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2014/05/20 08:40:22
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Drei Familien im Mittelpunkt der St. Wendeler Stadtgeschichte
Datum 2014/05/20 23:45:30
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15
2014/05/05 20:09:46
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Buchvorstellung in Tholey am Dienstag, 6. Mai, im Rathaus
Betreff 2014/05/20 23:45:30
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15
2014/05/20 08:40:22
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Drei Familien im Mittelpunkt der St. Wendeler Stadtgeschichte
Autor 2014/05/20 23:45:30
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15

[Regionalforum-Saar] Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft.

Date: 2014/05/20 23:43:59
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Paul, Ina Ulrike; Faber, Richard (Hrsg.): Der historische Roman zwischen
Kunst, Ideologie und Wissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann
2013. ISBN 978-3-8260-5021-3; 536 S., mit Abb.; EUR 49,80.

Inhaltsverzeichnis:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/toc_20674.pdf>

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Christoph Deupmann, Institut für Germanistik, Karlsruher Institut für
Technologie
E-Mail: <christoph.deupmann(a)... historische Roman ist erstens ein Roman und zweitens keine
Historie."[1] Nähme man Alfred Döblins Diktum beim Wort, würden
historische Romane kaum in den Fokus des gemeinsamen Interesses von
Literatur- und Geschichtswissenschaft geraten. Tatsächlich wirft Döblins
Satz jedoch mehr Fragen auf, als er im Gestus der Klarstellung
beantwortet: Wie ist die Beziehung zwischen Literatur und Geschichte,
Fiktion und historischem Wissen, ästhetischer und historiografischer
Form in Hinsicht auf den historischen Roman zu denken? Literarizität
storniert jedenfalls nicht einfach Historizität, sondern gehört
womöglich zu deren Darstellungsbedingungen.

Die 27 aus Geschichts-, Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften
kommenden Beiträger/innen des Bandes, der in Teilen auf eine
Ringvorlesung von 2009 zurückgeht, arbeiten sich an solchen Fragen in
theoretisch unterschiedlich ambitionierten Anläufen ab. Die Herausgeber,
die Historikerin Ina Ulrike Paul und der Literatur- und
Religionssoziologe Richard Faber (beide Freie Universität Berlin), haben
die Texte in drei Sektionen gegliedert: In der ersten geht es um das
Nähe- und Konfliktverhältnis von "Geschichtsschreibung und Literatur",
in der zweiten um exemplarische "Fallstudien", in der dritten,
kürzesten, um "[k]ontrafaktische Zeitgeschichte" in Romanen seit 1945.
Gattungsbezogen gibt sich der Band eher großzügig: Tatsächlich
untersuchen die Aufsätze nicht nur historische Romane, sondern auch
Erzählungen, Dramen und Filme. Dem Gewinn an Einsichten und Anregungen
schadet diese Inkonsequenz freilich nicht.

