Hrsg. v. Wöhrer, Renate
Erschienen Berlin 2015: Kulturverlag
Kadmos
Umfang 341 S.
Preis € 26,80, 56 Abb.
ISBN 978-3-86599-240-6
Rezensiert für H-Soz-Kult von Thomas Weber, Institut für Medien
und
Kommunikation, Universität Hamburg
Was ist eigentlich dokumentarisch?
Diese Frage stellt sich nicht
nur in der
aktuell sich weiter ausdifferenzierenden Debatte über das
Dokumentarische und
seine vielfältigen medialen Formen und Formate, sondern sie hat
historische
Vorläufer, die bereits erstaunlich viel von den heutigen
Diskursen
vorwegnehmen: Der von Renate Wöhrer herausgegebene Sammelband
„Wie Bilder
Dokumente wurden” befasst sich mit der Herausbildung der
Begrifflichkeit des
„Dokumentarischen” im Spannungsfeld zwischen etablierten
Praktiken der
Verwaltung von Papierdokumenten und der Emergenz neuer
technischer Medien der
visuellen Aufzeichnung wie insbesondere das der Fotografie.
Dabei legen die 14
Autor/innen den Fokus ihrer Beiträge auf das 19. und das frühe
20. Jahrhundert.
Es gelingt ihnen, aus ganz unterschiedlichen disziplinären
Perspektiven auf
verschiedene Beispiele den fluiden, sich verändernden Gebrauch
der Begriffe und
damit ein sich weiter entwickelndes Verständnis des
Dokumentarischen
nachzuzeichnen, das zwischen scheinbar objektivierbaren
wissenschaftlichen
Ansprüchen und Erwartungen an künstlerische Gestaltung
changiert.
Bereits in der Einleitung markiert die Herausgeberin, dass sie
von einem
neueren Verständnis dokumentarischer Praktiken ausgeht, das sich
nicht am
vermeintlichen Gegensatz zwischen Fakt und Fiktion abarbeitet,
wie es in
wissenschaftlichen Publikationen z.B. von Hito Steyerl, Brian
Winston oder Martin
Loiperdinger zum Ausdruck kommt. Den Beiträgen gelingt es durch
eine präzise
Rekonstruktion von historischen Praktiken und Diskursen nicht
nur die
Veränderung der Begriffe des Dokumentarischen zu erfassen,
sondern auch
Transformation ihrer Bedeutung in je unterschiedlichen
Kontexten. Gerade
hiermit scheint der Band an neuere praxeologisch orientierte
wissenschaftliche
Diskurse über das Dokumentarische besonders anschlussfähig.
Das Buch gliedert sich in vier Teile, die jeweils andere,
gleichwohl zentrale
Aspekte der Herausbildung einer kulturspezifischen Vorstellung
des
Dokumentarischen behandeln: Im ersten Teil „Funktionen und
Leistungsversprechen
von Bildern” geht es vor allem um die Entwicklung der Fotografie
als Medium.
Der Beitrag von Herta Wolf fokussiert die Relation zwischen dem
neuen Medium
Fotografie und der Malerei bzw. der Zeichnung. Dabei geht es ihr
nicht nur um
die das von Gaston Tissandier beschriebene Daguerreotypie-Fieber
in Paris und
den dem Maler Paul Delaroche beim Anblick der ersten Fotos
zugeschriebenen
Ausruf, „Die Malerei ist von heute an tot” (S. 29), sondern um
die Nutzung der
Fotografie zur Dokumentation von Kunstwerken und insbesondere
auch der Sammlung
von Kunstwerken. Diese konnten zum Teil erst durch die
Abbildfunktion der
Fotografie entstehen bzw. fanden durch sie neue
Verbreitungswege.
Auch die Beiträge von Thomas Theye, Herbert Justnik, Franziska
Brons und Roland
Meyer unterstreichen den Funktionswandel von Medien durch das
Aufkommen der
Fotografie sowie auch die neuen Ansprüche an die
Leistungsfähigkeit der
Fotografie. So stellt Theye die Entdeckung von Details und der
Genauigkeit in
der anthropologischen und ethnographischen Forschung heraus, die
erst durch das
genaue Abbild der Fotografien möglich wurde. Fotografien wurden
daher zur
Erkundung der Welt im Rahmen der kolonialen Expansion gezielt
eingesetzt und
änderten damit – so Justnik – die Praktiken der Museen für
Volkskunde und
mithin die Wissenschaft Volkskunde selbst, da Fotografien
nunmehr detaillierte
Vergleiche ermöglichten. Fotografien erhielten auch
Dokumentenstatus in der
Kriminalistik: etwa durch die Arbeit von Alphonse Bertillons,
dem Leiter des
Erkennungsdienstes der Pariser Polizeipräfektur und insbesondere
durch die in
den 1880er-Jahren einsetzende Standardisierung von Fotografien,
um sie zur
Fahndung nach Verbrechern einsetzen zu können, wie Meyer in
seinem Beitrag
konstatiert. Franziska Brons arbeitet in ihrem Beitrag heraus,
dass die
Fotografie sogar dazu eingesetzt wurde, Schrift-Dokumente
forensisch zu
untersuchen, etwa durch den Vergleich von abfotografierten,
stark vergrößerten
Handschriftenproben.
