Monatsdigest

[Regionalforum-Saar] Über den Wendelskuchentag

Date: 2019/07/01 23:09:10
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Guten Abend,

am 5ten Juli - nächsten Freitag - ist Wendelskuchentag. Dazu habe ich ein paar Brocken Hirnschmalz rotieren lassen und ein paar hübsche Bildchen eingebaut.
Das Ergebnis findet Ihr auf http://www.hfrg.de/index.php?id=830

Ist zu lang, um's über die Liste zu schicken. Und die Bildchen mag die Liste eh nicht.
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Mit freundlichen Grüßen

Roland Geiger

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Roland Geiger
Historische Forschung
Alsfassener Straße 17, 66606 St. Wendel
Tel. 06851-3166
email alsfassen(a)web.de
www.hfrg.de

[Regionalforum-Saar] für morgen

Date: 2019/07/04 13:22:39
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Der Wendelskuchentag

 

         „Am 5. Juli ist der Wendelskuchentag. Für diesen Tag backen St. Wendeler Hausfrauen kleine Brote, die sie mit zur Kirche nehmen, wo sie neben dem Hochaltar hingestellt werden. Nach dem Hochamt segnet der Priester die Brote, und die Leute nehmen sie wieder mit nach Hause. Dieser fromme Brauch erinnert an die Übertragung der Gebeine des hl. Wendelinus im Jahre 1360 aus der Magdalenenkapelle in das damals fertiggestellte Chor der Pfarrkirche. Von der Zeit an ließ der Kirchenvorstand jährlich hunderte Brötchen backen und unter das Volk als „St. Wendels Kuchen“ verteilen. Als in der Franzosenzeit 1793 die Kirche viele Einkünfte verlor, konnten keine Brötchen mehr ausgeteilt werden. Aber die Leute brachten nun selbst Brote und Kuchen und ließen sie segnen, und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag.“

       So ähnlich beschreibt es Nikolaus Obertreis im Jahre 1927. Die Geschichte stimmt plus-minus bis auf ein Detail: der Chor der Pfarrkirche war damals noch nicht fertiggestellt.

 

       Ein Jesuit namens Christoph Brower hat in einem 1670 posthum veröffentlichten Buch geschrieben, dass Bischof Boemund von Trier und seine Nachfolger seinerzeit mit den St. Wendeler Bürgern eine neue Kirche gebaut habe und dass diese im achten Jahr von Papst Innozenz (= 1360) eingeweiht worden sei. Tatsächlich wissen wir aus modernen Untersuchungen der Eichenbalken im Gebälk der Wendelsbasilika, dass der Chor frühestens 1413 und das Schiff frühestens 1456 fertig geworden sind.

       Was aber ist 1360 geschehen? Bischof Balduin hat in den späten 1320ern einen Großteil der Stadt gekauft, aber nicht die Kirche. Sein Ziel war u.a. eine Aufwertung der Stadt. Er starb 1353, und sein Nachfolger Boemund begann mit dem Neubau der Kirche. Neubau - also stand dort früher eine andere Kirche. Die sah aus wie ein T. Der Balken oben war das Westwerk, auf dem heute die Türme stehen. Der lange Balken war das Kirchenschiff, viel schmaler als das heutige (ungefähr innerhalb des Säulengangs). Es reichte bis zum heutigen Altar, wo der Chor beginnt. Dort schloß wohl eine kleine Apsis das Schiff. Die Reliquie stand irgendwo in der Kirche.

       Die Baumaßnahmen begannen: Zuerst fiel die Apsis (die im Weg war). Damit war das Kircheninnere im Osten „offen“. Die Reliquie wurde in die Krypta der Magdalenenkapelle verlegt, denn die Wallfahrt mußte weitergehen - man brauchte Geld für den Kirchenbau. Nun begann der Bau des Chors, der um 1420 vollendet wurde. Dann fiel das alte Schiff, und das neue wurde hochgezogen, fertig um 1460.

       Die Reliquie war schon 100 Jahre zuvor wieder in die Kirche zurückgekehrt. Nach dem Fall der Apsis wurde eine Mauer hochgezogen, die die Kirche nach Osten abschloß. Die Magdalenenkapelle wurde großzügig entschädigt. Die Rückverlegung der Reliquie in die Kirche geschah am 5. Juli 1360, einem Montag (nicht an Pfingsten, denn Pfingstmontag 1360 war am 2. Juni).

       Wie der Wendelskuchentag genau entstand und wann und durch wen, läßt sich nicht nachprüfen. Aber schon die älteste noch erhaltene Kirchenrechnung von 1465 gibt an, dass die Kirche den Bäckern am Fest der Übertragung des hl. Wendelin 5 Malter Korn (= 750 kg Roggen) zur Verfügung stellt, um das Wendelsbrot zu backen. Immerhin gut 2.500 Brötchen sind daraus geworden. Diese Position findet sich in so gut wie allen Kirchenrechnungen - selbst in Notzeiten wie 1677 - bis ins Jahr 1794. Da wird aufgrund der großen Teuerung die Menge auf 2 Malter und die Größe auf die Hälfte zurückgesetzt. Ein Jahr später wird das Wendelsbrot nur noch den Armen ausgeteilt und noch ein Jahr später für immer ausgesetzt. Nun - jedenfalls für die nächsten 200 Jahre.

 

       Um so schöner ist es, dass diese uralte Tradition in leicht veränderter Form in unserer Pfarrei wieder aufbelebt wurde.

 

 

St. Wendel, 4. Juli 2019. Roland Geiger, Pfarrarchiv St. Wendel.

[Regionalforum-Saar] Weihnachtliches Theater

Date: 2019/07/10 22:39:31
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Weihnachtliches Theater. Zur Entstehung und Geschichte einer bürgerlichen Fest- und Theaterkultur


Autor: Schmidt, Laura

Erschienen Bielefeld 2017: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Umfang 396 S.
Preis € 39,99
ISBN 978-3-8376-3871-4

Rezensiert für H-Soz-Kult von Christoph Schlemmer, Insitut für Neuere Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Alle Jahre wieder diskutiert die Öffentlichkeit die fortschreitende Kommerzialisierung und Profanisierung von Weihnachten. Laura Schmidt veranschaulicht in ihrer 2016 angenommenen Münchner Dissertation, dass besagte Tendenzen und Kritik daran bereits im 19. Jahrhundert teils erstaunliche Ausmaße annahmen. Dabei gliedert die Absolventin der Bayerischen Theaterakademie diese Debatten in den historiographisch bisher wenig beachteten Kontext weihnachtlicher Theater- und Festkultur ein.[1]

Schmidt analysiert „Weihnachtliches Theater“ als Teil einer dezidiert bürgerlichen Festkultur und geht von zwei Annahmen aus: Erstens entwickelte sich Weihnachten seit Ausgang des 18. Jahrhunderts zu einem im privaten Rahmen begangenen Familienfest. Zweitens etablierte sich das Theater zeitgleich als ein „Leitmedium bürgerlicher Kultur“ (S. 11). Diese beiden Entwicklungslinien zusammenzuführen und Reaktionen des Theaters in Deutschland auf eine sich wandelnde Festkultur zu untersuchen, ist Schmidts erklärtes Ziel. Darüber hinaus erörtert sie, wie weihnachtliches Theater in zeitgenössische Diskurse und die Phänomene „Privatisierung“ und „Säkularisierung“ einzuordnen ist, wobei sie die These aufstellt, die Theatergeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts lege den Wandel im „Verhältnis von Kirche, Religion und Gesellschaft in der Moderne“ besonders evident zutage (S. 17). Als Untersuchungsgegenstand macht Schmidt Werke und deren Aufführungsformen in Deutschland, die Weihnachten zum Anlass oder Gegenstand haben, zwischen Ende des 18. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg, aus. Als Quellen dienen ihr Stücktexte, Zeitungsartikel, Spielpläne sowie volkskundliche Abhandlungen.

