Online-Workshop:
Lustration: Bürokratische Eigenlogik und politische
Regimewechsel im 20.
Jahrhundert
Veranstalter
Therese Garstenauer, Institut für Wirtschafts- und
Sozialgeschichte,
Universität Wien; Bernhard Gotto, Institut für Zeitgeschichte
München
1010 Wien
Land Austria
24.09.2020 - 25.09.2020
Von
Therese Garstenauer, Institut für Wirtschafts- und
Sozialgeschichte,
Universität Wien
Was passiert mit und in öffentlichen Verwaltungen bei
politischen
Regimewechseln? Wie wandelten sich unter dem Einfluss der
Lustrationen die von
administrativen Apparaten angewandten Routinen und
Anforderungen, um die
Systemloyalität ihrer Angehörigen zu gewährleisten? Auf welche
Weise „vergaßen“
Bürokratien Prozeduren, die als inkompatibel mit den neuen
politischen
Rahmenbedingungen angesehen wurden?
Lustration:
Bürokratische Eigenlogik und politische Regimewechsel im 20.
Jahrhundert
Ein
ausdifferenziertes, eng an die politische Führung gebundenes
Verwaltungssystem
war zugleich Kennzeichen, Voraussetzung und Ergebnis des Ausbaus
von staatlichen
Regelungsansprüchen über soziale, kulturelle und ökonomische
Prozesse im 19.
und 20. Jahrhundert. Eine loyale Beamtenschaft sorgte dafür,
dass politische
Steuerungsimpulse bis in die unteren Ebenen der solchermaßen
durchherrschten
Territorien durchdrangen. In Deutschland und Österreich war
dieser Staatsdienst
als ein besonderes Treueverhältnis konstruiert, das die
Übereinstimmung der
Beamten mit Zielen und Werthaltungen der Staatsführung
implizierte. Nach
politischen Regimewechseln wie 1918/19, 1933/38 und 1945 – zu
denken ist auch
an die Demokratisierungen in Portugal und Spanien in der zweiten
Hälfte der
1970er Jahre und an Ostmitteleuropa ab 1989/90 – wurden die
Verwaltungen
„Säuberungsprozeduren“ unterzogen, deren Ziel es war, den
Staatsapparat konform
zum neuen politischen System auszurichten. Das inkludierte im
Nationalsozialismus auch die „rassische“ Geeignetheit der
öffentlich
Bediensteten und deren Ehepartner_innen.
Diese „Lustrationen“ – hier verwendet als Überbegriff für die
Entfernung von
öffentlich Bediensteten aus ihren Positionen im Zusammenhang mit
politischen
Regimewechseln – stehen im Zentrum des Workshops. Unser Ziel ist
es, vor dem
Hintergrund des anhaltenden Booms von Forschungen über den
Umgang
bundesdeutscher Zentralbehörden mit der NS-Vergangenheit neue
Einsichten in die
Adaptionsmechanismen administrativer Apparate auf politische
Steuerungsimpulse
zu erhalten. Die ältere Forschung hat in erster Linie nach der
individuellen
Disposition und Motivation von Beamten gefragt, um zu erklären,
wie rasch die
Verwaltungen sich auf ein neues Regime einstellen konnten.
Phänomene wie
Selbstgleichschaltung nach 1933, Selbstviktimisierung und
Persilscheinkartelle
nach 1945 setzen auf dieser Ebene an. In dieser Perspektive
wird, um beim
bundesdeutschen Beispiel zu bleiben, die „Entnazifizierung“ als
der
gescheiterte Versuch angesehen, eine nachhaltige
Demokratisierung der
Verwaltung durch eine „Lustration“ zu erreichen. Für die auf
Österreich
bezogene Forschung kann ein solcher Boom aktuell nicht
konstatiert werden,
wiewohl es seit Dieter Stiefels grundlegenden Forschungen zur
Entnazifizierung
immer wieder Initiativen gab, insbesondere aus
regionalgeschichtlich-vergleichender Perspektive und mit Fokus
auf
Verwaltungseliten.
Mittlerweile wird die Überprüfung des öffentlichen Dienstes im
Rahmen von
postdiktatorischen vergangenheitspolitischen
Aufarbeitungsprozessen als ein
Teilgebiet der „transitional justice“ analysiert. Hinsichtlich
der Praktiken
und Instrumente lassen sich einige Ähnlichkeiten mit den
umgekehrten Prozessen
feststellen, also personalpolitischen Eingriffen in die
Verwaltung, die frisch
etablierte diktatorische Regime implementierten. In diesen
Rahmen bettet sich
der Workshop ein. Dabei rücken die Effekte in den Blick, welche
die Lustrationen
auf das verbliebene Personal hatten. Versteht man „Lustrationen“
als Teil eines
längerfristigen Prozesses, dann erscheint die oftmals
konstatierte hohe
personelle Kontinuität im administrativen Führungspersonal nach
Regimewechseln
in einem neuen Licht. Denn die vermeintlich „alten Eliten“ sind
dann nicht nur
als „politisch Belastete“ bzw. als Hemmschuh eines Wandels
anzusehen, sondern
auch als aktive Mitgestalter von administrativen
Anpassungsprozessen an neue
Rahmenbedingungen.
