Verschleppt,
Verkauft, Versklavt. Deutschsprachige Sklavenberichte aus
Nordafrika
(1550–1800)
Herausgeber Klarer, Mario
ErschienenWien 2019: Böhlau
Verlag
Anzahl Seiten 249 S.
Preis€ 40,00
ISBN 978-3-205-23280-3
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Dorfner, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische
Technische
Hochschule Aachen
Die Geschichtswissenschaft hat sich in den vergangenen 20 Jahren
intensiv mit
mediterraner Piraterie während der Frühen Neuzeit und dem
Freikauf von
Europäer/innen aus nordafrikanischer Gefangenschaft beschäftigt.[1] Die Forschungsergebnisse
konnten zuletzt
sogar einer breiten, historisch interessierten Öffentlichkeit
vermittelt
werden. Ausstellungen[2] und TV-Dokumentationen[3] haben dargelegt, dass es
sich bei
muslimischer wie christlicher Piraterie im Mittelmeer keineswegs
um
Randphänomene handelte: Zwischen 1550 und 1850 wurden mehrere
hunderttausend Europäer/innen
in nordafrikanische Gefangenschaft verschleppt.[4] Die Opfer wurden gegen
Lösegeld
freigelassen oder auf den Sklavenmärkten von Algier, Tripolis
bzw. Tunis
verkauft. Wie Mario Klarer eindrucksvoll zeigt, ist das
Themenfeld jedoch noch
keineswegs erschöpfend behandelt. Der Amerikanist erforscht im
Rahmen des
FWF-Projekts „European Slaves: Christians in African Pirate
Encounters“
(ESCAPE) gedruckte Berichte von ehemaligen Piraterieopfern. Aus
Klarers Projekt
ist unter anderem ein Sammelband zu Gefangenenberichten sowie
die hier zu
besprechende Quellenedition zu deutschsprachigen
Sklavenberichten
hervorgegangen.[5]
Die Edition umfasst sechs deutschsprachige Gefangenenberichte,
denen jeweils
ein kurzer, drei- bis fünfseitiger Kommentar vorangestellt ist.
Klarer fasst
den Begriff „deutsch“ bewusst weit, um zwei Berichte aufnehmen
zu können, die
ursprünglich auf flämisch beziehungsweise dänisch verfasst,
jedoch kurz nach
ihrer Niederschrift bereits in deutscher Sprache publiziert
wurden. Drei
Aspekte lenken die Auswahl: Klarer beschränkt sich erstens auf
„authentisch
erscheinende Sklavenerzählungen“ (S. 44), schließt somit rein
literarische
Werke aus. In der Konsequenz konnte keiner der im frühen 19.
Jahrhundert auf
dem Druckmarkt populären Berichte weiblicher Protagonistinnen
berücksichtigt
werden, da es sich hierbei „in den meisten Fällen um reine
Fiktion“ handele (S.
34). Zweitens werden mit den Berichten die drei
frühneuzeitlichen Jahrhunderte
gut abgedeckt: Der älteste Bericht, verfasst von Balthasar
Sturmer, erschien
1558 im Druck, Leonhard Eisenschmieds Werk hingegen wurde 1807
veröffentlicht.
Drittens verdeutlichen die Berichte, wie unterschiedlich die
Handlungsmöglichkeiten
der Gefangenen sowie ihre Wege in die Freiheit waren: Während
Hark Olufs
(1708–1754) nach seiner Konversion zum Islam bis zum
Kavalleriekommandeur des
Beys von Constantine aufstieg und für seine militärischen
Erfolge die Freiheit
erhielt, musste ein Gefangener namens Johann Michael Kühn darauf
vertrauen,
dass sein Bruder sowie sein Landesherr die Lösegeldsumme
aufbringen konnten.
Klarer eröffnet den Band mit einer eingängigen, klug
gegliederten Einleitung,
die unter anderem die Intentionen der Autoren quellenkritisch
beleuchtet: Sie
präsentieren sich in ihren Berichten beispielsweise zumeist als
glaubensfeste
Christen, um Verdächtigungen ihrer Umwelt vorzubeugen, während
der
Gefangenschaft konvertiert zu sein. Für Historiker/innen
aufschlussreich ist
vor allem Klarers These einer Wechselwirkung zwischen
Sklavenberichten und
Romanen. Während Sklavenberichte des 16. Jahrhunderts die
Entstehung der frühen
Romane beeinflussten, lasse sich für das 18. Jahrhundert zeigen,
dass Romane
wie Daniel Defoes Robinson Crusoe die Sklavenerzählungen
erzähltechnisch und
stilistisch beeinflussten. Ende des 18. Jahrhunderts sei
geradezu eine
„Hybridisierung des literarischen Genres der Robinsonade mit den
barbaresken
Sklavenberichten“ zu beobachten (S. 212).