Die Arbeit gliedert sich in neun Kapitel, wobei der Einleitung und einem Kapitel über „das Weihnachtsfest im späten 18. und 19. Jahrhundert“ (S. 19) sechs Analysekapitel und ein Resümee folgen. Schmidt erarbeitet im Vorlaufkapitel zunächst ein Bild bürgerlicher Festpraxis mit Heiligabend als cultural performance im Zentrum, dem Wohnzimmer als Ort und dem 24. Dezember als Zeitpunkt einer privatisierten Feier, während die Vorweihnachtszeit öffentlich blieb. Die zentralen Akteure waren Eltern und Kinder, wobei erstere die Zeit nutzen konnten, „ein bürgerliches Idealbild von Familie zu realisieren“ (S. 29). Das Auftauchen säkularer Gabenbringer wie dem Weihnachtsmann trug dazu bei, das Wohnzimmer in eine Bühne zu verwandeln, ebenso wie gemeinsames Singen den Kirchenraum ins profane Heim holte. Im bürgerlichen Haushalt wurde folglich das Stück „Familie“ und nicht die christliche Weihnacht gegeben – und dies mit einem „beträchtlichen Maß an Theatralität“ (S. 22).

Das darauffolgende dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Genese des weihnachtlichen Theaters bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Nachdem sich „regional geprägte Traditionsstränge und Spielformen“ (S. 42) vom Mittelalter ausgehend etablierten, fand ein Paradigmenwechsel erst zum Ende des 18. Jahrhunderts statt. Dieser ging mit obrigkeitlichen Maßnahmen zur Eindämmung öffentlich-religiöser Praktiken einher, die jedoch weniger Wirkung zeigten als erhofft. Manche Spieltraditionen blieben erhalten, viele veränderten sich, so dass von einer Ausdifferenzierung einst christlich-religiöser Festpraktiken ab 1800 auszugehen ist. In der Weihnachtsdramatik entwickelten sich jenseits professioneller Theater kurze und einfache Stücke mit musikalischer Untermalung. Die meisten Werke besaßen einen „moralisierenden Ton“, waren teils in Handwerker- oder Kaufmannshaushalten angesiedelt (S. 57), dezidiert für private Aufführungskontexte verfasst und transportierten Aspekte der cultural performance des Heiligenabends. Die immer beliebter werdenden Weihnachtsausstellungen repräsentieren dagegen frühe Formen kommerzialisierten, öffentlich und in der Vorweihnachtszeit zelebrierten Weihnachtstreibens.

Über detaillierte Werksanalysen erarbeitet Schmidt in Kapitel 4 sowohl die Entwicklung weihnachtlichen Theaters nach 1850 allgemein, als auch die Etablierung der Weihnachtsmärchen als populärster Form des institutionalisierten weihnachtlichen Theaters. Dabei sieht Schmidt die 1860er-Jahre als take-off Phase, geprägt durch „Ausdifferenzierung, Verbürgerlichung, Spezialisierung, Kommerzialisierung und Professionalisierung“ (S. 125), und Weihnachtsmärchen als Katalysatoren. Kulturell traf die Verarbeitung von Märchenstoffen einen Nerv im Bürgertum und koppelte den Theaterbesuch an das heimische Wohnzimmer, in dem die Märchenlektüre gewöhnlich stattfand. Des Weiteren beruhte der Erfolg auf inszenatorischen Entscheidungen: Die Stücke waren auf Spektakel ausgerichtet, explizit Weihnachtliches kam nur dezent vor, was einer Säkularisierung weiter Vorschub leistete.

Als Kontrastprogramm hierzu diskutiert Schmidt im fünften Kapitel volkssprachliche Weihnachtsspiele. Philologen, Volkskundler und Theologen aus städtischem Milieu verschriftlichten mündlich tradierte Stücke und verleugneten zugleich ihre Autorenschaft. Romantik und eine „deutschtümelnde Ideologie“ (S. 161) verbanden sich in den Texten mit einem romantisch verklärten Mediävismus und abstrakten Ideen über ländliches Brauchtum. Die Editoren erschufen eine „Volkskultur“, verfolgten die „Konstruktion nationaler Identität“ und definierten Volkstheater sowie Bräuche als „Denkmale“ eines nationalen Erbes (S. 170–171). Dabei gliederten sich die Stücke erstaunlich rasch ins säkulare und kommerzielle Theater ein. Das volkstümliche Theater wurde zugleich praktisch neu erfunden und einem städtischen Publikum als Tradition verkauft, wodurch es mit „zum Mythos des deutschen Nationalismus“ beitrug (S. 210). Auch die Theaterkritik sprang darauf an: Vertreter völkischen Gedankenguts folgten den Romantisierungstendenzen; Thomas Mann hingegen argumentierte polemisch gegenüber dem etablierten Theater. Eine besondere Form der Auseinandersetzung mit dem volkssprachlichen Weihnachtstheater stellte die Neubearbeitung der „Oberuferer Spiele“ durch den Anthroposophen Rudolf Steiner dar, die Schmidt abschließend präsentiert, sich aber hütet, zu tief in Steiners Theorien zu versinken.

Stattdessen beschäftigt sich das darauffolgende Kapitel mit dem Verhältnis von Sozialdemokratie und weihnachtlichem Theater sowie mit den Jahren des Ersten Weltkriegs. In beiden Fällen erkennt Schmidt von der bürgerlichen Norm abweichende Festkulturen und macht eigene Spieltraditionen aus. Die Arbeiterbewegung nutzte Weihnachten zum Anlass, „gesellschaftskritische Töne“ anzustimmen (S. 251), wobei keine Ablehnung des Festes selbst stattfand, viel mehr kam es zu Parodien der bürgerlichen Weihnachtstraditionen. Schmidt konstatiert, dass die Stücke paradoxerweise das private Weihnachtsfest bürgerlicher Prägung bestätigen, während zugleich Kritik an der Feierkultur besitzender Schichten geübt wurde (S. 266). Eine bewusste Aufrechterhaltung weihnachtlicher Festkultur strebten dagegen Obrigkeit und Kirchen während des Krieges an. Die institutionalisierten Theater versuchten spätestens ab 1916, mit der Aufführung von Weihnachtsmärchen einen „Rückzug in ferne Idyllen“ zu ermöglichen (S. 276). Abseits der großen Bühnen aber schien die kriegsalltägliche Tristesse auch das Theater zu erobern – wenig originelle Stücke mit einer „typischen Mischung aus plakativem Patriotismus und folkloristisch anmutendem Militarismus“ dominierten (S. 281). Interessant ist Schmidts Befund, dass sich während des Krieges keine eigenständigen Weihnachtsstücke für das Fronttheater etablierten.

