Am Auschwitz-Gedenktag berichtet Historiker Paul über die
Verschleppung der
Saar-Juden durch die Nazis nach Gurs
23. Januar 2020 um 19:04 Uhr 5 Minuten
Historiker und Schüler gestalten Gedenkveranstaltung im Landtag :
Wie die Nazis
die Saar-Juden verschleppten
Saarbrücken Am Auschwitz-Gedenktag am Montag erinnert Historiker
Roland Paul im
Landtag an die Deportation der Saar-Juden ins südfranzösische
Gurs.
Von Dietmar
Klostermann
Stellvertretender Leiter Landespolitik/Region/Kultur
Vor 75 Jahren ist einer der schrecklichsten Orte auf der Erde von
der Roten
Armee der Sowjetunion befreit worden: Am 27. Januar trafen die
Einheiten der
322. Infanteriedivision noch auf etwa 7000 verhungernde Menschen,
die die SS
zurückgelassen hatte. In den Jahren seit 1941 hatten die
Nationalsozialisten in
dem Konzentrationslager in Polen bis zu 1,5 Millionen Menschen
bestialisch und
industriell ermordet. Die meisten von ihnen waren Juden aus den
von den
Deutschen besetzten Staaten Europas und wurden von der SS mit dem
Gas Zyklon B
umgebracht.
Am internationalen Auschwitz-Gedenktag am kommenden Montag, 27.
Januar, wird im
Saar-Landtag eine besondere Gedenkstunde stattfinden. Wie die
Landeszentrale
für politische Bildung und die Landtagsverwaltung mitteilten, wird
der
Historiker Roland Paul einen Vortrag halten, der sich mit der so
genannten
„Wagner-Bürckel-Aktion“ der Nazis vom Oktober 1940 beschäftige. Im
Oktober 1940
waren die jüdischen Bürger des Saarlands, der Pfalz und Badens von
SS, Gestapo
und regulärer Polizei mit Gewalt aus ihren Häusern und Wohnungen
geholt worden.
Sie wurden in Züge gesetzt, die in Frankreichs Süden fuhren. In
Gurs nahe Pau
an den Pyrenäen wurden die Menschen in ein Lager gezwungen, das
unter dem
Regime der faschistischen Vichy-Regierung des französischen Helden
des Ersten
Weltkriegs, Marschall Philippe Pétain, stand, der mit Adolf Hitler
nach der
Niederlage Frankreichs im Mai 1940 zusammenarbeitete (Stichwort
„Kollaboration“).
Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Landtag
beginnt am
Montag, 27. Januar, um 15 Uhr. Zuvor legt Landtagsprsäident
Stephan Toscani um
14 Uhr an der Gedenkstätte „Gestapo-Lager Neue Bremm“ einen Kranz
nieder. Bei
der Gedenkveranstaltung werden Schüler der Stolperstein-AG der
Gemeinschaftsschule Nohfelden-Türkismühle das jüdische Leben in
ihrer Gemeinde
auf Schautafeln zeigen. Schüler des Hochwald-Gymnasiums Wadern
tragen einen
fiktiven Dialog zwischen einem Großvater und einem Enkel vor, die
über die
Deportation von Gurs nach Auschwitz sprechen. Schüler des
Geschwister-Scholl-Gymnasiums Lebach wollen Steine „zum Sprechen“
bringen.
„Ich bin mehrmals im Archiv in Pau gewesen, wo die Akten des
Lagers Gurs
untergebracht sind“, sagte Paul, 68, der bis 2016 Direktor des
Instituts für
pfälzische Geschichte und Volkskunde war. Paul hatte bereits 2017
eine Arbeit
mit dem Titel „Pfälzer Juden und ihre Deportation nach Gurs.
Schicksale
zwischen 1940 und 1945. Biographische Dokumentation“
veröffentlicht. Diese
Aufgabe übernimmt Paul jetzt auch im Auftrag des
Saar-Kultusministeriums und
der Landeszentrale für politische Bildung, wie deren Leiter Erik
Harms-Immand
der SZ erklärte. Der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft
Erinnerungsarbeit im Saarland, der evangelische Kirchenrat
Frank-Matthias
Hofmann, erklärte, er habe den Kontakt zu Paul hergestellt.