Die bürokratische Eigenlogik solcher Anpassungsleitungen bildet
einen
Schwerpunkt des Workshops: Statt „Säuberungen“ als
eindimensionalen Eingriff
„der Politik“ auf „die Verwaltung“ zu verstehen, fragen wir nach
der
Wechselwirkung zwischen Lustrationen und Verwaltungspraxis. Dies
gilt zum einen
für den Prozess der Säuberung selbst, deren Formen, Prozeduren
und Logiken auch
den Selbstbildern und Bedürfnissen der Verwaltungen entsprangen.
Welchen
Einfluss nahmen Verwaltungsapparate auf die Lustrationen, und
mit welchen
Strategien brachten sie diese Anforderungen mit genuin
administrativen
Notwendigkeiten in Einklang? Zum anderen sind mittel- und
langfristige Effekte
der Lustrationen auf die Verwaltungskultur von Interesse. In
diesem Sinne
sollen Verwaltungen als „lernende und verlernende
Organisationen“ (Wolfgang
Seibel) verstanden werden. Wie wandelten sich unter dem Einfluss
der
Lustrationen die von administrativen Apparaten angewandten
Routinen und
Anforderungen, um die Systemloyalität ihrer Angehörigen zu
gewährleisten?
Welche Konformitätsleistungen verstetigten sich, welche erwiesen
sich als
ephemeres Zugeständnis? Auf welche Weise „vergaßen“ Bürokratien
Prozeduren und
Routinen, die als inkompatibel mit den neuen politischen
Rahmenbedingungen
angesehen wurden?
Aufgrund der Pandemiesituation wird der Workshop virtuell
stattfinden.
Programm
Donnerstag,
24.9.2020
Beginn: 14:00
Begrüßung (Bernhard Gotto, Therese Garstenauer)
Panel 1 14:15 – 15:45 Chair: Bernhard Gotto
Gustavo Corni, Francesco Frizzera (Trento): Transition in der
Agrarpolitik. Vom
Kaiserreich zur Republik 1918/1919
Karin Schneider, Gabriele Kaiser (Wien): Von Kontinuitäten und
Brüchen: Die
Kanzlei des Nationalrats in den Gründungsjahren der Ersten
Republik
Pause 15:45 – 16:15
Panel 2 16:15 – 17:15 Chair: Therese Garstenauer
Václav Šmidrkal (Prag): Stabilität vor Gerechtigkeit.
„Entösterreicherung“,
Nationalisierung und Lustration des Offizierskorps in der
Tschechoslowakei nach
1918
Julia Bavouzet (Paris/Wien): „I won’t back away from the white
terror!“
Political cleansing in the Hungarian counterrevolutionary regime
(1918-1920)
Dominik Schmoll (Saarbrücken): „Une annexion déguisée?
Frankreich und die Saar
1918-1920“
Pause 17:15 – 17:30
Schlussdiskussion Tag 1: 17.30 – 18.00
Freitag, 25.9.2020
Panel 3 9:15 – 10:45
Chair: Haydée Mareike Haass (München)
Lena Werner (München): Die bürokratische Biografie:
Systemtransformationen,
Personalaktenpraxis und Identitäten im Bayerischen
Staatsministerium der Justiz
Darren O’Byrne (Cambridge): „Selbstgleichschaltung“ als typische
bürokratische
Reaktion auf Staatsformwechsel in Deutschland
Bernhard Gotto (München): Verfassung vergeht, Verwaltung
besteht? Lustrationen
im Bayerischen Staatsministerium der Finanzen zwischen 1919 und
1949
Pause 10:45 – 11:15
Panel 4 11:15 – 12.30
Chair: Haydée Mareike Haass (München)
Therese Garstenauer (Wien): Eine Auswertung der Bescheide
aufgrund der
Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums
Lena Pedersen (München): Ludwig III. im nationalsozialistischen
Rathaus
Joachim Förster (Berlin): Lustration and the Process of Vetting
in Democratic
Transition Guide, The German Experience
Pause 12.30 – 12.45
Abschlussdiskussion 12.45 – 13.15
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