In der Zeit der Weimarer Republik sieht Schmidt abseits der professionellen Bühnen mehr denn je die bedeutenden Entwicklungen. Arbeitertheater versuchten „eine stärkere Zusammenführung von darstellendem Spiel, weihnachtlichem Fest und politischer Erziehung“ (S. 311) zu erreichen, präsentierten allegorisch sozialdemokratische Werte und setzten sich kritisch mit dem Weihnachtsfest und der Religion auseinander. Zwar spielten „alle Stücke (…) am Weihnachtsabend zu Hause bei einer Familie, meist im Wohnzimmer“ (S. 330), aber die Familie wurde im Arbeitertheater nun nicht mehr von der Öffentlichkeit separiert dargestellt.

Im Kapitel zu weihnachtlichem Theater im „Dritten Reich“ nähert sich Schmidt dem Thema zunächst über einen Abschnitt zur weihnachtlichen Festkultur, wie die NS-Führung sie sich erträumte. Während die großen Theater weiterhin Weihnachtsmärchen als Spektakel aufführten, versuchte die Partei jenseits davon, das Fest zu vereinnahmen beziehungsweise durch einen nationalsozialistischen Weihnachtskult zu ersetzen und aus seinem „vermeintlich germanischen Erbe herzuleiten“ (S. 342). Wie solche Methoden im Bereich des Theaters funktionierten, analysiert Schmidt anhand der „Südender Weihnachtsspiele“.[2] Das zweifelsohne zentrale Motiv dieses Stückes war, die SA nach 1933 von einem Kampfbund zum Kulturverband umzudeuten. Das klassische Krippenspiel wurde vollends ersetzt, wenn Familien und SA als weihnachtliche Feiergemeinschaft zum „Kristallisationspunkt der Volksgemeinschaft“ (S. 346) wurden.

Schmidt erörtert auf rund 360 Seiten durchweg präzise formuliert, welche weihnachtlichen dramatischen Texte zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden und in welcher Beziehung sie zu einer sich „verändernden […] weihnachtlichen Festkultur“ standen (S. 355). Dabei gelingt es ihr, die Dichotomie zwischen institutionalisiertem und nicht-professionellem Theater offenzulegen und ihre Entwicklungen nachzuzeichnen: Auf den großen Bühnen trat der Kommerz erstaunlich früh seinen Siegeszug an, Fest und Theater entkoppelten sich zusehends. Fernab der institutionalisierten Theater fanden sich „überraschend vielfältige und zahlreiche Initiativen, die Beziehungen zwischen Fest und darstellendem Spiel“ (S. 356) herstellten und intensivierten. Schmidt vermag es, die komplexe Beziehung von weihnachtlichem Fest und weihnachtlichem Theater anschaulich zu machen. Besonders ihre Erkenntnisse zur Wiederentdeckung und Entwicklung der volkssprachlichen Weihnachtsstücke bis hin zum Nationalsozialismus dürfen lobend hervorgehoben werden. Der Theaterwissenschaft hat sie mit ihren Werksanalysen zweifelsohne einen großen Dienst erwiesen.

Bleibt zuletzt die Frage nach dem Mehrwert für Historiker/innen, versteht Schmidt ihre Arbeit doch auch als Beitrag „zu einer historischen Phänomenologie bürgerlicher Kultur“ (S. 17). Die historisch orientierte Leserschaft sucht teils vergebens nach der Diskussion von Begriffen wie Säkularisierung, Privatisierung, Bürgertum oder Volksgemeinschaft. Das von Schmidt erarbeitete Bild bürgerlicher Fest- und Theaterkultur verliert für die 1920er- und 30er Jahre zunehmend an Kraft. Leider gelingt es -ihr nur bedingt, die Stellschrauben neu zu justieren, wenn sie schlicht von einem „Verlust einer Illusion von Bürgerlichkeit, der diese Epoche kennzeichnet“ ausgeht (S. 306). Schmidt verabschiedet sich unverhofft vom Bürgertum, sieht das Theater der Weimarer Republik hauptsächlich durch die Topoi „Radikalisierung, Ideologisierung, Ausdifferenzierung und Spezialisierung“ (S. 303) gekennzeichnet.[3] Dass Schmidt das Narrativ von der bürgerlichen Epoche im 19. Jahrhundert nutzt, ist verständlich, kann sie doch zeigen, dass Weihnachten, Fest- und Theaterkultur untrennbar mit dem „bürgerlichen Wertehimmel“ verwoben waren.[4] Kritisch ist, dass sie hierzu teils überholte Theorien als Schablone nimmt: So begegnet einem unverhofft Otto Brunners Konzept des „Ganzen Hauses“, allerdings nicht aus dessen, sondern aus Heidi Rosenbaums Werk, wenn Schmidt die Privatisierung des bürgerlichen Wohnzimmers erläutert (S. 26).[5]

Nichts desto trotz stellt der Band einen lesenswerten Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts dar. Es gelingt zudem, ein großes Panorama weihnachtlicher Fest- und Theaterkultur über rund 150 Jahre deutscher Geschichte zu eröffnen. Schmidt liefert eine gut lesbare, quellen- und erkenntnisreiche Darstellung, die mit ihrem ungewöhnlichen Untersuchungsgegenstand zudem Anregungen für zukünftige Studien gibt.

Anmerkungen:
[1] Doris Foitzik, Rote Sterne, braune Runen, Politische Weihnachten zwischen 1870 und 1970, Münster 1997.
[2] Eberhard Wolfgang Möller, Das Südender Weihnachtsspiel, Berlin 1935.
[3] Kritische Ansätze zur Reduktion Weimars als krisenhafte Zeit vgl. Moritz Föllmer / Rüdiger Graf (Hrsg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik, zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main 2005; APuZ 68 (2018), Heft 18–20.
[4] Vgl. Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel, Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.
[5] Schmidt verweist selbst nicht einmal auf Brunner; zur Theorie des „Ganzen Hauses“ vgl. Philip Hahn, Trends der deutschsprachigen historischen Forschung nach 1945, Vom ‚ganzen Haus‘ zum ‚offenen Haus‘, in: Joachim Eibach / Inken Schmidt-Voges (Hrsg.), Das Haus in der Geschichte Europas, ein Handbuch, Berlin 2015, S. 47–64.

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[Regionalforum-Saar] Coburg in Europa. Albert und Victoria - Wege und Wirkungen.

Date: 2019/07/13 17:52:36
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Coburg in Europa. Albert und Victoria - Wege und Wirkungen.

38. Jahrestagung der Prinz-Albert-Gesellschaft

Veranstaltungsort:  Coburg

Veranstalter:  Prinz-Albert-Gesellschaft e.V.

 

Datum:  26.08.2019 - 30.08.2019

 

Bewerbungsschluss:  12.08.2019

 

Url :  http://www.prinz-albert-gesellschaft.de

 

Von Franziska Andrea Bartl, M.A.

