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2018/12/07 08:33:21
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Ausgaben und Einspülungen
Datum 2018/12/10 23:36:08
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Beim Barte des Kalifen
2018/12/24 19:51:07
alphonse wagner via Regionalforum-Saar
Re: [Regionalforum-Saar] Regionalforum-Saar Nachrichtensammlung, Band 168, Eintrag 8
Betreff 2018/12/23 22:54:07
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] schon erledigt - Leitfaden-Anfrage
2018/12/07 08:33:21
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Ausgaben und Einspülungen
Autor 2018/12/10 23:36:08
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Beim Barte des Kalifen

[Regionalforum-Saar] Rezi: Vagabunden im Zeitalter der Industriealisierung

Date: 2018/12/07 08:37:50
From: Roland Geiger <alsfassen(a)...

Althammer, Beate: Vagabunden. Eine Geschichte von Armut, Bettel und
Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815-1933). Essen:
Klartext Verlag 2017. ISBN 978-3-8375-1708-8; 716 S.; EUR 34,95.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Walter Fähnders, Universität Osnabrück


Medial ist der Vagabund seit Jahrhunderten präsent - eine äußerst
populäre, in Literatur und Kunst meistens positiv gezeichnete Figur, die
für Reiselust, Abenteuer und grenzenlose Freiheit steht. So jedenfalls
will es die romantische Verklärung dieser Identifikationsfigur zum
"Seelenvagabunden", die eine ideale Projektionsfläche für derartige
Wunschbilder abgibt, und dies gilt auch für seine Namensvettern und
Verwandten, also für den Landstreicher und den Kunden, für den Vaganten,
den Tippelbruder und sein weibliches Pendant, die Tippelschickse. In
gewisser Weise gehören auch so unterschiedliche Typen wie der Bettler,
der Wanderer, der "Zigeuner" und entfernt auch der Bohemien mit seiner
nichtsesshaften, eben ausgemacht "vagabundischen" Existenzweise dazu.

Anders dagegen die soziale Wirklichkeit: Repression und Elend, Abwehr,
Verfolgung, Unterdrückung, Not, was in den angedeuteten Bildern und
Projektionen gar nicht oder nur selten durchscheint, allenfalls in den
von den Vagabunden selbst geschaffenen künstlerischen und literarischen
Werken. Dementsprechend war es denn auch eine Domäne der Kultur- und
Literaturwissenschaft der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich erstmals in
größerem Ausmaß der Vagabundenthematik widmete und dies bis heute tut.
Das Katalogbuch der großen Ausstellung im Berliner Künstlerhaus
Bethanien von 1982 mit dem griffigen Titel "Wohnsitz: Nirgendwo"[1] ist
dafür ebenso ein markantes Beispiel wie andere einschlägige
Untersuchungen seit dieser Zeit zu den kulturellen Aktivitäten und
Leistungen einer spezifischen Vagabundenkunst und -literatur, wie sie
sich vor allem in der Weimarer Republik unter ihrem Wortführer Gregor
Gog entfaltet hat.[2] Die Geschichtswissenschaft konzentrierte sich
dagegen weniger auf die Moderne denn auf die Umbruchszeiten von
Spätmittelalter und Früher Neuzeit, auf die Armuts-Forschung und die
Analyse pauperisierter Schichten. Dies geschah vor allem mit dem Blick
auf Reformation und Frühkapitalismus, deren bekanntermaßen verheerenden,
ungemein repressiven Konsequenzen für Bettelei und Vagabondage, auch
unter dem Aspekt einer protestantischen Arbeits- und Leistungsethik,
vielfach erforscht sind.[3] "Weit weniger", bemerkt Beate Althammer in
ihren einleitenden Ausführungen zu Thema und Forschungsstand ihrer
Arbeit zu Recht, "hat sich die deutsche Geschichtswissenschaft mit der
Fortexistenz von Bettelei und Vagabondage nach der Epochenschwelle um
1800 befasst" (S. 13), mit Ausnahme der NS-Zeit und diesbezüglichen
Untersuchungen zur Verfolgung sogenannter Asozialer.

