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2013/04/13 15:49:26
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] über den Aberglauben
Datum 2013/04/15 08:58:43
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Rezi: Die Krise des 3. Jahrhunderts n. Chr. und das Gallische Sonderreich
2013/04/08 09:55:33
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[Regionalforum-Saar] Cercle Genealogique de Mosell e Est feiert 25 jähriges Jubiläum
Betreff 2013/04/21 20:38:52
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[Regionalforum-Saar] Die Nachfolge in Familienunternehmen
2013/04/13 15:49:26
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[Regionalforum-Saar] über den Aberglauben
Autor 2013/04/15 08:58:43
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Rezi: Die Krise des 3. Jahrhunderts n. Chr. und das Gallische Sonderreich

[Regionalforum-Saar] Das Unbehagen an der Erinnerung

Date: 2013/04/14 23:19:08
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Salü,
 
heuer gibt es eine nicht ganz leicht zu lesende noch zu verstehende, aber - wie ich denke - sehr interessante Rezension. Ich weiß nicht, ob ich das Buch lesen könnte (resp. durchkäme), aber allein schon die Rezi hat was.
 
Angenehme Woche wünsche ich Euch allen da draußen.
 
Roland Geiger
 
-------------------
 
Jureit, Ulrike; Schneider, Christian; Frölich, Margrit (Hrsg.): Das
Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den
Holocaust. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag 2012. ISBN
978-3-86099-926-4; 239 S.; EUR 24,90.

Inhaltsverzeichnis:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/toc_19784.pdf>

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Aleida Assmann, Fachbereich Literaturwissenschaft/Anglistik, Universität
Konstanz
E-Mail: <aleida.assmann(a)... ist eine Intuition und daher ein vorreflexiver Zustand.
Irgendetwas stimmt nicht, aber man weiß nicht so genau, was es
eigentlich ist. Die Intuition kann ein Wegweiser für die Reflexion sein,
die sich aufmacht und zu klären versucht, was das Problem ist und wie es
behoben werden kann. In diesem Sinne werden die Thesen, die Ulrike
Jureit und Christian Schneider bereits in einer vorangegangenen
Publikation aufgestellt haben[1], im vorliegenden Band von anderen
Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Disziplinen aufgenommen und
diskutiert.

So wie Alexander und Margarete Mitscherlich in den 1960er-Jahren der
Kriegsgeneration ins Gewissen redeten und ihr ihre 'Unfähigkeit zu
trauern' vorwarfen, werfen Jureit und Schneider nun vierzig Jahre später
der Nachkriegsgeneration der 68er falsches Erinnern vor. Die Gefühlslage
der 'nachholenden Trauer' sei absolut verfehlt, so die Botschaft an die
68er-Generation, weil sie auf einem falschen Bewusstsein gründe. Aus
psychoanalytischer Perspektive hebt Schneider hier besonders die
Überidentifikation mit den Opfern hervor, die zu einer einfachen Lösung
des Schuldproblems durch Lossagung von den Eltern und dem deutschen
Schuldkollektiv geführt habe. "Der ermordete Jude wurde das erste role
model" (S. 89), dem andere Erniedrigte und Beleidigte der Dritten Welt
gefolgt seien (von den auf Plakaten hochgehaltenen 'Helden' und Kämpfern
dieser politischen Bewegung ist nicht die Rede). Der Opferbegriff spielt
in weiteren Beiträgen eine wichtige Rolle. Mit klaren und griffigen
Konturen arbeitet etwa Martin Sabrow den "Paradigmenwechsel von der
historischen Heroisierung zur historischen Viktimisierung" heraus (S.
42). Diese Wende führt er jedoch nicht auf die 68er-Generation zurück,
sondern bezieht sie auf die Gegenwart. Gleichzeitig rekonstruiert er die
Kontinuität eines "deutschen Opferdiskurses", den er bis 1918
zurückverfolgt. Diese langfristige Perspektive wird möglich, weil er die
heroische Opferbereitschaft der Deutschen nach dem ersten und ihre
Selbstviktimisierung nach dem zweiten Weltkrieg als Manifestationen ein
und derselben Grundhaltung darstellt.

