Operative
Porträts.
Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis
Facebook
von Roland Meyer
Erschienen Konstanz 2019: Konstanz
University Press – KUP
Umfang 468 S., 85 Abb.
Preis € 39,00
ISBN 978-3-8353-9113-0
Inhalt http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/toc_30341.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Valentin
Groebner, Historisches Seminar, Universität Luzern
Das menschliche Gesicht, so lässt sich die lesenswerte Studie
des Kunst- und
Medienwissenschaftlers Roland Meyer bilanzieren, kann einfach
zuviel. Es
produziert ununterbrochen Bedeutungsüberschüsse, weil es sich
bewegt; weil es
anderen Leuten zulächelt oder ihnen Grimassen schneidet, sie
anlocken oder
abwehren möchte. So nützlich diese Gesichtsausdrücke im Alltag
sind, sie
verwandeln sich, sobald ein Gesicht seinen Besitzer
zweifelsfrei erkennbar
machen soll, in störendes Rauschen. Damit es präzise erfasst,
mit anderen
verglichen und in Datenbanken eingespeist werden kann, muss
der größte Teil
dessen, was ein Gesicht ist und tut, zum Verschwinden gebracht
werden: reduziert,
stillgestellt, herausgerechnet.
Denn Identifizierung, definiert Meyer, heißt die Produktion
von
Unterscheidbarkeit vor dem Horizont massenhafter
Vergleichbarkeit. Auf dieser
technischen Leistung des 19. Jahrhunderts, so die Grundthese
des Buchs, beruhen
alle heute eingesetzten Technologien. Das digital erfasste
Gesicht diene dabei
als Link zwischen on- und offline-Welt: Von einem (in
Zahlen
verwandelten oder mit Zahlen angereicherten) Bild als
Informationsträger werde
auf den dazugehörigen materiellen Körper zurückgegriffen.
In seinen vier Hauptkapiteln stellt Meyer jeweils einen dafür
typischen
technischen Begriff ins Zentrum: (Foto-)Album und Archiv,
Serialität und
Datenbank. Der Zugriff des ersten Abschnitts auf die
Bildermacher des späten
18. und frühen 19. Jahrhunderts ist dabei bewusst
anachronistisch. Meyer will
Johann Caspar Lavater (1741–1801) und André Adolphe-Eugène
Disdéri (1819–1889)
nicht als Autoren oder Künstler, sondern als „Logistiker“ und
Medienunternehmer
untersuchen. An vielen Stellen ist das sehr einleuchtend. Wenn
man Porträts zu
Erkennungszwecken als „mobile immutables“ einsetzen wollte,
musste man ihnen
standardisierte Formate geben. „Der angebliche Verlust der
Aura“, schreibt
Meyer über die Massenproduktion der fotografischen Porträts
der 1860er-Jahre,
„heißt nichts anderes als die Steigerung der Verfügbarkeit.“
(S. 68) Die
Kriminalanthropologie von Cesare Lombroso (1835–1909) und
Francis Galton
(1822–1911) fasst er als „Verdatung individueller Körper in
der Logik der
großen Zahl“, die „Datenmassen“ erzeugt und eine „prinzipiell
unabschließbare
Flut der Datenerfassung“ in Gang gesetzt habe (S. 93, S. 104).
Überzeugend sind auch Meyers Hinweise auf die Querverbindungen
dieser
Erfassungsprojekte zur Eugenik als Steuerungsversprechen.
Galtons
Kompositporträts sollten Familienähnlichkeiten demonstrieren;
gleichzeitig warb
ihr Erfinder 1882 für die Einrichtung anthropometrischer
Labore. „Messen heißt
Vergleichen“, lautete der Slogan, der Galtons Projekte ebenso
griffig
zusammenfasste wie diejenige des Pariser Biometrikers Alphonse
Bertillon
(1853–1914). Dessen erste Publikation aus demselben Jahr 1882,
noch
vermeintlich urtümlichen „wilden Rassen“ in Übersee gewidmet,
kombinierte
bereits Profil- und En-face-Fotos. Die Übergänge von
den Alben zu den
Archiven waren dabei fließend. Der biologische Körper erhielt
einen Datenkörper
als Double, der erst in Relation zu Massendaten anderer Körper
lesbar wurde. In
diesem Kontext ging es nie nur um isolierte Bilder:
Fotografien wurden in
Aufschreibeprozesse eingebettet, deren Zentrum nicht die
Kamera, sondern der
Aktenschrank war.