In ihrer umfänglichen, überarbeiteten Habilitationsschrift der
Universität Trier aus dem Jahr 2015 untersucht Beate Althammer nun die
Vagabondage im Zeitalter der Industrialisierung 1815 bis 1933 und sucht
somit eine gravierende Lücke in der Geschichtsschreibung zu schließen.
Bei ihren Quellen kann Beate Althammer immer wieder auf ihre 2013
erschienene, zusammen mit Christina Gerstenmeyer erarbeitete,
kommentierte und wahrlich fulminante, fast 700 Seiten starke
Quellenedition über Bettler und Vaganten in der Neuzeit zurückgreifen,
die über 250 einschlägige Dokumente aus der Zeit von 1500 bis 1933
erschließt - von Edikten und Gesetzestexten bis hin zu zeitgenössischen
Presseberichten.[4] Des Weiteren wird - auch in Ermangelung von
Gerichtsakten des 19. Jahrhunderts, da im rheinischen Rechtsraum in
diesem Zeitraum zumeist nur mündlich verhandelt wurde -
Verwaltungsschriftgut hinzugezogen, das auf kommunaler ebenso wie auf
höherer Ebene der Provinzialregierung und der Ministerien und
Reichsinstanzen verwertbares Material auch zu Einzelfällen bietet. Hinzu
kommen die Fachpublizistik der Zeit, vor allem die bereits erwähnte
reichhaltige Publizistik Ende des 19. Jahrhunderts, sowie weitere
Quellen aus der Presse, autobiographische Zeugnisse und anderes mehr.
Vielleicht hätte man sich angesichts der Beobachtung, dass der Vagabund
"in Kunst und Dichtung und schließlich im Film [...] eine beachtliche
Prominenz" erlangte (S. 39), eine stärkere Einbeziehung derartiger
künstlerischer Selbstzeugnisse gewünscht, die ja Aufschluss auch über
das soziale Selbstverständnis und ggf. den politischen Anspruch
geben.[5]

Die Fragestellung Althammers zielt auf eine umfassende Rekonstruktion
der Vagabondage im genannten Zeitraum - auf der Mikroebene als Analyse
alltäglicher Erfahrungen, auf der Makroebene als Analyse der virulenten
gesellschaftlichen Reformdebatten. Dabei ist die Arbeit fokussiert
(nicht nur, aber wesentlich) auf Orte der Preußischen Rheinprovinz mit
ihrer dynamischen frühen Industrialisierung und den damit verbundenen
Migrationsbewegungen, einschließlich eines genauen Blickes auf die
Arbeitsanstalt in der ehemaligen Benediktinerabteil Brauweiler, die 1811
gegründet wurde. Nach der Diskussion einschlägiger Kategorien wie
Marginalisierung/Randgruppenproblematik und des aus der Soziologie
geläufigen Exklusion/Inklusion-Schemas wird die Trias einer Geschichte
von Armut und Sozialpolitik, von Kriminalität und Strafverfolgung sowie
von Mobilität und deren Kontrollen entwickelt. Mit ihrem "flexiblen
Vorgehen" (S. 38) erprobt Beate Althammer einen Ansatz, der überzeugend
davon ausgeht, dass jemand nicht Landstreicher, Vagabund oder Bettler
ist, sondern Menschen "[] unter gewissen Umständen auf Verhaltensmuster
zurück[greifen], die sie als solche qualifizierbar machen" (S. 26). Es
geht also um "gesellschaftliche Definitionsprozesse: Wer wurde unter
welchen Umständen als Bettler, Landstreicher oder Vagabund bezeichnet?
Wie grenzten zeitgenössische Diskurse und Praktiken diese Kategorien
ab?" (S. 26).

In den zehn großen, historisch angelegten Kapiteln der Arbeit geht es
nach der Einführung (1) zunächst um die einschlägige Rechtsordnung in
Preußen und im Reich (2), dann um Armendisziplinierung zur Zeit des
Pauperismus mit Blick vor allem auf Aachen, Trier, Koblenz und auf
ländliche Gebiete (3), um die Vagabundenfrage während der Gründerkrise
(4), um die genauen Organisationsstrukturen in der bereits genannten
Arbeitsanstalt Brauweiler (5), um Praktiken der Ausweisung und weiterer
Abwehrinstrumente nach der Reichsgründung (6), sodann um Offensiven der
Wohltätigkeit, also Wandererfürsorge (Bodelschwingh), Arbeiterkolonien
und Verpflegungsstationen (7), schließlich um "Neue Blicke um 1900"
(unter anderem Karl Bonhoeffer, Karl Wilmanns, Josiah Flynt, Hans
Ostwald) (8) und um die Reformströmungen des frühen 20. Jahrhunderts
(unter anderem die gesetzliche Regelung der Wandererfürsorge) (9). Das
Schlusskapitel (10 )schließlich formuliert die Erkenntnis, dass von
einer "festen Randgruppe" der Vagabunden nicht die Rede sein kann - wohl
aber "waren die Vagabunden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein
hochgradig vielgestaltiges und wandelbares Phänomen. Das Gabenbitten und
Wandern waren Verhaltensweisen, zu denen ganz unterschiedliche Typen
griffen: Ortsarme, Handwerksburschen, Arbeitslose, jugendliche
Herumtreiber, abenteuerlustige Reisende." Und dies unbeschadet der
Tatsache, dass es auch zu dieser Zeit Menschen gab, die "dem Klischee
des Gewohnheitsbettlers oder Tippelbruders entsprachen" (S. 650).