Mit ihrem 'Unbehagen an der Erinnerung' distanzieren sich die Autoren
von einem vermeintlichen Grundkonsens der bundesdeutschen
Erinnerungskultur. Jureits polemische Abwehr richtet sich dabei nicht
nur gegen die Deutungsmacht der 68er, sondern viel grundsätzlicher auch
gegen das Konzept einer gemeinsamen transgenerationellen Erinnerung, wie
es weltweit praktiziert und seit Jahrzehnten in der internationalen
Fachliteratur diskutiert wird. Für sie kann und darf es keine Erinnerung
an Ereignisse geben, die man nicht selbst erlebt hat. Von kollektiver
Identität und Gruppenzugehörigkeiten, die durch Übernahme einer
nationalen Geschichte auf der Basis medialer und kultureller
Überlieferung entstehen, hält sie nichts. Der Identitätsbezug der
deutschen Holocaust-Erinnerung ist für sie deshalb ein reiner
Selbstbetrug: "Wir tun schlicht so, als wenn es um Geschehnisse geht,
die wir selbst erfahren und erlitten haben, und simulieren einen
Selbstbezug, in den wir uns dann emotional hineinsteigern." (Der längere
Abschnitt, in dem dieser Satz steht, findet sich textgleich auf S. 10
und S. 27.) Ich stehe ratlos vor solchen Sätzen, weil ich außer Binjamin
Wilkomirski alias Bruno Dössekker niemanden kenne, auf den diese
Beschreibung zutrifft. Ungewöhnlich für eine Historikerin ist, dass
solche Behauptungen nirgends durch den Verweis auf Texte illustriert
oder empirische Daten untermauert werden. Kulturelle Erinnerung wird von
Jureit offensichtlich perhorresziert, weil sie sie mit Identitätswechsel
und Selbstbetrug gleichsetzt. Deshalb plädiert sie auch für eine
Historisierung des Holocaust, mit der der falsche Identitätsbezug zu
diesem Geschehen endgültig aufgelöst werden soll.

So verwirrend für mich diese inzwischen mehrfach wiederholte Grundthese
des Buches weiterhin ist, so dankbar nehme ich die begrifflichen
Differenzierungen auf, mit denen der Sammelband entstandene
Missverständnisse korrigiert. Werner Konitzer zum Beispiel unterscheidet
zwischen 'Opferidentifizierung' und 'Opferorientierung' im Gedenken.
Seine Unterscheidung kann helfen, unterschiedliche Rahmen
transgenerationeller Weitergabe präziser zu beschreiben. Mit dem Label
'opferidentifiziertes' Erinnern würde ich zum Beispiel die zweite
Generation der Holocaust-Überlebenden erfassen, die sich selbst als '2G'
(Kürzel für 'zweite Generation') bezeichnen und ihre eigene Biografie
als transgenerationelle Extension des elterlichen Traumas begreifen. In
Deutschland dagegen kann man mit Konitzer argumentieren, dass der
Durchbruch in Richtung auf eine Orientierung an den jüdischen Opfern
erst 1979 mit der US-amerikanischen Fernsehserie "Holocaust" einsetzt.
Diese Serie löste eine Empathie-Blockade in der deutschen Bevölkerung
und legte damit den Grundstein zu einer neuen,
generationenübergreifenden Erinnerungskultur. Mit der opferorientierten
Erinnerungskultur ordnen sich die Deutschen, wie Konitzer schreibt, in
die europäische und weltweite Erinnerungskultur ein. Im Anschluss daran
wäre zu fragen, ob wir damit schon eine Erinnerungskultur haben wie
andere Länder auch. Sicher fällt die Erinnerung im Land der Täter anders
aus als in Ländern, die zwar kollaboriert haben, aber historisch auch
durch starke Widerstandstraditionen geprägt sind. Deshalb gibt es in
Deutschland zum Beispiel bis heute keine 'Straße der Deportierten' wie
in Paris, aber inzwischen jede Menge Stolpersteine, die auf Initiativen
der Zivilgesellschaft zurückgehen. Eine Welt ohne Empathie und
Parteinahme für unschuldige zivile Opfer wäre, so Konitzer, "ungleich
unbehaglicher als die gegenwärtige Erinnerungskultur" (S. 124). Aus
psychologischer Sicht betont auch Gudrun Brockhaus, dass "die
räuberische Aneignung einer unschuldigen Opfer-Identität" (Modell
Wilkomirski) nur wenigen gelungen sei (S. 109). Sie plädiert für eine
Entmoralisierung der Diskussion, die es erlaubt, das Gefühlsspektrum zu
erweitern und auch politisch unkorrekte Gefühle zuzulassen. Vor allem
wünscht sie sich für die nachfolgenden Generationen die Freiheit,
endlich: 'Wir sind anders!' sagen zu können und sich damit aus einem
kollektiven Identitätszwang zu lösen.

Die Bedeutung der 68er für die deutsche Erinnerungsgeschichte steht im
Mittelpunkt mehrerer Beiträge. Jörn Rüsen kritisiert die
68er-Generation, die die Schuld zwar thematisiert, aber sich selbst
dabei moralisch von ihr distanziert habe. Diese Erinnerung sei zudem
neurotisch, weil sie nicht auf Kontinuität, sondern auf einen Bruch
gegründet sei (S. 152). Fortschritte für eine humanere Geschichtskultur
ergeben sich für ihn erst mit fortschreitenden Inklusionen in eine lange
Geschichte. Margrit Frölich steuert eine prägnante Lektüre von Bernhard
Schlinks Roman "Der Vorleser" als Selbstporträt der 68er-Generation bei,
in dem freilich nicht die Identifikation mit den Opfern, sondern mit
einer Täterin als eine Allegorie der Schuldverstrickung mit der
Erfahrungsgeneration der Eltern im Mittelpunkt steht. Die Verfilmung des
Romans geht einen Schritt weiter und entlässt die dritte Generation aus
diesem Nexus der Verstrickung, indem die Tochter am Schluss die Freiheit
hat zu sagen: 'Ich bin anders!'

