Der gedachte Krieg. Vom Wandel der Kriegsbilder
in der
militärischen Führung der Bundeswehr im Zeitalter des
Ost-West-Konflikts
Autor Reichenberger, Florian
Reihe Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik
Deutschland 13
Erschienen Berlin 2018: De
Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten XI, 498 S.
Preis € 49,95
ISBN 978-3-11-046260-9
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und
Konfliktforschung bei
H-Soz-Kult von Sebastian Rojek, Historisches Institut, Universität
Stuttgart
Die Bundeswehr befindet sich seit Jahren in einem
Transformationsprozess, der
auch damit zusammenhängt, dass die Streitkräfte sich auf neue
Aufgaben
einstellen müssen. Auf welche Einsätze soll die Truppe zukünftig
ausgerichtet
werden? Es ist augenscheinlich, dass viele der Probleme, mit denen
die
Bundeswehr derzeit konfrontiert ist, mit gewandelten
Herausforderungen nach dem
Ende des Ost-West-Konflikts in Verbindung stehen.
Florian Reichenberger greift in seiner gelungenen Potsdamer
Dissertation
gewissermaßen diese aktuelle Frage auf und historisiert sie. Er
fragt danach,
inwiefern der Krieg „als Vorstellung einer möglichen Zukunft, als
Erwartungshorizont“ (S. 4) in der Bundeswehr von 1955 bis 1990
entworfen worden
ist. Innerhalb dieser Fragestellung ergeben sich weitere
Fragenkomplexe, die
sich darauf richten, zu eruieren, inwiefern überhaupt von einem
einheitlichen
Kriegsbild gesprochen werden könne, wie und warum sich die
jeweiligen
Vorstellungen während des „Kalten Kriegs“ wandelten und welche
Kontinuitäten
und Brüche sich innerhalb dieses Prozesses nachweisen lassen. Der
Schwerpunkt
der Studie liegt dabei auf dem Zeitraum von 1945 bis 1990,
wenngleich ein
längeres Kapitel die Vorgeschichte entsprechender
Zukunftsvorstellungen seit
der Reichsgründung in den Blick nimmt. So wird es möglich,
längerfristige
Entwicklungen aufzuzeigen, zumal die Kriegsbilder nach dem Zweiten
Weltkrieg ja
nicht im luftleeren Raum entstanden sind. Insgesamt reiht sich die
Untersuchung
in die zeithistorische Erforschung des deutschen Militärs ein, die
nun schon
seit einigen Jahren insbesondere am Zentrum für Militärgeschichte
und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr betrieben wird. Mit seiner
kulturhistorisch
orientierten Studie bereichert der Autor dieses Forschungsfeld,
indem er zeigt,
dass sich durch das Prisma des Kriegsbildes eine Vielzahl von
Beeinflussungsfaktoren einfangen lassen. Denn Kriegsbilder, so
macht die Studie
immer wieder transparent, entstehen keineswegs allein aus
strategischen oder
operativen Überlegungen unter Berücksichtigung der potentiellen
eigenen und
gegnerischen Kräfte. Vielmehr liegen sie im Zentrum eines
komplexen Geflechts
unterschiedlicher Bedingungsfaktoren aus technischen
Entwicklungen,
geographischen Gegebenheiten, innen- und außenpolitischen
Konstellationen sowie
– nicht zuletzt – den Eigeninteressen der militärischen
Institution und ihrer
Teilstreitkräfte.
Um sein Untersuchungsfeld sinnvoll einzugrenzen, beschränkt sich
Reichenberger
darauf, „das maßgebliche militärische Spitzenpersonal der
Organisation
Bundeswehr“ (S. 7) ins Zentrum der Analyse zu rücken. In Kultur
und
Gesellschaft kursierende Vorstellungen über den nächsten Krieg
bleiben also
weitgehend außen vor, beziehungsweise werden nur insofern
berücksichtigt, als
sie in die Überlegungen der professionellen Militärs eingegangen
sind. Die
Quellenlage kann insgesamt als günstig bezeichnet werden, zumal es
dem Autor
gelungen ist, zahlreiche Akten für die Zeit nach 1970 erstmals
freigeben zu
lassen und damit der Forschung zugänglich zu machen.
Was aber bietet das Buch nun im Einzelnen? Nach einer längeren
Einleitung, in
der die Fragestellung umrissen sowie Forschungsstand, Quellenlage
und Methodik
offengelegt werden, reflektiert der Verfasser eingehend über den
Begriff des
Kriegsbildes. Ein kurzer historisch-semantischer Abriss enthüllt
die
unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs, der erst nach
1945 die
dominante Bedeutung als „hypothetisches Konstrukt im Sinne einer
Vorstellung
von einem gegenwärtig oder zukünftig möglichen Krieg“ (S. 35)
annahm. In
analytischer Hinsicht existieren bisher nur einige wenige
Definitionsangebote,
da ein Großteil der Literatur, der zudem dem Zeitalter der
Weltkriege gewidmet
ist, den Begriff ohne klare Abgrenzung verwendet. Deshalb wartet
Reichenberger
mit einer eigenen Definition auf, wonach unter einem Kriegsbild
„eine
Grundvorstellung vom Wesen eines zukünftig möglichen Krieges, das
heißt von
dessen Erscheinungsformen sowie von den Zwecken, den
Möglichkeiten, den
Mitteln, der Ausdehnung, der Intensität und den Auswirkungen der
Kriegführung“
(S. 50) zu verstehen sei. Mit dieser Begriffsbestimmung wird man
sich wohl
einverstanden erklären können, zumal sie dem impliziten
Verständnis, das bisher
in der Forschung vorherrschte, weitgehend entsprechen dürfte.