Der zweite Teil „Medialisierung des Blicks” besteht aus nur zwei
Beiträgen, die
aber zentrale dokumentarische Bildpraktiken beschreiben. Der
Artikel von Christina
Natlacen widmet sich der Herausbildung von Amateurpraktiken, die
vor allem
durch neue Kameras – sogenannte Detektivkameras – unterstützt
wurden, die ohne
Stativ auskamen und damit „Schnappschüsse” ermöglichten. Dies
förderte eine
neue Ästhetik des Zufälligen, die in Analogie zum
dokumentarisch-objektiven
Anspruch der Wirklichkeitsaufzeichnung diskutiert wurde. Der
Beitrag von Tom
Gunning hebt hervor, dass die dokumentarische Filmproduktion in
der Frühzeit
des Kinos von den Lumières bis zu den Arbeiten von Flaherty in
der Forschung
praktisch kaum beachtet und allzu schnell auf Aktualitäten-Filme
einerseits und
Dokumentarfilme (im Sinne von Grierson) andererseits reduziert
wurden. Gerade
die Produktion non-fiktionaler Filme übertraf aber nun, wie
Gunning klarstellt,
im frühen Kino die Zahl der fiktionalen Filme deutlich und
führte auch zu einer
Ausdifferenzierung von Formaten, die sich gleichwohl nicht so
prägnant zeigte
wie im Bereich des Spielfilms. Am Beispiel der „Ansichten”
genannten Filme
untersucht Gunning die dokumentarischen Praktiken, die für diese
Produktionen
leitend waren.
Der dritte Teil „Dokumentation als Praxis der
Informationsgesellschaft”
thematisiert einen völlig anderen Aspekt des Dokumentarischen:
den Umgang mit
Dokumenten in einer sich entwickelnden Informationsgesellschaft.
Lena
Christolova und Stefan Nellen heben in ihren Beiträgen die
besondere Bedeutung
der Arbeiten von Wilhelm Ostwald bzw. vor allem von Paul Otlet
hervor, die neue
Formen der Wissensorganisation und damit auch der
Organisationsform von
Archiven skizzieren. Diese werden erstmals etwa in der
Universalen Bibliothek –
dem Mundaneum von Paul Otlet – realisiert. Mithin findet erst
durch die
Aufnahme in die Archive und ihre ordnungsgemäße Registrierung
eine Authentifizierung
von Dokumenten statt. Auch die Beiträge von Anke te Heesen und
Christine
Schnaithmann untersuchen diese administrativen Aspekte des
Dokumentarischen.
Während te Heesen sich mit den Praktiken der
Informationssammlung im Kontext
des deutschen Kolonialinstituts und des ersten
Wirtschaftsarchivs in Hamburg
(als Zeitungsausschnittsarchiv) befasst, geht es bei
Schnaithmann um den Umgang
mit Dokumenten im Bürobetrieb von Unternehmen.
Unter dem Titel „Verhältnisse dokumentarischer Darstellungen und
Kunst” wendet
sich der vierte Abschnitt des Buches dem Verhältnis von
dokumentarischem
Anspruch und künstlerischer Bearbeitung zu. Der Aufsatz von
Elizabeth Edwards
über die Studien der Survey-Bewegung in Großbritannien und deren
Nutzung von
Amateurfotografien beschreibt ebenso wie der von Anja Zimmermann
zur Debatte
über das „wahre Bild” im Spannungsfeld zwischen
naturwissenschaftlicher und
künstlerischer Darstellung anhand spezifischer Beispiele, wie
sich
dokumentarische und künstlerische Praktiken überschneiden. In
diese Linie reiht
sich auch der Artikel von Herausgeberin Wöhrer ein, der auf
zentrale Projekte
eingeht, die für die nächsten Jahrzehnte die Debatte über das
Dokumentarische
prägen sollten: Die Film Unit von John Grierson und die Arbeit
der Fotografen unter
der Leitung von Roy Stryker für die Farm Security Administration
in den
1930er-Jahren. Beide Projekte zeigen erstaunliche Parallelen
darin, ihre
dokumentarische Arbeitsweise an künstlerische
Gestaltungspraktiken anzulehnen.
Nicht die ungestaltete, vermeintlich objektive oder
intentionslose Aufzeichnung
wird gesucht, sondern die bewusst komponierte Anordnung oder
Neuordnung des
Materials. John Grierson schloss gar Wochenschauen „aus seinem
Verständnis der
Kategorie 'dokumentarisch' aus” (S. 317) und bezeichnete als
dokumentarischen
Film allein die künstlerisch gestaltete Dokumentation, die eben
nicht nur eine
technische Filmaufzeichnung von Geschehnissen war.
Die Vielfalt der Perspektiven und disziplinären Zugänge der
verschiedenen
Autoren und Autorinnen erweist sich bei diesem Sammelband als
Stärke: es
entsteht ein multiperspektivisches Bild einer prozesshaften
Herausbildung und
Veränderung des Verständnis des Dokumentarischen, das in
unterschiedlichen
Themenfeldern variiert. Mithin wird auch deutlich, dass es nicht
nur einen
Begriff des Dokumentarischen gibt, sondern vielmehr ein
relationales Feld von
Bedeutungen, das durch neue Technologien ebenso geprägt wird wie
von den
ästhetisch-künstlerischen Vorstellungen ihrer Zeit. Alles in
allem ist das vom
Kadmos-Verlag sorgfältig lektorierte und gestaltete Buch allen
zu empfehlen,
die sich für die Vorgeschichte und frühe Entwicklung
dokumentarischer
Ausdrucksformen sowie ihrer Diskurse interessieren.