 

2019 ist ein Jubiläumsjahr. Queen Victoria (1819-1901) und Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha (1819-1861) wurden vor 200 Jahren geboren. Die Prinz-Albert-Gesellschaft widmet ihrem Namensgeber aus diesem Anlass eine Festwoche mit vielfältigem Programm, das eine wissenschaftliche Tagung ebenso umfasst wie kulturelle Veranstaltungen. Ziel ist es, das historische Wirken Alberts und Victorias neu zu betrachten und Bezüge in die Gegenwart zu setzen: „200 Jahre danach“ wollen wir fragen, welche Spuren Queen Victoria und Prinz Albert hinterließen und welche Rolle sie heute noch spielen. Eine Ausstellung der privaten Sammlung des Coburger Ehepaares Kathleen und Klaus Beyersdorf bildet den Rahmen des Programms.

 

Im Rahmen des internationalen Forschungssymposiums, zu dem Wissenschaftler(-innen) aus ganz Europa beitragen werden, widmen wir uns folgenden zentralen Fragestellungen: Wie entwickelte sich die Albert und Victoria - Forschung? Wie war und ist die Darstellung Alberts und Victorias in Kunst, Literatur und Film? Sind sie heute noch in der öffentlichen Wahrnehmung präsent und wie verändert sich das möglicherweise in einem Jubiläumsjahr wie 2019? Interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer sind herzlich willkommen.

 

Es wird keine Tagungsgebühr erhoben. Aus organisatorischen Gründen bitten wir jedoch um verbindliche Anmeldung unter: prinzalbertgesellschaft(a)gmail.com.

 

 

Programm

 

Montag, 26. August 2019, 19 Uhr

 

Feierliche Eröffnung der Prinz-Albert-Festwoche an Prinz Alberts 200. Geburtstag/

Empfang/ Reception
Eröffnungsrede: Simon Kendall, britischer Generalkonsul für Bayern
Eröffnungsvortrag: Luise von Sachsen-Coburg-Saalfeld. Prinz Alberts Mutter und Stammmutter der Windsors. (Dr. Josef Dreesen, St. Wendel/ Jutta Stumm, Coburg) (DE)

 

Dienstag/ Tuesday, 27. August 2019

 

10.00 Begrüßung und Einführung (Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Chemnitz/ Franziska Bartl, M.A., Coburg) (DE)

 

Sektion/ Session I: Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft (Chair: N.N.)
10.30 War es die Mühe wert? Die Sammelpraktiken Prince Alberts und sein heutiges Vermächtnis. (Jana Riedel, M.A., London) (EN)
11.15 Kaffeepause/ Coffee break
11.30 “To Her Most Gracious Majesty the Queen, Empress of India” Von Widmungen und Witwen: Die indische Frauenfrage und Queen Victoria. (Dr. Franziska Tauber, Chemnitz) (EN)
12.15 Die Biopolitik des viktorianischen Körpers. Staatliche Strukturen und ihre Auswirkungen auf medizinische Wissenstransfers zwischen dem viktorianischen Großbritannien und dem deutschen Kaiserreich. (Sarah Scheidmantel, M.A., Berlin). (DE)

13.00 Kaffeepause/ Coffee break
13.15 Attraktiv und elegant. Victorianische Mode und Schmuck – Einfluss in der Ukraine (Dr. Victoria Soloschenko, Kiew) (DE)
14.00 Mittagspause/ Lunch
15.00 und 18.00 Prinz Albert – Prinz aus Coburg. Eine Stadtführung auf den Spuren Prinz Alberts (Isabel Zosig, Coburg) (EN/ DE)
20.00 Prinz Philip, The Duke of Edinburgh (Thomas Kielinger, London) (DE)

 

Mittwoch/ Wednesday, 28. August 2019

 

10.00 Alberts lebendige Ideen: Einfluss von deutschen Sitten und Bräuchen in Russland. (Prof. Dr. Andrij Kudrjatschneko, Kiew) (DE)
10.45 Die Herrschaftsrepräsentation von Queen Victoria und Prinz Albert auf Münzen und Medaillen im Britischen Empire des 19. Jahrhunderts. (Dr. Frank Britsche, Leipzig) (DE)
11.30 Kaffeepause/ Coffee break
11.45 Bücher und Büchersammlungen als (kultur-) politische Statements bei Albert und Victoria (Dr. Silvia Pfister, Coburg) (DE)
12.30 Mittagspause/ Lunch
Sektion II/ Session II: Victoria, Albert und die Kunst (Chair: N.N.)
14.00 „V & A“: Victoria – and Albert – porträtiert von Franz Xaver Winterhalter. (Bianca Wieland) (DE) 14.45 Sir Hubert Ritter von Herkomer (1849-1914) – Britischer Maler mit bayerischen Wurzeln. (Hartfrid Neunzert) (DE)
15.30 Unterbrechung/ Break
20.00 Prinz Albert – ein idealer Gatte? Viktorianischer Abend in Kooperation mit dem Verein „Making Culture“/ Prince Albert an ideal husband? Victorian Evening.

 

Donnerstag/ Tuesday, 29. August 2019

 

Sektion III/ Session III: Rezeption und Forschungsperspektiven (Chair: N.N.)
10.00 Prinz Alberts „Helfer“. Alte und (mögliche) neue Wege der Forschung. (PD Dr. Marc von Knorring, Passau) (DE)
10.45 "Is there really no truth in the Jewish extraction?" Die Erinnerungen an Prinz Albert während der NS-Zeit. (Dr. Alexander Wolz, Coburg) (DE)
11.30 Kaffeepause/ Coffee break
12.00 Depicting Albert, Prince Consort – The Role of Youth and Germanness in the ITV Series Victoria. (Christin Neubauer, M.A., Jena) (EN)
12.45 Mittagspause/ Lunch

 

Sektion IV/ Session IV: Coburg in Europa – Europa in Coburg (Chair: N.N.)
14.00 Descendants: Victoria and Albert’s most tangible legacy (Katerina Piro, M.A., Mannheim) (EN)
14.45 Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha. Victorias Enkel, Coburgs letzter Herzog, überzeugter Nationalsozialist. (Dr. Carl-Christian Dressel) (DE) 15.30 Unterbrechung/ Break
16.00 Vorstands- und Beiratssitzung der PAG
17.00 Mitgliederversammlung der PAG
20.00 Prinz-Albert-Festdinner (nach Voranmeldung und Vorauszahlung)

 

Freitag/ Friday, 30. August 2019

 

10.00 Bustransfer vom Tagungshotel „Goldene Traube“ nach Schloss Rosenau/ Bustransfer to Rosenau Castle
10.30 Park- und Schlossführungen (EN/ DE)
12.30 Mittagspause im Parkrestaurant Rosenau/ Lunch in the Parkrestaurant Rosenau
14.00 Der Briefwechsel zwischen Albert und seinem Bruder Herzog Ernst II. (Prof. Dr. Hermann Hiery, Bayreuth) (DE)
14.45 Die Coburger in Belgien: Staat und Dynastie (Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Chemnitz) (DE)
15.15 Kaffeepause/ Coffee Break
15.30 Die Coburger in Bulgarien: Modernität und Untergang (Assoc. Prof. Vladimir Zlatarsky, Sofia) (DE)
16.15 Resümee (Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Chemnitz/ Franziska Bartl, M.A., Coburg) (DE)
17.00 Bustransfer zurück zum Tagungshotel

 

Kontakt

Franziska Andrea Bartl

Schlossplatz 1 (Ehrenburg), 96450 Coburg

prinzalbertgesellschaft(a)gmail.com

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[Regionalforum-Saar] R. Meyer: Operative Portr äts

