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2018/09/19 13:39:02
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Schade, daß Potsdam nicht u m die Ecke liegt.
Datum 2018/09/28 14:00:40
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Auswanderung als nationalistisches Projekt. "Deutschtum" und Kolonialdiskurse im südli chen Brasilien (1824-1941)
2018/09/17 10:21:22
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[Regionalforum-Saar] Buch über Heimatforscher Schw ingel
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Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Die Pfarrkirche St. Anna in Furschweiler.
2018/09/19 13:39:02
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Schade, daß Potsdam nicht u m die Ecke liegt.
Autor 2018/09/28 14:00:40
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Auswanderung als nationalistisches Projekt. "Deutschtum" und Kolonialdiskurse im südli chen Brasilien (1824-1941)

[Regionalforum-Saar] Die Erfindung der Leistung

Date: 2018/09/24 22:24:17
From: Roland Geiger <alsfassen(a)...

Verheyen, Nina: Die Erfindung der Leistung. München: Hanser Berlin 2018.
ISBN 978-3-446-25687-3; 256 S.; EUR 23,00.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Jan Ruhkopf, Forschungsbereich Zeitgeschichte, Institut für
donauschwäbische Geschichte und Landeskunde


Was für ein originelles Buch! Auf den ersten Blick ein second book, ist
"Die Erfindung der Leistung" eine Monographie, mit der Nina Verheyen
Überlegungen und offenbar erste Ergebnisse ihrer an der Universität zu
Köln entstehenden Habilitation zur sozialen Konstruktion von Leistung im
Deutschland des 20. Jahrhunderts präsentiert, und das dabei sich
ausdrücklich auf "populärem Terrain" (S. 209) versucht. Ein solcher
Hybrid zwischen Fach- und Sachbuch, der sowohl
wissenschaftlich-differenzierend arbeitet als auch Leserschichten
jenseits der scientific community anspricht, bedarf eines Themas mit
Aufmerksamkeitsgarantie. Mit einer historischen Spurensuche nach der
Idee des Leistungsgedankens als "Fundamentalnorm der Gegenwart"[1] haben
Verheyen und der Hanser Verlag offenbar ins Schwarze getroffen, wie
diverse Rezensionen in überregionalen deutschen Tageszeitungen
belegen.[2]

Verheyen geht in der Einleitung von einer einleuchtenden Grundprämisse
aus: Leistung als Kategorie sei an sich nicht zu fassen, sondern
entfalte nur im jeweiligen Kontext und je nach Perspektive
Deutungskraft, was aber in der Debatte zwischen Leistungskritikern und
-befürwortern häufig übersehen werde. Entsprechend lehnt Verheyen eine
Positionierung explizit ab und will herausarbeiten, "wie sich das
Leistungsparadigma im Laufe der Zeit verfestigt hat" (S. 15), wobei
Stabilisierungen und Widerstände, Modifizierungen von
Leistungsvorstellungen und Praktiken mitbedacht werden. Die Studie ist
damit diskursanalytisch angelegt, nutzt einen breiten Quellenkorpus aus
Tagebüchern, Zeitungsartikeln, Vorträgen, wissenschaftlicher wie
klassischer Literatur und einigem mehr. Die Geschichte der Leistung
schreibt Verheyen als "die Geschichte einer Unschärfeformel" (S. 22),
womit sie ihre These der Offenheit und Wandelbarkeit des
Leistungsbegriffs elegant fasst.

Der erste Teil des Buches thematisiert die menschlichen Empfindungen von
Leistung sowie die hinter ihnen liegenden sozialen Praktiken. Das
Kapitel "Leistungsgefühle" beschreibt, wie Leistung literarisch,
biographisch, öffentlich und wissenschaftlich mit Freude und Leid
verknüpft wurde und sich im immerwährenden Selbstzweifel der Sozialistin
Lily Braun (1865-1916) genauso manifestierte wie im Freitod von
deutschen Abiturienten. Unsicherheit, falsch verstandener Ehrgeiz,
Leistungshybris - sie alle liefern die Psyche bereits der Ausbeutung
aus, die damit nicht erst dem Neoliberalismus der Gegenwart zum Opfer
fällt.[3]