Dass Darstellungen von Geschichte erzählende Verfahren in Anspruch
nehmen, ist keine neue Erkenntnis, wie der wiederholte Rekurs der ersten
Sektion auf Überlegungen bei Droysen, Carlyle und White verdeutlicht.
Den Anfang macht Burkhard Gladigows historisch weit ausholender Beitrag,
der anhand von Fiktionen außerirdischer Beobachter von der Antike bis
zur modernen Science Fiction das menschliche Zeit- und
Geschichtsverständnis beleuchtet. Im nachfolgenden Interview unternimmt
Jörn Rüsen einen pointierten Klärungsversuch der 'metahistorischen'
Probleme von "Wahrheit, Sinn und Konstruktion", indem er (gegen Hayden
White) die "Tatsachenrichtigkeit" (S. 47) zum unabdingbaren Kriterium
historischer Wissenschaft erklärt - und damit auch zum Korrektiv aller
journalistischen und literarischen Repräsentation von Vergangenheit. Das
wird an einer 'false memory' wie Binjamins Wilkomirskis
pseudo-autobiografischen "Bruchstücken. Aus einer Kindheit 1939-1948"
von 1995 besonders flagrant; Katja Stopka nimmt dieses Buch zum Anlass
ihres Plädoyers für eine "engere Kooperation zwischen
Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft" (S. 79). Rüsens
Aussagen bringen jedoch eine zentrale Einsicht des Bandes auf den Punkt:
Literatur trägt zur Selbstreflexion der historischen Wissenschaften,
ihrer Erkenntnisbedingungen und Darstellungsformen bei. Glauben
Historiker, sie seien "Herren des Verfahrens", geraten ihre
Darstellungen zu "schlechte[r] Literatur" (S. 53). Otto Gerhard Oexles
Aufsatz spitzt diese Überlegung zu, indem er in Claude Simons Romanen
über Ereignisse im Zweiten Weltkrieg die "Destruktion jeglichen
Anspruchs" ausmacht, "zu wissen oder gar sagen zu können, 'wie es
eigentlich gewesen'" (S. 65). Die wechselvollen Annäherungen und
Entfernungen zwischen Geschichte und Literatur vom Historismus bis zur
Gegenwart rekonstruiert Wolfgang E. J. Weber unter dem Gesichtspunkt der
historiografischen Methodologie.

Einen ungewöhnlichen Beitrag zur Sektion liefert Jürgen Link mit
"Prolegomena" zu seinem eigenen "aktualhistorischen Roman" "Bangemachen
gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee" (2008), einem
literarischen Versuch, "Struktur- wie Ereignisgeschichte, [...] Kultur-,
Diskurs-, Intelligenz- und Subjektivitätsgeschichte" zusammenzuführen
(S. 116). In der Doppelrolle als Literaturwissenschaftler und
Schriftsteller skizziert Link darin im Blick auf die '1968er' eine
Autorpoetik, die die spezifische Leistung literarischer Darstellung
exponiert: Ihre Geschichte lässt sich womöglich nur in der
"Mehrstimmigkeit" eines Textes darstellen, dessen 'Ich', wie sein
Romanauszug veranschaulicht, durch ein "'zerbröckelnde[s]' Wir" (S. 118)
ersetzt wird.

Die zweite, umfangreichste Sektion zu literarischen "Fallstudien"[2]
setzt mit Margarete Zimmermanns Deutung von Annie Ernaux' "hybride[n]",
gattungsmäßig kaum einzuordnenden "Les Années" als historischer
'Soziographie' in der Nachfolge Marcel Prousts und Virginia Woolfs ein,
die sich auf das Partikulare als Erinnerungsträger berufen. Damit ist
eine - quer durch den Band führende - Reihe eröffnet, die die
('kritische') Referenz von Literatur auf geschichtliche Wirklichkeit
unterstreicht. Das wird zumal am Beitrag des Mitherausgebers Richard
Faber über Fontanes "Effi Briest" deutlich: Er weist mit Carlo Ginzburg
alle "modischen Theorien" zurück, welche Geschichte in Fiktion auflösen
(S. 393), und sieht in Fontanes Romanfiktion ein Produkt 'teilnehmender'
Beobachtung. Diesem Interesse am Autor als "Historiograph[en] der
zeitgenössischen Verhältnisse" folgen auch Perdita Ladwigs Aufsatz über
"Die Vizekönige" des italienischen Journalisten und literarischen
'Veristen' Federico De Roberto, Brunhilde Wehingers gendertheoretische
Überlegungen zu George Sands "Nanon" sowie die Beiträge von Christine de
Gemeaux über Marguerite Yourcenars "Die Schwarze Flamme" und von Helmut
Hanko über Leo Perutz' "Nachts unter der Steinernen Brücke". Jens
Flemmings (leider mit falschem Kolumnentitel versehener) Aufsatz
versteht Arnold Zweigs autobiografisches "Schreiben über den Krieg"
("Der Große Krieg der weißen Männer") als Form einer Therapie, "um das
Trauma des Kriegserlebnisses zu bannen" (S. 291). Ricarda Huchs
quellentreues Roman-Panorama "Der große Krieg in Deutschland" inszeniert
nach Gerhard Bauer wie bei Tolstoi oder Stendhal die
"Unübersichtlichkeit" der Gemengelage im Dreißigjährigen Krieg. In die
Reihe gehört auch der Beitrag der Medienwissenschaftlerin Karin Bruns
über Uli Edels "Der Baader-Meinhof-Komplex", den sie überraschenderweise
als "Romanverfilmung" vorstellt.[3] Ihre Analyse intermedialer
Authentifizierungsverfahren wirft allerdings überlegenswerte
Anschlussfragen auf: Sind "Polizeidokumente, Pressefotografien und
Tonbandaufnahmen", Fernsehbilder etc. tatsächlich "Zeichen erster
Ordnung" (S. 156) oder nicht bereits darstellende Formen, die die
Referenz auf historische Ereignisse 'aufschieben'?