Date: 2019/07/17 10:40:44
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook
von Roland Meyer

Erschienen Konstanz 2019: Konstanz University Press – KUP
Umfang 468 S., 85 Abb.
Preis € 39,00
ISBN 978-3-8353-9113-0

Inhalt http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/toc_30341.pdf

Rezensiert für H-Soz-Kult von  Valentin Groebner, Historisches Seminar, Universität Luzern

Das menschliche Gesicht, so lässt sich die lesenswerte Studie des Kunst- und Medienwissenschaftlers Roland Meyer bilanzieren, kann einfach zuviel. Es produziert ununterbrochen Bedeutungsüberschüsse, weil es sich bewegt; weil es anderen Leuten zulächelt oder ihnen Grimassen schneidet, sie anlocken oder abwehren möchte. So nützlich diese Gesichtsausdrücke im Alltag sind, sie verwandeln sich, sobald ein Gesicht seinen Besitzer zweifelsfrei erkennbar machen soll, in störendes Rauschen. Damit es präzise erfasst, mit anderen verglichen und in Datenbanken eingespeist werden kann, muss der größte Teil dessen, was ein Gesicht ist und tut, zum Verschwinden gebracht werden: reduziert, stillgestellt, herausgerechnet.

Denn Identifizierung, definiert Meyer, heißt die Produktion von Unterscheidbarkeit vor dem Horizont massenhafter Vergleichbarkeit. Auf dieser technischen Leistung des 19. Jahrhunderts, so die Grundthese des Buchs, beruhen alle heute eingesetzten Technologien. Das digital erfasste Gesicht diene dabei als Link zwischen on- und offline-Welt: Von einem (in Zahlen verwandelten oder mit Zahlen angereicherten) Bild als Informationsträger werde auf den dazugehörigen materiellen Körper zurückgegriffen.

In seinen vier Hauptkapiteln stellt Meyer jeweils einen dafür typischen technischen Begriff ins Zentrum: (Foto-)Album und Archiv, Serialität und Datenbank. Der Zugriff des ersten Abschnitts auf die Bildermacher des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist dabei bewusst anachronistisch. Meyer will Johann Caspar Lavater (1741–1801) und André Adolphe-Eugène Disdéri (1819–1889) nicht als Autoren oder Künstler, sondern als „Logistiker“ und Medienunternehmer untersuchen. An vielen Stellen ist das sehr einleuchtend. Wenn man Porträts zu Erkennungszwecken als „mobile immutables“ einsetzen wollte, musste man ihnen standardisierte Formate geben. „Der angebliche Verlust der Aura“, schreibt Meyer über die Massenproduktion der fotografischen Porträts der 1860er-Jahre, „heißt nichts anderes als die Steigerung der Verfügbarkeit.“ (S. 68) Die Kriminalanthropologie von Cesare Lombroso (1835–1909) und Francis Galton (1822–1911) fasst er als „Verdatung individueller Körper in der Logik der großen Zahl“, die „Datenmassen“ erzeugt und eine „prinzipiell unabschließbare Flut der Datenerfassung“ in Gang gesetzt habe (S. 93, S. 104).

Überzeugend sind auch Meyers Hinweise auf die Querverbindungen dieser Erfassungsprojekte zur Eugenik als Steuerungsversprechen. Galtons Kompositporträts sollten Familienähnlichkeiten demonstrieren; gleichzeitig warb ihr Erfinder 1882 für die Einrichtung anthropometrischer Labore. „Messen heißt Vergleichen“, lautete der Slogan, der Galtons Projekte ebenso griffig zusammenfasste wie diejenige des Pariser Biometrikers Alphonse Bertillon (1853–1914). Dessen erste Publikation aus demselben Jahr 1882, noch vermeintlich urtümlichen „wilden Rassen“ in Übersee gewidmet, kombinierte bereits Profil- und En-face-Fotos. Die Übergänge von den Alben zu den Archiven waren dabei fließend. Der biologische Körper erhielt einen Datenkörper als Double, der erst in Relation zu Massendaten anderer Körper lesbar wurde. In diesem Kontext ging es nie nur um isolierte Bilder: Fotografien wurden in Aufschreibeprozesse eingebettet, deren Zentrum nicht die Kamera, sondern der Aktenschrank war.

Dasselbe geschah mit jenen individuellen Mustern auf der Haut der Fingerkuppen, die an der Wende zum 20. Jahrhundert zum neuen Goldstandard der polizeilichen Identifikation aufstiegen. Am Beispiel der Daktyloskopie kann Meyer nicht nur die Verbindung der Identifikationstechnologien zu Kolonialpolitik und Abstammungslehren zeigen, sondern auch zu Statistik und Mustererkennung. Eine Physiognomik der Fingerabdrücke wurde zwar versucht, scheiterte aber rasch. Fingerabdrücke haben keine Botschaft: Sie sind „Verteilungsmuster isolierter, abzählbarer, an sich bedeutungsloser Differenzen“ (S. 180). Die Abschnitte zur Mustererkennung und zur Ausweitung der Identifizierbarkeit durch neue Medientechnologien gehören zu den überzeugendsten Kapiteln von Meyers Buch. Angesichts extrem schneller grenzüberschreitender Technologien sahen Zeitgenossen 1925 „Radio, Marconigramm und Telephoto“ als Vorboten einer kommenden „Weltgemeinschaft“.[1] Ein Skeptiker wie jener aus Deutschland nach Mexiko geflüchtete Schriftsteller, den Leser von Abenteuerromanen unter seinem Pseudonym „B. Traven“ kennen, war sich 1926 dagegen sicher, der Krieg sei nur geführt worden, „damit man in jedem Land nach seiner Seemannskarte oder seinem Pass gefragt werden kann“ (S. 207).

Wie passt das genau zu einer „Krise der Ähnlichkeit“, die Meyer um 1900 ansiedelt und im darauf folgenden Kapitel an ganz anderen Autoren – Ernst Mach, Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil – festmachen möchte? Seine Verknüpfung der Verlustgeschichte des Einzigartigen angesichts der „Gleichförmigkeit der Welt“, die Stefan Zweig 1925 beklagt hat, mit der medialen Explosion der vervielfältigten Porträtfotos durch Massenpresse und Kino scheint mir nur teilweise gelungen zu sein. Das Kapitel „Serialität“ gibt die komplexen Wechselwirkungen zwischen gemalten und fotografischen Porträts der 1920er- und 1930er-Jahre lediglich verkürzt und in Bruchstücken wieder; die Abschnitte zu Alexander Rodtschenko und August Sander wirken eher willkürlich ausgewählt. Wäre es nicht naheliegender gewesen, die verwickelte Tarnungs- und Identifikationsgeschichte des angeblichen B. Traven genauer aufzurollen?

So gern ich das direkt anschließende Kapitel zu den Vervielfältigungs- und Medienpraktiken in Andy Warhols „Factory“ der 1960er-Jahre gelesen habe, so problematisch erscheint mir aus historischer Sicht Meyers nahtlose Anbindung dieser Episode aus der Geschichte der Popkultur an das, was er „die fortlaufende Performance des Selbst in mediatisierten Räumen des Vergleichs“ und „unabschließbare Kreisläufe der Bewertung, Auswertung und Verwertung“ (S. 318) nennt – die Social Media der unmittelbaren Gegenwart. Gelingt diese Verbindung wirklich in einem Sprung und ohne eine Geschichte dessen, was Hans Belting und andere die Allgegenwart und „Unentrinnbarkeit“ des farbigen fotografischen Porträts in der medialen Alltagspraxis seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts genannt haben?