All dies hat mit "Leistungspraktiken" zu tun, Thema des herausragenden
dritten Kapitels. Anhand der Deutungsmacht von Techniken der
Leistungsmessung wie Schulnoten, des staatlichen Berechtigungswesens,
des IQ-Tests und des Leistungswettbewerbs in Sport und Wissenschaft
zeigt Verheyen überzeugend, wie problematisch dies werden kann, weil
demnach "Leistung ist, was sie zur Leistung machen" (S. 57). Schulnoten
etwa suggerieren ein Leistungsniveau, das den Prozess des
Lernfortschritts eines Schülers überhaupt nicht wiedergeben kann. Der
IQ-Test, der in den 1920er- und 1930er-Jahren in den USA verwendet
wurde, um die Bevölkerung "demokratisch und transparent" (S. 77) auf
Bildungsinstitutionen und Arbeitsplätze zu verteilen (was übrigens mit
Demokratie ebenfalls nicht viel zu tun hat), entpuppte sich später als
"Kulturtest" (S. 79), als Stabilisator sozialer wie rassischer
Segregation, da er maßgeblich von Übung abhing - die weißen Eliten
weitaus eher möglich war als anderen. Individuelle Leistung wurde so zur
realen Größe objektiviert, mit der Menschen unterschieden und
hierarchisiert wurden - die beschriebenen Empfindungen des ersten
Kapitels zeigen die Wechselwirkung und Wirkmächtigkeit dieser Techniken
bis in das Individuum hinein.

Auf diesem Fundament baut Verheyen anhand von vier Kapiteln mit den
Beispielen Leistungsarten, Leistungsbegriff, Leistungssteigerung und
Leistungskritik den zweiten Teil des Buches auf. Hier veranschaulicht
sie mit teilweise überraschenden Befunden die Wandelbarkeit und
Ausprägung des Leistungsverständnisses vom frühen 19. bis ins letzte
Drittel des 20. Jahrhunderts. In Kapitel 4 hält Verheyen dem
"bürgerlichen Leistungsethos" als narrativer Grundlage der gegenwärtigen
Leistungsgesellschaft quellennah die Geschichte von Ferdinand Beneke
(1774-1848) entgegen. Der Jurist aus dem frühen 19. Jahrhundert habe
zwar auch gearbeitet, und zwar mit großer Regelmäßigkeit. Aber
mindestens genauso wichtig scheinen ihm die Kindererziehung, die Rolle
des Ehemanns und die gesellschaftliche Aktivität gewesen zu sein. Zwar
waren dies Selbststilisierungen, sie stützen jedoch Verheyens Argument,
weil Beneke sich als idealer bürgerlicher Mann darstellte. Eigentlich,
so zeigen es weitere Quellen, habe Beneke sogar als jemand gegolten, der
eher zu viel als zu wenig gearbeitet habe. Leistung habe daher im
bürgerlichen Wertehimmel vor allem als Selbstvervollkommnung gegolten
und das Verb "Leisten", so Verheyen in einem kleinen
begriffsgeschichtlichen Exkurs, habe lange eher die Pflichten gegenüber
anderen Menschen gemeint, nämlich im weitesten Sinne 'Gesellschaft zu
leisten', anstatt die eigene, individuelle Kraft hervorzuheben. Hier
kann man nachfragen, ob nicht gerade die Geselligkeit eines Beneke, von
Verheyen zu Recht als zusätzliche Anstrengung charakterisiert, nicht
auch ganz wesentlich zum gesellschaftlich geforderten
Leistungsrepertoire gehörte. Ähnliches könnte für die Kontrolle der
'korrekten' Kindererziehung und die Präsentation des 'funktionierenden'
Familienlebens gelten. Auch der Hinweis, dass dieser exklusive
Lebensstil überhaupt erst durch andere Menschen, beispielsweise als
Dienstpersonal tätige, ermöglicht wurde, die ganz anderen Arbeits- und
Leistungsanforderungen unterworfen waren, und darüber hinaus doch wohl
'Leistungen' in Form von Finanzkraft voraussetzte, wird zwar genannt,
kommt aber fast zu spät - eine frühere Relativierung hätte dem zunächst
recht einseitigen Bild gutgetan.

