitens
handelt es sich bei
den Texten nicht um die typischen Beispiele eines christlich
oder monarchistisch
geprägten Europabewusstseins, die seit Jahrzehnten im
wissenschaftlichen
Diskurs ohne großen Erkenntniszuwachs wiedergekäut werden.
Im Hauptteil der Studie widmet Piechocki jedem der fünf Texte
jeweils ein
substanzielles Kapitel. Das erste Kapitel (S. 26–67) untersucht
Conrad Celtis’
Versuch, ein „neues“ Europa zu schaffen, indem der Autor den
liebeskranken
Protagonisten seines Elegienzyklus an den nördlichen, östlichen,
südlichen und
westlichen Grenzen des deutschen Reiches entlangwandern lässt.
Während Nürnberg
dabei als heimliche Hauptstadt des Reiches und Zentrum der
zeitgenössischen
Kartenproduktion zum Nabel Europas avanciert, stellen die
Grenzen in allen vier
Himmelsrichtungen historisch-kulturelle Beziehungen zum Rest
Europas her.
Besondere Erwähnung verdient an dieser Stelle Piechockis
beeindruckende
philologische Detailarbeit, auf Grundlage derer sie Celtis’
sprachliche und
metrische Finessen als Ausdruck seines innovativen
Europabewusstseins wertet.
Im zweiten Kapitel (S. 68–106) nimmt die Autorin Maciej
Miechowitas lateinische
Beschreibung Osteuropas und Kleinasiens als das erste
frühneuzeitliche
Grenzmanifest in den Blick. Anschaulich und gewissenhaft
analysiert sie, wie
Miechowita die seit der Antike bestehende Festlegung von Europas
Ostgrenze (zu
der Zeit waren das der Don und die mythischen Rhipäischen Berge)
zurückweist
und stattdessen die Krim in Analogie zu den insularen
Grenzbefestigungen im
Westen des Kontinents zur Ostgrenze erhebt. Dabei werden die
Begriffe „Grenze“
und „Grenzland“ ebenso einer konzeptuellen Prüfung unterzogen
wie die
scheinbare Stabilität und Immobilität von Europas Grenzen.
Das dritte Kapitel (S. 107–147) erörtert den Raum Europas aus
dem etwas
ungewöhnlichen Blickwinkel von Geoffrey Torys
französischsprachigem Traktat zur
Standardisierung des französischen Alphabets. Die Verbindung zum
Europadiskurs
ergibt sich einerseits aus der Vorstellung, dass Buchstaben als
kleinste
grafische Einheiten in ähnlicher Weise das Alphabet bilden wie
die grafischen
Einheiten einer Karte den Kontinent Europa. Andererseits
versteht Tory den
Prozess der Europäisierung als kulturellen Ausdruck der
Inklusion oder
Exklusion von hebräischen, griechischen und arabischen Texten,
deren Alphabete
wiederum Pate für das französische Alphabet gestanden hätten.
Das vierte Kapitel (S. 148–184) stellt Girolamo Fracastoros
lateinische
Überlegungen zur Grenze zwischen Europa, der alten Welt, und
Amerika, der neuen
Welt, in den Mittelpunkt der Untersuchung. Piechocki
interpretiert Fracastoros
zwischen Europäisierung und Globalisierung hin und her
schwankenden Vorstoß,
die Kontinente unter Berücksichtigung der globalen Bedrohung der
Syphilis
voneinander abzugrenzen, als „syphilitische Kartografie“. Mit
Fracastoros
Meinung, dass alle Landmassen unter Wasser miteinander verbunden
und die
Küstenlinien in ständiger Bewegung seien, fordere der Mediziner
überdies das
gängige Konzept der Kontinentalgrenze heraus. Piechockis Analyse
von
Fracastoros Wortspielen rund um die Begriffe „unda“ (Welle) und
„unde“ (woher) sind
dabei von zentraler Bedeutung.
Das fünfte Kapitel (S. 185–229) unterzieht Luís de Camões’
portugiesisches Epos
vor dem Hintergrund der dunklen Seite zeitgenössischer
Kartografie einer
kritischen Neubewertung. Anhand der Ekphraseis des Indischen
Ozeans beleuchtet
Piechocki die Kartografie als Instrument der europäischen
Kolonialisierung.
Indem Camões diese nämlich dazu benutzte, um die südliche
Hemisphäre zu
europäisieren (durchaus auch im wörtlichen Sinn durch die
geografische
Spiegelung des indischen Ozeans mit dem Mittelmeer bzw. der
südlichen mit der
nördlichen Hemisphäre), wurde die europäische Identität
affirmativ auf die
eroberten Gebiete übertragen bzw. die Ausübung europäischer
Kolonialmacht
gerechtfertigt.
Insgesamt handelt es sich bei Piechockis Studie um einen
komplexen Beitrag zur
Erforschung des Europaverständnisses in der Renaissance.
Anschauliche
Illustrationen (vornehmlich frühneuzeitliche Karten und
Frontispize) lockern
die durchaus anspruchsvolle Lektüre auf. Dass die Herausbildung
Europas in
keinem der Kapitel als lineare Entwicklung beschrieben wird, ist
nur einer der
wesentlichen Punkte, der die Studie positiv von so manchen
anderen
Untersuchungen zum frühneuzeitlichen Europabewusstsein abhebt.
Die Tatsache,
dass die geografisch-räumliche Ausprägung des Europadiskurses
bislang weit
hinter den ideologischen Konzeptualisierungen zurückstand und
durch Piechockis
Ambitionen nunmehr neue Impulse erhält, ist ein weiterer
Pluspunkt. Zudem darf
die vorliegende Monografie – obwohl dies von der Autorin selbst
nie explizit
erwähnt wird – als ernsthafte Auseinandersetzung mit der
Rezeption der
ptolemäischen Geografie im 15. und 16. Jahrhundert aufgefasst
werden. Diese
findet in so gut wie jedem Kapitel ihren Niederschlag, wo sie
jeweils als
intertextuelle Vorlage dient.
Ein einziger negativer Aspekt sticht ins Auge, der aber weniger
der Arbeit der
Autorin als vielmehr den Verlagsgepflogenheiten geschuldet ist:
die
leserunfreundliche Handhabung der „Notes“ (S. 241–296). Die an
die Untersuchung
angehängten Referenzen erweisen sich im Vergleich zu
herkömmlichen Fußnoten als
überaus unpraktisch, zumal es kein zusätzliches
Literaturverzeichnis gibt. Wenn
man also etwa eine bestimmte Referenz sucht oder sich gar
eingehender mit ausgewählten
Primärzitaten auseinandersetzen will, muss man sich erst mühsam
und ohne
jegliche Anhaltspunkte durch die Referenzliste kämpfen. Dies tut
dem
beeindruckenden Forschungsbeitrag Piechockis aber keinerlei
Abbruch, der das
weite Feld der frühneuzeitlichen Europaforschung gewissermaßen
neu ausmisst.
Zitation
Isabella
Walser-Bürgler: Rezension zu: Piechocki, Katharina N.:
Cartographic
Humanism. The Making of Early Modern Europe. Chicago 2019.
ISBN 978-0-226-64118-8, In: H-Soz-Kult,
17.03.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-95467>.