Überzeugend dagegen ist Meyers Beobachtung zur Gesichtserkennung qua Computer, dass praxisuntaugliche Technologien trotz schwerer Funktionsmängel problemlos Überwachungs- und Kontrollfantasien in der Unterhaltungsindustrie erzeugt haben. In den 1990er-Jahren konnten – wie schon in den 1920er-Jahren – kriminalistische Praktiken starke Echo-Effekte in Popkultur und Alltag erzeugen. Meyer liefert dazu eine ganze Reihe schöner Fundstücke, von der berühmten Gegenüberstellung der verhafteten Ulrike Meinhof 1972 und der Logik der Fahndungsplakate bis zur Beobachtung, dass der Chef des Bundeskriminalamts seinen Begriff der „Logistik“ direkt aus den Schriften der Roten Armee Fraktion übernommen habe (daraufhin stellte die RAF ihre Taktiken gründlich um, wie vorher schon ihre Frisuren). An anderen Stellen, etwa im Abschnitt über die Einführung neuer Identifikationstechniken nach den Anschlägen vom September 2001, erscheint mir die Dokumentation dagegen sehr knapp; hier hätte ich mir mehr Kontext und juristischen Hintergrund gewünscht.

Aber wahrscheinlich ist es schlicht unmöglich, eine Geschichte der Gesichtserkennung zwischen dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart zu schreiben, die keine Lücken aufweist; dafür ist der untersuchte Zeitraum zu groß und die bereits vorhandene wissenschaftliche Literatur zu umfangreich. Meyers Studie, als Doktorarbeit an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe entstanden, liefert einen originellen und materialreichen Durchgang durch mehrere Forschungsfelder gleichzeitig und wird zweifellos weitere Arbeiten inspirieren. Irritiert hat mich allerdings seine teleologische Ausrichtung auf die Social Media der Gegenwart. Wer von „operativen Porträts“ und „Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook“ schreibt, suggeriert kohärente Entwicklungslogiken. Sind aus aktuellen Phänomenen digitaler Datenvernetzung zu kommerziellen Zwecken deren Vorformen tatsächlich vollständig zu erschließen – oder auch umgekehrt? Wo liegen die Parallelen, wo die Widersprüche zwischen polizeilicher Identifikation und Praktiken privater Selbstdarstellung? Und wo ist das eugenische Dispositiv hingewandert, das über 150 Jahre hinweg so starke Wirkungen entfaltet hat?

Roland Meyer gelingt es mit seinem Buch, aus klassischen und gut bekannten Texten – von Lavater und Galton bis zu Bertillon und Horst Herold – durch Kontextualisierung und findige Rekombination neue Einsichten zu gewinnen. Im Schlusskapitel präsentiert er allerdings Gilles Deleuzes und Félix Guattaris berühmten Text über die „Erschaffung des Gesichts“ und Roland Barthes' „Helle Kammer“, beide 1980 im Druck erschienen, auf ganz andere Weise. Er präsentiert sie als Universalschlüssel für die Interpretation all jener Technologien, die moderne Individualitäten erzeugt haben; als zeitlose Interpretationsinstrumente von universeller, sozusagen kanonischer Brauchbarkeit. Haben diese Texte, im Unterschied zu jenen von Lavater, Galton und Herold, denn wirklich keine historischen Entstehungsumstände, Einflüsse und Wirkungsbedingungen?

Anmerkung:
[1] Ein „Marconigramm“ war ein per Funk übermitteltes Telegramm, benannt nach dessen Erfinder Guglielmo Marconi (1874–1937).




[Regionalforum-Saar] Fwd: Jetzt erschienen: Denkmal sanierung 2019/2020 - dürfen wie Sie beliefern?

Date: 2019/07/19 21:39:07
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Hallo, diese Anzeige hab ich hoit bekommen. Vielleicht interessiert sich jemand dafür.

Roland Geiger




-------- Weitergeleitete Nachricht --------
Betreff: Jetzt erschienen: Denkmalsanierung 2019/2020 - dürfen wie Sie beliefern?
Datum: Fri, 19 Jul 2019 10:19:12 +0200
Von: Johannes Laible <laible(a)verlagsprojekte.de>
Antwort an: laible(a)verlagsprojekte.de
Organisation: Laible Verlagsprojekte
An: alsfassen(a)web.de


Sehr geehrte Damen und Herren,

wir erlauben uns, Sie darüber zu informieren, dass in unserem Verlag die neue Ausgabe der „Denkmalsanierung“ erscheinen ist.

Mit mehr Umfang als bisher und vielen Themen rund um die Sanierung und Restaurierung von Baudenkmalen bietet das Jahresmagazin die gewohnt spannende und anregende Lektüre.

Sie können sich in der neuen Ausgabe z. B. auf die folgenden Beiträge unserer AutorInnen freuen:

 

-              Bauhaus – auf der Suche nach weniger bekannten Objekten

-              Urheberrecht und Denkmalsanierung

-              Energieberatung für Baudenkmale

-              Bauwerksdiagnostik mit Thermografie

-              Ulrich Müther: Meister der Ostmoderne

-              Digitale Verfahren für die Bestandsaufnahme

-              Wie nachhaltig sind Baudenkmale?

-              Lehm und Oberflächengestaltung

-              Innendämmungen meistern

-              Wärmedämmung mit mineralischen Dämmputzen

-              Aerogele als innovative Dämmung

-              Vakuum-Isolierverglasung in der Denkmalsanierung

-              Schäden an Holzkonstruktionen

-              Freiwilligendienst in der Kultur- und Denkmalpflege

-              Denkmal-Kapitalanlage und das Exitszenario

-              Steuervorteile bei Denkmalsanierungen

 

und viele weitere Themen, Ideen, Bilder, Infografiken, Expertenadressen... auf erstmals 136 Seiten!

Das gesamte Inhaltsverzeichnis und Leseproben können Sie hier einsehen.

Kann die „Denkmalsanierung 2019/2020“ auch für Sie interessant sein? Sie können das Magazin ganz einfach gegen Rechnung für EUR 8,90 zzgl. EUR 1,55 Versand (EUR 3,75 ins europäische Ausland) ordern.

Für Ihre Bestellung antworten Sie bitte einfach mit Angabe Ihrer Adresse auf diese Mail. Oder Sie bestellen auf unserer Website:  https://shop.verlagsprojekte.de Dort können Sie auch frühere Ausgaben und andere interessante Magazine bestellen. 

Mit freundlichen Grüßen

 

Johannes Laible

 

Magazin „Denkmalsanierung“

Laible Verlagsprojekte

Postfach 128

D-78472 Allensbach

Tel. ++49 7533 98300

Fax ++49 7533 98301

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[Regionalforum-Saar] ein handgeschriebenes Gebetbuch von 1810

Date: 2019/07/22 09:51:23
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Guten Morgen,

gestern hat sich ein Amerikaner aus Arizona gemeldet, Jonathan Stock, dessen Vorfahren 1846 von Bexbach nach Wisconsin auswanderten.