Kapitel 5 thematisiert die keinesfalls einheitliche "Entstehung des
modernen Leistungsbegriffs" (S. 127) anhand der Teilbereiche
(Arbeits-)Wissenschaft, Rechtslogik und Wohlfahrtsstaatlichkeit im
Verlauf des 19. Jahrhunderts. Verheyen zeichnet nach, wie "Leistung" mit
dem Oberthema Arbeit verbunden wurde, zunächst als
physikalisch-technische Größe, die die optimale Ausnutzung von Kraft
maß. Durch die junge Physiologie und den Neuentwurf des menschlichen
Körpers wanderte die Kategorie diskursiv vom Sozialen ins Physikalische
- und wurde quantitativ vergleichbar. Mit der Gegenüberstellung von
Leistung als "Schlüsselkategorie" (S. 140) des Bürgerlichen Gesetzbuches
und der damit einhergehenden Generalisierung von Leistung in vertraglich
geregelten Arbeitsverhältnissen war sie aber nicht einseitig
kapitalistisch auslegbar, sondern stand in einem ökonomisch-rechtlichen
Wechselverhältnis. Verheyen kommt hier zu dem interessanten Befund, dass
Leistung als "Grundbegriff der staatlichen Regulierung" (S. 152) zu
sehen sei, der die Marktlogiken abzufedern und einzuhegen half.

Mit Kapitel 6 und 7 springt Verheyen dann über das Fin de Siècle hinweg
ins 20. Jahrhundert, in dem sich die Leistungsmessung zur
Leistungssteigerung transformierte, was an der Ausbreitung des
Sozialdarwinismus und dem Werk Francis Galtons (1822-1911) zur
Vervollkommnung der 'Menschenklasse' gezeigt wird. Ergänzt wird dies um
die Entdeckung der körpereigenen Hormone und den daraus resultierenden
Gedanken zur gezielten Leistungssteigerung in dieser "Epoche des
Enhancement" (S. 171). In Verbindung mit der Rationalisierung der Arbeit
zeigt Verheyen nachvollziehbar - eindrücklich demonstriert am Kontroll-
und Konkurrenzsystem des Warenhauses (S. 180f.) - wie neben dem
Leistungsvergleich auch Leistungssteigerung zur menschlichen
Alltagserfahrung wurden. Eine Erfahrung, die der Nationalsozialismus
noch einmal pervertierte, die grundsätzlich aber gerade kein
NS-Spezifikum darstellt, wie Verheyen zu Recht betont, sondern eine
tiefere und längere Geschichte besitzt. Für die Zeit nach 1945 fasst sie
die Debatten um die Leistungskritik von links und den durch Pierre
Bourdieu und Michael Hartmann infrage gestellten Nimbus von Leistung als
Generator sozialer Gerechtigkeit zusammen. Daraus folgt, dass
individuelle Leistung schwerer auszumachen ist als zuvor, dies
andererseits aber immer mehr zum Erfolgsmerkmal wird, womit Verheyens
beeindruckende Geschichte in die aktuell ausgemachte "Gesellschaft der
Singularitäten"[4] mündet.

Nina Verheyen erzählt in ihrer schlanken, wunderbar leicht geschriebenen
Studie die Geschichte der Leistung und kommt zu einem Ergebnis, das man
sich immer wieder bewusstmachen sollte: Leistung ist keine gesetzte
Kategorie, sondern historisch gewachsen und damit "genuin sozial" (S.
206f.). Abwägend und differenzierend einerseits, mit gegenwartsbezogenen
Pointen versehen andererseits, bietet dieses Buch Erkenntnisgewinn und
Freude in einem. Mehr kann man einem Buch nicht wünschen - außer
vielleicht eine bessere Nachweispolitik: Warum versieht man einen
Endnotenapparat mit Textverweisen, wenn der Leser im Text selbst leider
nur selten erahnen kann, dass überhaupt auf weitere Informationen
verwiesen wird? Nicht nur deswegen darf man sich auf die
Habilitationsschrift freuen, für die Verheyen schon Fußnoten versprochen
hat.


Anmerkungen:
[1] Kai Dröge/Kira Marrs/Wolfgang Menz (Hrsg.), Rückkehr der
Leistungsfrage. Leistung in Arbeit, Unternehmen und Gesellschaft, Berlin
2008, S. 7.
[2] Vgl. die Übersicht auf Perlentaucher,
https://www.perlentaucher.de/buch/nina-verheyen/die-erfindung-der-leistung.html
(10.09.2018).
[3] Vgl. Byung-Chul Han, Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen
Machttechniken, Frankfurt am Main 2014, insb. S. 43-46.
[4] Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum
Strukturwandel in der Moderne, Berlin 2017.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Ruben Hackler <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2018-3-171>