Eine andere Reihe von Beiträgen stellt den Rekurs literarischer Texte
auf Erinnerung und Überlieferung ins Zentrum: Andreas Pfersmann
untersucht Augusto Roa Bastos und Patrick Chamoiseaus Romane anhand
ihrer Anmerkungspraxis als Medien einer Gegengeschichte, die sich
gegenüber 'offiziellen' Darstellungen dissident verhält. Gegengeschichte
akzentuiert eine 'Geschichte von unten', also die apokryphe Geschichte
kollektiver Akteure oder ihrer Repräsentanten, die im öffentlichen
Diskurs zum Schweigen gebracht worden sind. Diese "benjaminartige Idee"
(S. 184)[4] bestimmt für Heribert Tommek auch Peter Weiß'
Dokumentardrama "Viet Nam Diskurs", das er als Vorstufe zum Roman "Die
Ästhetik des Widerstands" interpretiert. Eine andere Art von
Gegengeschichte, die das verdrängende Schweigen über die
NS-Vergangenheit bricht und damit "das Beschriebene [selbst]
auszulöschen" versucht (S. 231), findet sich Josef P. Mautner zufolge in
Thomas Bernhards "Auslöschung". Dass der historische Roman auch die
Bibelkritik zu seiner Sache machen kann, beleuchtet Martin Leutzsch
anhand der 'Mutter' aller Jesusromane, Carl Heinrich Venturinis
"Natürliche Geschichte des großen Propheten von Nazareth". Indem er die
Evangelien dem poetologischen Maßstab der 'Wahrscheinlichkeit'
unterstellt, behält der reich mit Quellenbelegen ausgestattete Roman das
Jesusbild eines unpolitischen Reformators übrig.

Eine dritte Perspektive richtet sich auf die Adaption historischer
Darstellungsverfahren, Stoffe und Gestalten. Ludwig Stockinger und
Ulrike Weymann machen dabei Romanbiografien zum Gegenstand: Stockinger
bezieht Friedrich von Hardenbergs romantische Bestimmung des Romans als
einheitsstiftende "Mythologie der Geschichte" auf Penelope Fitzgeralds
"The Blue Flower"; Weymann interpretiert Heinrich Manns "Henri Quatre"
mit Michail Bachtin als grotesk-karnevalistische Außerkraftsetzung
etablierter Ordnungen. Die Savonarola-Erzählungen, die Ralf Georg Czapla
untersucht, demonstrieren dagegen die Adaptionsfähigkeit einer
historischer Gestalt: Von Thomas Manns Erzählung "Gladius Dei" über
Fritz Steins "Savonarola der Zweite" bis zu Friedrich Norfolks
faschistischem Roman "Der Kondottiere" werden fiktive oder an
zeitgenössischen Personen orientierte Figuren in die historische Kontur
eingetragen; die Reihe kommt bei der Überblendung Joseph Goebbels' mit
dem "Glaubenseiferer" aus (S. 369). Eine spielerische Adaption
historiografischer 'Quellen' führt die Mitherausgeberin Ina Ulrike Paul
an Daniel Kehlmanns Erfolgsroman "Die Vermessung der Welt" vor: Die für
manche 'Experten' anstößigen Inkongruenzen zwischen Figur und Person
(Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauß) demonstrieren letztlich
die Konstruktivität jeglicher Geschichte (S. 176f.). Solch spielerischer
Umgang mit historischen Stoffen bleibt im vorliegenden Band leider die
Ausnahme. Virtuos potenziert wird das Verhältnis von Geschichte und
(dramatischem) Spiel freilich in Arthur (nicht Alfred, S. 371!)
Schnitzlers Einakter "Der grüne Kakadu" (Erhard Stölting), wo die
Geschichte als Spiel vom Ernst der Geschichte (der Französischen
Revolution) eingeholt wird.