Dasselbe geschah mit jenen individuellen Mustern auf der Haut
der Fingerkuppen,
die an der Wende zum 20. Jahrhundert zum neuen Goldstandard
der polizeilichen
Identifikation aufstiegen. Am Beispiel der Daktyloskopie kann
Meyer nicht nur
die Verbindung der Identifikationstechnologien zu
Kolonialpolitik und
Abstammungslehren zeigen, sondern auch zu Statistik und
Mustererkennung. Eine
Physiognomik der Fingerabdrücke wurde zwar versucht,
scheiterte aber rasch.
Fingerabdrücke haben keine Botschaft: Sie sind
„Verteilungsmuster isolierter,
abzählbarer, an sich bedeutungsloser Differenzen“ (S. 180).
Die Abschnitte zur
Mustererkennung und zur Ausweitung der Identifizierbarkeit
durch neue
Medientechnologien gehören zu den überzeugendsten Kapiteln von
Meyers Buch.
Angesichts extrem schneller grenzüberschreitender Technologien
sahen
Zeitgenossen 1925 „Radio, Marconigramm und Telephoto“ als
Vorboten einer
kommenden „Weltgemeinschaft“.[1] Ein Skeptiker wie
jener aus Deutschland
nach Mexiko geflüchtete Schriftsteller, den Leser von
Abenteuerromanen unter
seinem Pseudonym „B. Traven“ kennen, war sich 1926 dagegen
sicher, der Krieg
sei nur geführt worden, „damit man in jedem Land nach seiner
Seemannskarte oder
seinem Pass gefragt werden kann“ (S. 207).
Wie passt das genau zu einer „Krise der Ähnlichkeit“, die
Meyer um 1900
ansiedelt und im darauf folgenden Kapitel an ganz anderen
Autoren – Ernst Mach,
Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil – festmachen möchte?
Seine Verknüpfung
der Verlustgeschichte des Einzigartigen angesichts der
„Gleichförmigkeit der
Welt“, die Stefan Zweig 1925 beklagt hat, mit der medialen
Explosion der
vervielfältigten Porträtfotos durch Massenpresse und Kino
scheint mir nur
teilweise gelungen zu sein. Das Kapitel „Serialität“ gibt die
komplexen
Wechselwirkungen zwischen gemalten und fotografischen Porträts
der 1920er- und
1930er-Jahre lediglich verkürzt und in Bruchstücken wieder;
die Abschnitte zu
Alexander Rodtschenko und August Sander wirken eher
willkürlich ausgewählt.
Wäre es nicht naheliegender gewesen, die verwickelte Tarnungs-
und
Identifikationsgeschichte des angeblichen B. Traven genauer
aufzurollen?
So gern ich das direkt anschließende Kapitel zu den
Vervielfältigungs- und Medienpraktiken
in Andy Warhols „Factory“ der 1960er-Jahre gelesen habe, so
problematisch
erscheint mir aus historischer Sicht Meyers nahtlose Anbindung
dieser Episode
aus der Geschichte der Popkultur an das, was er „die
fortlaufende Performance
des Selbst in mediatisierten Räumen des Vergleichs“ und
„unabschließbare
Kreisläufe der Bewertung, Auswertung und Verwertung“ (S. 318)
nennt – die Social
Media der unmittelbaren Gegenwart. Gelingt diese
Verbindung wirklich in
einem Sprung und ohne eine Geschichte dessen, was Hans Belting
und andere die
Allgegenwart und „Unentrinnbarkeit“ des farbigen
fotografischen Porträts in der
medialen Alltagspraxis seit dem letzten Drittel des 20.