Die Edition ist zwischen Lese- und wissenschaftlicher
Studienausgabe
angesiedelt. Die sechs Gefangenenberichte wurden zeichengetreu
transkribiert,
Glättung von Zeichensetzung und Orthografie also vermieden. Die
Seitenumbrüche
und Folionummern der Originalmanuskripte sind in eckigen
Klammern vermerkt.
Besonderheiten, wie beispielsweise die Verwendung von roter
Tinte in Sturmers
Bericht, wurden kenntlich gemacht. Außerdem erleichtert ein
Index die Suche
nach Personen beziehungsweise Orten. Auf einen Anmerkungsapparat
wurde hingegen
verzichtet, was besonders die Lektüre des 1666 gedruckten
Berichts von Emanuel
Aranda, eines flämischen Adeligen, für Nichtexpert/innen
erschwert. Aranda
gebraucht beispielsweise zahlreiche militärische Wendungen, die
heute nicht mehr
geläufig sind („solche bravade machen“; „zum Succurs kommen“, S.
93, S. 97).
In Hinblick auf einen Einsatz der Edition in der universitären
Lehre ist es
etwas bedauerlich, dass die biographischen Skizzen in den
Kommentaren durchweg
zu knapp ausfallen. Im dreiseitigen Kommentar zu Hark Olufs
werden
beispielsweise dessen Lebensdaten nicht erwähnt, weshalb für
eine gründliche
Quellenerschließung zusätzlich Martin Rheinheimers Monographie
„Der fremde
Sohn“ konsultiert werden muss.[6] Auch die Lebensdaten der
„bayerischen
Wolffgang-Brüder“ (S. 17) sind nicht erwähnt. Wie dieses
Beispiel zeigt, fehlen
zudem valide Anmerkungen zu den Obrigkeiten der Gefangenen: Die
Brüder waren
als Bürger der Reichsstadt Augsburg keine Untertanen des
bayerischen
Kurfürsten. Ausführungen zu den Obrigkeiten wären jedoch nicht
zuletzt deshalb
wünschenswert gewesen, da diese – wie der Bericht Johann Michael
Kühns
anschaulich belegt – teilweise maßgeblich am Freikauf beteiligt
waren (S. 199).
Die Edition enthält 48 schwarz-weiß-Abbildungen. Die
Titelblätter der edierten
Berichte sind für deren Erschließung und Interpretation von
elementarer
Bedeutung. Einige weitere zeitgenössische Stiche, die an anderen
Stellen
eingearbeitet wurden und zu großen Teilen Dan Pierres „Historie
van Barbaryen“
(1684) entnommen sind, haben hingegen eher illustrativen
Charakter. Der
Böhlau-Verlag hat alle Abbildungen in sehr guter Qualität
wiedergegeben, indes
bei den Seitenzahlen zu wenig Sorgfalt walten lassen. In der
zweiten Hälfte des
Buches stimmen die Seitenzahlen nicht mehr mit den im
Inhaltsverzeichnis
vermerkten Seitenzahlen überein. Beispielsweise beginnt der
Kommentar zu Johann
Michael Kühn nicht wie im Inhaltsverzeichnis angegeben auf Seite
165, sondern
auf Seite 167.
Trotz dieser kleinen Monita wird die Edition in der
universitären Lehre
zweifelsohne vielfach und mit großem Gewinn eingesetzt werden.
Historiker/innen, die zu mediterraner Piraterie forschen, dürfen
sich übrigens
bereits auf Klarers nächste Quellenedition freuen, die
muslimische
Wahrnehmungen mediterraner Sklaverei in den Fokus rücken wird.[7]
Anmerkungen:
[1] Siehe exemplarisch Linda
Colley, Captives.
Britain, Empire and the World, 1600–1850, London 2002.
[2] Die Sonderausstellung
„Piraten und Sklaven
im Mittelmeer“ auf Schloss Ambras (Innsbruck, 20. Juni –
6.Oktober 2019)
besuchten 61.000 Besucher/innen.
[3] Siehe z.B. die
arte-Dokumentation „Die
Korsaren – Angriff der Menschenhändler“ aus dem Jahr 2015.
[4] Robert C. Davis taxiert die
Zahl der
europäischen Sklavinnen und Sklaven sogar mit „a million and
quite possibly as
many as a million and a quarter“. Robert C. Davis, Christian
Slaves, Muslim
Masters. White Slavery in the Mediterranean, the Barbary Coast,
and Italy,
1500–1800, Basingstoke 2003, S. 28.
[5] Mario Klarer (Hrsg),
Mediterranean Slavery
and World Literature. Captivity Genres from Cervantes to
Rousseau, London 2019.
[6] Martin Rheinheimer, Hark
Olufs' Wiederkehr
aus der Sklaverei, Nordfriesische Quellen und Studien, Band 3,
2. Aufl.,
Neumünster 2003.
[7] Mario Klarer (Hrsg.),
Piracy and Slavery in
the Early Modern Mediterranean. A Sourcebook of Arabic and
Ottoman Texts
[erscheint 2021].