In seinem Besitz befindet sich ein handgeschriebenes Gebetbuch „Der kleine Baumgarten, darin Morgen-Abend-Mess-Vesper-Beicht- und Kommunion-Gebeter“, verfaßt von Martin von Cochem (siehe: https://books.google.com/books/about/Der_kleine_Baumgarten_darin_Morgen_Abend.html?id=webRPgAACAAJ)
 
Dieses Exemplar wurde 1810 von seinem Urururur-Großvater Michel Nieder für seine Tochter Elizabeth Nieder Johann angefertigt. Elizabeth heiratete 1834 Nicolas Johann in Mittelbexbach. Die Familie wanderte 1846 nach Belgium, Wisconsin, USA, aus.

Jonathan fragt, ob das Kopieren solcher Bücher früher üblich war. Er sucht jemanden, der sich auf diesem Gebiet auskennt.

Sollten Sie in der Richtung eine Idee haben, wenden Sie sich bitte direkt an ihn. Er spricht kein Deutsch, benutzt aber den Google-Übersetzer und kommt damit ganz gut hin:a

Jonathan Stock, email jgstock56(a)gmail.com, Buckeye, AZ, USA


[Regionalforum-Saar] Buchvorstellung „Buchsch ätze aus dem Kloster“ in Tholey

Date: 2019/07/23 08:58:25
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Freitag, der 1. August 2019, um 19.00 Uhr

Gästehaus St. Lioba, Pavillon

 

Burnikel, Walter; Naumann, Wendelinus: Buchschätze aus dem Kloster, 78 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-948265

Preis: 15,- Euro, zuzüglich Versand

 

Bibliotheken sind untrennbar mit den Klöstern verbunden. Sie stellen den Wissenshort des Früh- und Hochmittelalters dar. Man denke nur etwa an den Film „Der Name der Rose“. Auch die Abtei Tholey verfügte seit früher Zeit über Handschriften. Diese waren zum einen für den Gottesdienst und das religiöse Leben nötig, es gab aber auch darüber hinaus unterschiedlichste Schriften. Vieles ging schon in den kriegerischen Zeiten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verloren, anderes wurde durch die Französischen Revolution zerstört oder in alle Winde zerstreut. Das vorliegende Buch befasst sich ausschließlich mit den Handschriften.

 

In einem ersten Teil des Buches führt Frater Wendelinus in die Bibliotheks- und Überlieferungsgeschichte Tholeys ein. Neben historischen Nachrichten über die Tholeyer Bibliothek schafft er auch einen systematischen Überblick über das in viele Archive und Bibliotheken zerstreute Schriftgut. 

 

Im größeren zweiten Teil hat Dr. Walter Burnikel, Altphilologe und Theologe, die in Tholey verbliebenen Handschriftenfragmente bearbeitet. Diese dienten oft als Einband bzw. Schutzumschlag für die modernen Drucke ab dem 16. Jahrhundert. Auch Zweitverwendungen als Arbeitsunterlagen etc. sind nachweisbar. Der Inhalt lässt vor allem Rückschlüsse auf Messliturgie und Stundengebetspraxis, den Kern benediktinischen Lebens zu. Aber auch Schreibübungen von Klosterschülern und Belege für ein zumindest zeitweise in Tholey tätiges Skriptorium werden fassbar.

[Regionalforum-Saar] Datumskorrektur - Buchvorstellung „Buchschätze aus dem Kloster“ in Tholey

Date: 2019/07/24 08:59:48
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Guten Morgen,

wie Sie sicher gemerkt haben, ist der 1. August kein Freitag, sondern
ein Donnerstag.
Also wird das Buch in Tholey am Donnerstag, 1. August vorgestellt.

Mit freundlichem Gruß

Roland Geiger

[Regionalforum-Saar] Volkszählung 42000 vor Christ us

Date: 2019/07/28 09:25:28
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Uni Köln untersucht Europas Bevölkerungsdichte vor 42000 Jahren.

Der (fast) leere Kontinent.

VON PETRA PLUWATSCH


Die Volkszählung ist abgeschlossen, erste Ergebnisse liegen vor. Die besagen: Es gab Zeiten, da war unser überfüllter Kontinent fast leer. Leerer als die Wüste Gobi. Maximal 3300 Einwohner verloren sich vor 42000 Jahren in den Weiten Europas -jede Kleinstadt bringt da heute mehr auf die Beine.

Herausgefunden hat das ein Forscherteam der Uni Köln. Es untersuchte im Rahmen des Sonderprojekts „Our Way to Europe“ die hiesige Bevölkerungsdichte am Ende der Altsteinzeit. Damals wanderten die ersten modernen Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa ein - Jäger und Sammler, die sich weder vom rauen Klima ihrer neuen Heimat noch von den Neandertalern abschrecken ließen.

Die Forscher stützten sich auf archäologische Funde zwischen dem heutigen Nordspanien und Mittel- und Osteuropa. Ihr Ziel: herausfinden, welche Gebiete am dichtesten besiedelt waren und wie es die Altvorderen schafften, trotz widriger klimatischer Umstände zu überleben. Im Durchschnitt, das weiß man nun, lebten im damaligen Europa nur rund 1500 Personen, verteilt auf fünf Kerngebiete in Nordspanien, Südwestfrankreich, Belgien, Tschechien und im oberen Donauraum. In schlechten Zeiten sank die Gesamtpopulation sogar auf weniger als 1000 Einwohner. Gut zu Fuß waren die ersten Europäer allemal. Die Entfernung zwischen den einzelnen Hotspots des Jungpaläolithikums betrug rund 400 Kilometer.

Fazit der Studie: Unsere Vorfahren waren extrem mobil, flexibel und anpassungsfähig. Fortpflanzungsfreudig waren sie auch. Heute leben in Europa 840 Millionen Menschen. Was bei der Ausgangslage eine gute Leistung ist.

 

[Regionalforum-Saar] M.Berg: Woodrow Wilson

Date: 2019/07/29 20:43:36
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt

Autor Berg, Manfred

Erschienen München 2017: C.H. Beck Verlag

Umfang 277 S.
Preis € 13,99
ISBN 978-3406707780

Rezensiert für H-Soz-Kult von  Richard Rohrmoser, Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Universität Mannheim

Am 7. Mai 1915 versenkte die deutsche Flotte das britische Passagierschiff RMS Lusitania vor der Südküste Irlands. Unter den insgesamt 1.198 Toten befanden sich auch 128 US-BürgerInnen, doch trotz des rhetorischen Säbelrasselns einiger US-Politiker erklärte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson erhaben: „There is such a thing as a man being too proud to fight. There is such a thing as a nation being so right that it does not need to convince others by force that it is right.“[1] Nachdem das Deutsche Kaiserreich im Februar 1917 den zwischenzeitlich eingeschränkten U-Boot-Krieg jedoch erneut eskalieren ließ, schlug schließlich auch der US-Präsident interventionistischere Töne an und begründete den Kriegseintritt der USA mit dem Diktum: „The world must be made safe for democracy. Its peace must be planted upon the tested foundations of political liberty.“[2]

Ebenso widersprüchlich wie diese beiden Statements sind, ist seit jeher auch die historische Bewertung des Politikers Woodrow Wilson. Für die einen stellt der Pionier des Völkerbundes einen „weitsichtigen Realisten“ dar, für die anderen war er lediglich ein „weltfremder Idealist, der die innen- und außenpolitischen Realitäten ignorierte und so selbst dazu beitrug, dass seine Vision einer Neuordnung der Welt scheiterte“ (S. 10).[3] In seiner 2017 erschienenen Biographie über Wilson schildert der Heidelberger Historiker Manfred Berg in sehr flüssigem Stil nicht nur den Lebenslauf des 28. US-Präsidenten. Er entwirft ferner ein differenziertes Bild dieser „Schlüsselfigur der Weltpolitik“ (S. 9), indem er von dichotomen und simplifizierenden Erklärungsansätzen absieht und stattdessen jenseits von Schwarz-Weiß-Bewertungen die Grautöne sucht und auskonturiert.