Jahrhunderts genannt
haben?
Überzeugend dagegen ist Meyers Beobachtung zur
Gesichtserkennung qua Computer,
dass praxisuntaugliche Technologien trotz schwerer
Funktionsmängel problemlos
Überwachungs- und Kontrollfantasien in der
Unterhaltungsindustrie erzeugt
haben. In den 1990er-Jahren konnten – wie schon in den
1920er-Jahren –
kriminalistische Praktiken starke Echo-Effekte in Popkultur
und Alltag
erzeugen. Meyer liefert dazu eine ganze Reihe schöner
Fundstücke, von der
berühmten Gegenüberstellung der verhafteten Ulrike Meinhof
1972 und der Logik
der Fahndungsplakate bis zur Beobachtung, dass der Chef des
Bundeskriminalamts
seinen Begriff der „Logistik“ direkt aus den Schriften der
Roten Armee Fraktion
übernommen habe (daraufhin stellte die RAF ihre Taktiken
gründlich um, wie
vorher schon ihre Frisuren). An anderen Stellen, etwa im
Abschnitt über die
Einführung neuer Identifikationstechniken nach den Anschlägen
vom September
2001, erscheint mir die Dokumentation dagegen sehr knapp; hier
hätte ich mir
mehr Kontext und juristischen Hintergrund gewünscht.
Aber wahrscheinlich ist es schlicht unmöglich, eine Geschichte
der
Gesichtserkennung zwischen dem 18. Jahrhundert und der
Gegenwart zu schreiben,
die keine Lücken aufweist; dafür ist der untersuchte Zeitraum
zu groß und die
bereits vorhandene wissenschaftliche Literatur zu umfangreich.
Meyers Studie,
als Doktorarbeit an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung
in Karlsruhe
entstanden, liefert einen originellen und materialreichen
Durchgang durch
mehrere Forschungsfelder gleichzeitig und wird zweifellos
weitere Arbeiten
inspirieren. Irritiert hat mich allerdings seine teleologische
Ausrichtung auf
die Social Media der Gegenwart. Wer von „operativen
Porträts“ und
„Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook“ schreibt,
suggeriert kohärente
Entwicklungslogiken. Sind aus aktuellen Phänomenen digitaler
Datenvernetzung zu
kommerziellen Zwecken deren Vorformen tatsächlich vollständig
zu erschließen –
oder auch umgekehrt? Wo liegen die Parallelen, wo die
Widersprüche zwischen
polizeilicher Identifikation und Praktiken privater
Selbstdarstellung? Und wo ist
das eugenische Dispositiv hingewandert, das über 150 Jahre
hinweg so starke
Wirkungen entfaltet hat?
Roland Meyer gelingt es mit seinem Buch, aus klassischen und
gut bekannten
Texten – von Lavater und Galton bis zu Bertillon und Horst
Herold – durch
Kontextualisierung und findige Rekombination neue Einsichten
zu gewinnen. Im
Schlusskapitel präsentiert er allerdings Gilles Deleuzes und
Félix Guattaris
berühmten Text über die „Erschaffung des Gesichts“ und Roland
Barthes' „Helle
Kammer“, beide 1980 im Druck erschienen, auf ganz andere
Weise. Er präsentiert
sie als Universalschlüssel für die Interpretation all jener
Technologien, die
moderne Individualitäten erzeugt haben; als zeitlose
Interpretationsinstrumente
von universeller, sozusagen kanonischer Brauchbarkeit. Haben
diese Texte, im
Unterschied zu jenen von Lavater, Galton und Herold, denn
wirklich keine
historischen Entstehungsumstände, Einflüsse und
Wirkungsbedingungen?
Anmerkung:
[1] Ein „Marconigramm“ war
ein per Funk übermitteltes
Telegramm, benannt nach dessen Erfinder Guglielmo Marconi
(1874–1937).
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