Im Hauptteil seiner Arbeit folgt der Verfasser vorwiegend
chronologisch der
Entwicklung der Kriegsbilder. Das erste inhaltliche Kapitel zu den
Kriegsbildern innerhalb des Großen Generalstabs, der Marine sowie
der Luftwaffe
des Deutschen Reiches stützt sich dabei zum großen Teil auf die
bestehende
Forschung, während der Teil zur Bundeswehr dicht an den
archivalischen Quellen
entlang erzählt wird. Jenseits aller empirischen Ergebnisse zeigt
die Studie
vor allem auf, in welch starkem Maße die jeweils vertretenen
Kriegsbilder von
ihrem Kontext und nicht zuletzt auch von den Erfahrungen der
Personen abhängig
waren, die sie vertraten. Während in der Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg durchaus
„Wunschvorstellungen unter Idealbedingungen“ (S. 84) die Planungen
dominierten,
habe sich kurz vor und in der Frühphase des Zweiten Weltkriegs ein
realistischeres Bild entwickelt (S. 114, 423f.). Die frühen
Akteure der
nachherigen Bundeswehr – insbesondere Adolf Heusinger und Hans
Speidel – waren
in starkem Maße durch diese Kriegserfahrungen und -leitbilder des
Zeitalters
der Weltkriege geprägt. Von daher dominierten in den frühen
Planungskonzepten
zu einem eigenen deutschen Verteidigungsbeitrag in einem möglichen
dritten
Weltkrieg zunächst die Kontinuitäten, die auch durch die
Entwicklung von
Atomwaffen kaum erschüttert wurden. Im Zentrum stand bis Mitte der
1950er-Jahre
das Bild eines weitgehend konventionell geführten Krieges, in dem
der deutsche
Beitrag als entscheidend dargestellt wurde, um gegen die
Sowjetunion gewinnen
zu können. Dieses Kriegsbild erwies sich als „ein auf die
Bedürfnisse Adenauers
zurechtgeschnittenes politisches Programm“ (S. 143). Die
anschließend
vorherrschende düstere Aussicht eines allgemeinen Nuklearkrieges
wurde erst ab
1965 überwunden, als der neue Generalinspekteur Heinz Trettner
sein Amt antrat.
Er hielt ausgehend von Impulsen seitens der Kennedy-Regierung
einen begrenzten
Krieg für wahrscheinlich. Nun begann eine „Rekonventionalisierung“
(S. 428) der
Kriegsbilder, die bis Ende der 1970er-Jahre vorherrschte. Seitdem
schlugen sich
neuere technologische Entwicklungen, insbesondere die
Mikroelektronik, immer
stärker in den Zukunftsvorstellungen nieder. Interessanterweise
lässt sich an
diesem Wandel in den 1980er-Jahren ablesen, dass die
Rüstungsspirale zwischen
Ost und West einen Punkt erreicht hatte, an dem die ökonomische
und
technologische Leistungsfähigkeit der Sowjetunion nicht mehr
mithalten konnte.
Tatsächlich macht Reichenberger im Verlauf seiner Untersuchung
immer wieder
deutlich, dass die jeweiligen Akteure ihre propagierten
Kriegsvorstellungen an
politische Interessen anpassten (z.B. S. 149, 151, 165, 172, 297).
Ähnliches
gilt für die verfolgten Strategien (z.B. S. 243). Dabei zeigt
sich, dass die
Bundeswehr kein „monolithischer Block“ (S. 297) war, sondern dass
durchaus
unterschiedliche Entwürfe existierten, die sich auch an den
Interessen der
jeweiligen Teilstreitkräfte ausrichteten, die danach strebten,
„selbst die
Königsrolle im Krieg der Zukunft“ (S. 236) zu übernehmen. Die
unterschiedliche
Führungskultur und das jeweilige Rollenverständnis sorgten dafür,
dass die
Luftwaffe eher technisch dachte, während das Heer
taktisch-operative Ansätze
bevorzugte und die Marine am Leitbild des unabhängigen
Schiffskommandanten
festhielt. Hier arbeitet der Autor klar heraus, dass Kriegsbilder
intern „nicht
nur Streitobjekte, sondern Streitmittel“ (S. 425) waren, denen
international
wiederum eine „Drohfunktion“ (S. 399) zukam, die der Abschreckung
dienen
sollte.
Im Ergebnis hat Florian Reichenberger eine gründliche Untersuchung
vorgelegt,
die gut lesbar und klar organisiert ist. Zum Abschluss wagt der
Autor noch
einen Ausblick auf die Zeit nach 1990 und zeichnet nach, dass die
komplexe und
dynamische Sicherheitslage, der die Streitkräfte gegenwärtig
gegenüberstehen,
dazu geführt habe, dass im Grunde kein dominierendes Kriegsbild
mehr erkennbar
sei oder entwickelt werde. Parallel dazu zeichnen sich ganz neue
Dimensionen
der Auseinandersetzung ab, die sich immer weiter von einem
konventionellen
Krieg entfernen (Cyberkriege). Neben dem Gewinn, den das Buch für
die
Geschichte der Bundeswehr, des Ost-West-Konflikts und der
militärischen
Ideengeschichte darstellt, vermag es auch der aktuellen Debatte
Impulse zu
vermitteln, die gegenwärtig entworfenen Szenarien kritisch zu
hinterfragen und
diejenigen Bedingungsfaktoren zu reflektieren, die Reichenberger
für den Wandel
der älteren Kriegsbilder identifiziert hat.
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