Nach der Vagabundenfrage und dem Armutsproblem in der Frühen Neuzeit
erlangten diese Verhaltensweisen zu Zeiten der Industrialisierung also
eine neue Konjunktur, erfuhr das alte Problem der Nichtsesshaftigkeit
neue Aktualität und erhielt neue Antworten seitens der Obrigkeit, von
der staatlichen Armutsbekämpfung und der Einrichtung von Arbeitshäusern
oder der Ausweisung bis hin zu reformerischen Wegen der Wohltätigkeit.
Um die komplexe Diskurslage gerade vor und nach dem Ersten Weltkrieg
noch genauer zu analysieren, hätten vielleicht die diesbezüglichen
Positionen der Arbeiterbewegung einbezogen werden können, die in ihrem
marxistischen Flügel vom Diktum des Lumpenproletariats ausgingen -
während der Anarchismus, von Bakunin bis Erich Mühsam, einen positiven
Bezug zum Vagabundentum entwickelte. Aber dies ändert nichts an dem
abschließenden Befund: In ihrer ungemein detailreichen und
quellengesättigten Studie gelingt es Beate Althammer, das Phänomen der
Vagabondage überzeugend zu erschließen. Dabei liegt die Relevanz des
Themas zum einen darin, dass sowohl alltagsgeschichtlich als auch mit
Blick auf staatliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine
markante, jahrhundertealte Außenseiterfigur in ihrer sozialen
Konstitution durchleuchtet wird. Zum anderen berührt die Analyse weit
darüber hinausreichende Forschungsfelder der Armut und Sozialpolitik,
der Kriminalität sowie der Geschichte der Mobilität und deren
Kontrollen. Dass die Vagabunden in der Tat "kein abwegiges Thema sind"
(S. 9), macht diese Studie überdeutlich. Sie darf bereits jetzt als
Standardwerk gelten.

Anmerkungen:
[1] Künstlerhaus Bethanien (Hrsg.), Wohnsitz: Nirgendwo. Vom Leben und
vom Überleben auf der Straße, Berlin 1982.
[2] Vgl. Georg Bollenbeck, Armer Lump und Kunde Kraftmeier. Der Vagabund
in der Literatur der zwanziger Jahre, Heidelberg 1978; Klaus Trappmann
(Hrsg.), Landstrasse, Kunden, Vagabunden. Gregor Gogs Liga der
Heimatlosen, Berlin 1980; Walter Fähnders (Hrsg.), Nomadische
Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20.
Jahrhunderts, Essen 2007; Walter Fähnders / Henning Zimpel (Hrsg.), Die
Epoche der Vagabunden. Texte und Bilder 1900-1945, Essen 2009; Johanna
Rolshoven / Maria Maierhofer (Hrsg.), Das Figurativ der Vagabondage.
Kulturanalysen mobiler Lebensweisen, Bielefeld 2012.
[3] Vgl. Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der
Armenfürsorge in Deutschland. Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1.
Weltkrieg, Stuttgart 1980 (2. Aufl. 1998); Wolfgang von Hippel, Armut,
Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit, München 1995.
[4] Beate Althammer / Christina Gerstenmeyer (Hrsg.), Bettler und
Vaganten in der Neuzeit (1500-1933). Eine kommentierte Quellenedition,
Essen 2013.
[5] Vgl. zur Vagabundenliteratur und -kunst der Weimarer Republik die
knappen Ausführungen S. 632-634 im Kapitel über "Menschen unterwegs:
Arbeitslose, Edelkunden, Weltenbummler"; s. dazu Walter Fähnders,
Projekt Vagabondage. Die Vagabunden, die Vagabundenliteratur und die
Moderne, in: Simon Huber u. a. (Hrsg.), Das riskante Projekt. Die
Moderne und ihre Bewältigung 1890-1940, Bielefeld 2010, S. 87-116.