In den ersten drei von insgesamt sieben Kapiteln beschreibt Berg zunächst Wilsons Kindheit und frühes Erwachsenenalter – seine strikt-religiöse Sozialisation in den US-Südstaaten, das Studium in Princeton und die Promotion in Baltimore – sowie seine rasante Karriere zum Universitätsrektor (1902), Gouverneur von New Jersey (1910) und schließlich seine Wahl zum Präsidenten der USA (1912). Anschließend verweist der Autor anschaulich auf die Ironie des Schicksals, wonach Wilson als „Bannerträger des Progressivismus“ (S. 57) die Nation in erster Linie innenpolitisch strukturell reformieren wollte, dass jedoch der Konflikt in Europa schon bald den Fokus des Präsidenten auf außenpolitische Entwicklungen lenkte. Das fünfte Kapitel thematisiert, wie Wilson dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg – nolens volens – „einen historischen Sinn und ideelle Ziele geben“ und in der Tradition des amerikanischen Exzeptionalismus „nationale Interessen mit universalen Prinzipien verbinden“ musste (S. 119). In den letzten beiden Kapiteln schildert Berg das unermüdliche Engagement des US-Präsidenten auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 für eine liberal-demokratische Nachkriegsordnung und die Gründung des Völkerbundes, wofür er später den Friedensnobelpreis verliehen bekam, auch wenn die USA der zwischenstaatlichen Organisation selber letztlich nie beitraten. Schlussendlich resümiert der Epilog die ambivalente historische Bewertung Wilsons, die im Laufe der Geschichte ein äußerst breites Spektrum abdeckte[4]: Von radikaler Diskreditierung seiner Person in einer (neo)isolationistischen Phase der USA in den 1920er/30er-Jahren über eine Rehabilitierung seiner Visionen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Gründung der Vereinten Nationen bis zu einer fatalen Re-Interpretation seiner Doktrin des „liberalen Internationalismus“ durch die Neokonservativen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Das Besondere an der ersten deutschsprachigen Biographie über Woodrow Wilson seit 1971[5] ist die Tatsache, dass Berg nicht einfach seine Interpretation der Geschichte diktiert, sondern dem Lesepublikum oftmals verschiedene plausible Erklärungsansätze und Lesarten zu diversen Forschungskontroversen anbietet, sodass sich dieses jeweils selbst ein Urteil dazu bilden kann. Beispielsweise stellt der Historiker ausführlich zur Diskussion, ob Wilson als „kühler Machtpolitiker den Krieg nutzen [wollte], um Amerika zum globalen Schiedsrichter und Hegemon zu machen“, oder ob er vielmehr als „naiver Idealist der diplomatischen Herausforderung der Neutralität nicht gewachsen [war] und sich von den geschickt taktierenden Alliierten in einen Krieg verwickeln ließ, in dem gar keine vitalen amerikanischen Interessen auf dem Spiel standen?“ (S. 90f.). Ebenso differenziert Berg etwa in der jüngst erneut kontrovers diskutierten Frage über Wilsons Position zur Segregation. Er kommt dabei zu der Einschätzung, dass der 28. US-Präsident zwar keiner der Scharfmacher seiner Zeit war, die „Schwarze als tödliche Gefahr für die angelsächsische Zivilisation diffamierten und die Lynchjustiz öffentlich rechtfertigten“, dass er jedoch einen „typischen Vertreter der weißen paternalistischen Elite“ darstellte und durchaus als Rassist zu bewerten sei (S. 78).

Basierend auf den 69 Bänden der Papers of Woodrow Wilson, die neben öffentlichen auch private Korrespondenzen des Präsidenten dokumentieren, versucht der Autor des Öfteren, richtungsweisende Entwicklungen im Leben Wilsons – im Positiven wie im Negativen – durch einige seiner stark ausgeprägten Charaktereigenschaften wie etwa Idealismus, Prinzipientreue und Starrsinn zu erklären. Insofern hätten auch dessen enorme Gewissenskämpfe bezüglich des Kriegseintritts der USA im Jahr 1917 noch etwas detaillierter beschrieben werden können; besonders aufschlussreich wäre dazu beispielsweise der Schriftverkehr zwischen dem Präsidenten und seinem außenpolitischen Berater Edward M. House oder seiner zweiten Ehefrau, Edith White Bolling Galt Wilson. Der Autor setzt sich jedoch erklärtermaßen nicht zum Ziel, dieses Buch auf eine Stufe mit etlichen wesentlich voluminöseren Publikationen in englischer Sprache[6] zu stellen; stattdessen will Berg dem deutschen Publikum vor allem in relativ konzentrierter Form schildern, weshalb Woodrow Wilson zu den wichtigsten US-Präsidenten der Geschichte und zu den prägenden Figuren des 20. Jahrhunderts zählt (S. 16). Diesem Anspruch wird dieses sehr lesenswerte Buch zweifellos gerecht.

Anmerkungen:

[1] Woodrow Wilson, „An Address in Philadelphia to Newly Naturalized Citizens“, in: Arthur S. Link (Hrsg.), The Papers of Woodrow Wilson, Vol. 33, 17. April – 21. Juli 1915, Princeton 1980, S. 149.

[2] Woodrow Wilson, „An Address to a Joint Session of Congress“, 2. April 1917, in: Arthur S. Link (Hrsg.), The Papers of Woodrow Wilson, Vol. 41, 24. Januar – 6. April 1917, Princeton 1980, S. 525.

[3] Lloyd E. Ambrosius, „Legacy and Reputation“, in: Ross A. Kennedy (Hrsg.), A Companion to Woodrow Wilson, Malden, MA 2013, S. 569–587.

[4] Die enorme Bandbreite an historischen Bewertungen von Woodrow Wilson lässt sich im Kern vor allem durch eine These der folgenden Publikation begreifen: William Appleman Williams, Tragedy of American Diplomacy, Cleveland 1959. Für den Historiker der New Left stellt Wilson ein Paradebeispiel für eine tragödische US-Außenpolitik dar, die zwar friedlich konzipiert worden sei, bei ihrer Realisierung jedoch oftmals kriegerische Konflikte und Unterdrückung zur Folge hatte.

[5] Klaus Schwabe, Woodrow Wilson. Ein Staatsmann zwischen Puritanertum und Liberalismus, Göttingen 1971.

[6] Siehe etwa: John Milton Cooper, Jr., Woodrow Wilson. A Biography, New York 2009.