Paul sagte, dass seine Recherchen im Archiv von Pau bisher ergeben
hätten, dass
die bisherigen Zahlen, wie viele Saar-Juden nach Gurs verschleppt
worden seien,
überprüft werden müssten. Nach einer Gestapo-Liste seien es 134,
nach Angaben
des Ex-Chefs der Saar-Landesarchivs Professor Hans-Walter Hermann
aus den
1990er Jahren seien es 145 gewesen. „Doch ich habe festgestellt,
dass
Saar-Juden nicht nur durch die Wagner-Bürckel-Aktion nach Gurs
deportiert
worden sind“, sagte Paul. Der NS-Gauleiter des Gaus Saarpfalz,
Josef Bürckel,
und der Gau-Leiter von Baden, Robert Wagner, hatten die
Deportation aus ihren Gebieten
gemeinsam im Oktober 1940 befohlen. Bürckel „meldete“ danach an
Hitler: „Die
Saar ist jetzt judenfrei!“
Doch viele Saar-Juden seien bereits Jahre zuvor geflohen. Nach der
Saar-Abstimmung am 13. Januar 1935, bei der 90,8 Prozent der
Saarländer für den
Beitritt zu Hitler-Deutschland votierten (Schlachtruf: „Heim ins
Reich!“),
hätten viele der damals mehr als 3000 jüdischen Mitbürger die
Möglichkeit
genutzt, die der Saarbrücker Rabbiner Schlomo Friedrich Rülf durch
das
„Römische Abkommen“ mit dem Völkerbund erzielt habe, wie Paul
erklärte. Diese
saarländischen Juden konnten bis Februar 1936 das Saarland
verlassen, das
bereits von den Nazis regiert wurde. „Viele derjenigen, die nach
Frankreich
gegangen waren, wurden vom Vichy-Regime 1940 als so genannte
unerwünschte
Ausländer verfolgt und ebenfalls ins Lager Gurs verschleppt“,
sagte Paul.
Deshalb sei eine exakte Zahl der in Gurs unter miserablen
Bedingungen
festgehaltenen Saar-Juden noch nicht zu nennen.
Für viele der Saar-Juden
war jedoch Gurs
nur eine Zwischenstation, eine Art Vorhölle. Denn nach der
Berliner
Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 entschieden die Nazis, alle
Juden, derer
sie habhaft werden konnten, zu ermorden. Das Vichy-Regime half
dabei kräftig
mit und organisierte Züge, die über das Sammellager Paris-Drancy
etwa 65 000
französische Juden nach Auschwitz
transportierten.
In einem dieser Züge, die aus Viehwaggons bestanden, saß der
damals eineinhalb
Jahre alte Richard Bermann. Der heutige Vorsitzende der
Synagogengemeinde Saar
berichtete der SZ, wie er als Kleinkind zusammen mit seiner Mutter
von Soldaten
des Vichy-Regimes aus der Wohnung in Dijon zwangsweise
herausgeholt und ins
Lager Gurs gebracht wurde. Seine Eltern waren aus dem Saarland
nach 1935
geflohen und hatten sich in Dijon als Franzosen „naturalisieren“
lassen.
Bermanns Vater konnte vor dem Zugriff der Schergen Pétains fliehen
und habe
sich dem französischen Widerstand angeschlossen. „Meine Mutter und
ich hatten
dann unglaubliches Glück“, erzählte Bermann. Denn nach vier
Monaten in Gurs
wurden viele der Insassen in Viehwaggons gepfercht, der Zug ging
Richtung
Drancy, Zwischenstation vor dem KZ Auschwitz. „Plötzlich hielt der
Zug auf
freier Strecke abrupt an. Einigen der Frauen gelang es, den Hebel
der
Schiebetür aufzudrücken. Und meine Mutter sprang mit mir aus dem
Waggon in die Nacht“,
berichtete Bermann. In einem Versteck bei Castres/Tarn hätten sie
die Zeit der
Verfolgung in Frankreich überleben können, ebenso wie der Vater,
der sich
später der freien Armee Frankreichs von General Charles de Gaulle
angeschlossen
habe. „Aber 27 meiner Familienmitglieder sind von den Nazis in
Auschwitz und
Sobibor ermordet worden“, sagte Bermann. Ein Cousin von ihm sei
erst drei
Monate alt gewesen, als er mit seiner Mutter in der Gaskammer
umgebracht worden
sei.
Derzeit bereitet die Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ in
Berlin eine
Ausstellung vor, die am 22. Oktober 2020, 80 Jahre nach der
Verschleppung der
Juden nach Gurs, die Schicksale der Opfer und den Lager-Alltag
darstellen
werde. Im Auftrag der Kultusministerin Christine Streichert-Clivot
(SPD)
koordiniere die Landeszentrale dieses Projekt.