Die letzte Sektion erweitert den Fokus auf die 'Uchronie', die auch in
der Geschichtswissenschaft die Probe auf die "Schlüssigkeit von
Materialanordnungen, Narrationen und Konklusionen" anstellt (S. 470).
Kontrafaktische Fiktionen wirken Erhard Schütz zufolge als
"parabolische" Spiegel, indem sie apokryphe Versionen der Geschichte
darbieten und zugleich von der eigenen Gegenwart Zeugnis ablegen (S.
476). Den "kindlichen Wunsch", die Grauen des Nationalsozialismus
ungeschehen zu machen - ein Motor der politischen Geschichte nach 1945
-, bewahrt indes nur die Fiktion (S. 485). Alfred Anderschs
"Winterspelt", analysiert von Barbara Picht, entspricht als Erzählung
einer potenziellen Devianz der Geschichte freilich nur fast dem Typus
des allohistorischen (alternativgeschichtlichen) Romans: Zwar scheitert
der Plan der kampflosen Übergabe eines Bataillons bei der
Ardennen-Offensive, aber der Roman führt vor, dass Geschichte aus dem
entsteht, was man für möglich hält (S. 502f.). Dass die 'faits
accomplis' der Geschichte die Denkmöglichkeiten nicht begrenzen sollten,
macht Philip K. Dicks Alternativweltroman "The Man in the High Castle"
geltend, wie Reinhard Brenneke abschließend argumentiert: Selbst wenn
die erdachte Welt alternativlos erscheint, so erinnert die
kontrafaktische Konstruktion doch daran "that we have to take
responsibility for the whole of history" (S. 520).

Angesichts der zahlreichen vorkommenden Autoren und Titel vermisst man
ein Personen- und Werkregister. Eine sorgfältige Schlussredaktion hätte
dem Buch ebenfalls gut getan. Dass literatur- und
geschichtswissenschaftliche Forschungen jedoch in einen ertragreichen
Dialog treten können, lässt sich bei der Lektüre des umfangreichen
Bandes erleben.


Anmerkungen:
[1] Alfred Döblin, Der historische Roman und wir [1936], in: ders.,
Aufsätze zur Literatur, hrsg. von Walter Muschg, Olten 1963, S. 169; in
der Einleitung des rezensierten Bandes zit. auf S. 15.
[2] Die Entstehungszeit der untersuchten Werke ist im Inhaltsverzeichnis
jeweils genannt; die Auswahl stammt aus dem Zeitraum 1800-2008.
[3] Stefan Aust bezeichnet seinen "Baader-Meinhof-Komplex" (zuerst 1985)
dagegen als "Protokoll" oder "Chronik" - was allerdings den Anteil der
'Tatsachenphantasie' (um noch einmal einen Ausdruck Döblins zu
gebrauchen) überspielt.
[4] Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte [1940], in:
ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann und
Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 693-704.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Jan-Holger Kirsch <kirsch(a)...