Weitere Beiträge beziehen sich auf religiöse, philosophische und
politische Dimensionen des Erinnerns. Johann Kreuzer untersucht den
Zusammenhang von Erinnern und Vergessen an aufschlussreichen Zitaten von
Plato bis Theodor Adorno. Hermann Düringer rekapituliert die
Auseinandersetzung zwischen Max Horkheimer und Walter Benjamin über die
Frage der Abgeschlossenheit oder Offenheit der Geschichte und betont
damit die wichtige Unterscheidung zwischen Historisieren und Erinnern.
Benjamins Einsicht bestand ja darin, "dass Geschichte nicht allein eine
Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist" (S.
57), womit sich, wie Jürgen Habermas dann später hinzufügte, "unsere
Verantwortung auch noch auf die Vergangenheit ausdehnt" (S. 59). Weit
über dieses Ziel hinaus schießt allerdings die Hoffnung auf Versöhnung
zwischen Tätern und Opfern, die Düringer als "ein Angeld auf die große,
die messianische Erlösung" versteht (S. 63).

Wichtige aktuelle Probleme werden in dem Sammelband unter anderem von
Harald Schmid angesprochen. Er verfolgt die beispiellose Karriere des
Begriffs 'Erinnerungskultur' und untersucht ihre politischen und
diskursiven Rahmenbedingungen. Das neue Unbehagen an derselben führt
Schmid auf ihre erfolgreiche Institutionalisierung und den damit
verbundenen affirmativen Charakter zurück, dem alles Beunruhigende und
Verstörende abgehe. Auch er wünscht sich den Identitätswechsel von einem
negativen zu einem positiven Freiheits- und Demokratieverständnis. Claus
Leggewie schreibt über die Problematik der sogenannten
'Erinnerungsgesetze', die die Leugnung der jeweils staatstragenden
Erinnerung unter Strafe stellen und als Machtmittel politischer
Selbstimmunisierung eingesetzt werden. Jens Kroh erinnert an die
Gründungsgeschichte der transnationalen Holocaust-Task-Force, die den
institutionellen Kern der europäischen und globalen Holocaust-Erinnerung
bildet, und beschreibt nationale Exkulpationsstrategien, die mit dieser
Erinnerung verbunden werden. Am Ende, so stellt er in Aussicht, könnte
sich Europa als eine inklusive Gemeinschaft der Opfer ohne Täter
imaginieren. Der Opferbegriff wird in Astrid Messerschmidts Beitrag noch
einmal erweitert, indem er nun auch noch die Opfer der
Holocaust-Pädagogik mit einschließt. Sie kritisiert einen Ansatz, der zu
moralischer Selbstbestätigung und Selbstversicherung führt und
argumentiert, dass in der Migrationsgesellschaft eine größere
Sensibilität für eine Pluralität historischer Schlüsselereignisse
erforderlich sei.

In postsouveränen Gesellschaften, so die Herausgeber, haben kollektive
Identitäten, Moralisierung und absolut gesetzte Glaubensformeln keinen
Platz mehr. Sie plädieren deshalb für eine konsequente Historisierung
der deutschen Erinnerungskultur, tun dies aber paradoxerweise auf eine
hochmoralische Weise durch die Entlarvung falscher Gefühle,
Verschleierungstaktiken und Formen der Inauthentizität. Man gewinnt
deshalb den Eindruck, dass hier das alte argumentative Rüstzeug der 68er
noch einmal gegen die 68er in Anschlag gebracht wird. Ob dieses
intergenerationelle Gefecht um Deutungsmacht wirklich den Nerv der
aktuellen deutschen Erinnerungskultur trifft, müssen die Leserinnen und
Leser für sich entscheiden. Umso mehr ist zu begrüßen, dass diese Thesen
nun in einen vielstimmigen Sammelband eingelagert sind, der es
ermöglicht, unterschiedliche Positionen zu vergleichen und sich dabei
selbst ein Bild von der Geschichte und dem aktuellen Stand der deutschen
Erinnerungskultur zu machen.


Anmerkung:
[1] Ulrike Jureit / Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der
Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010; vgl. die Rezension von
Cornelia Siebeck, in: H-Soz-u-Kult, 11.03.2011,
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-181>
(04.04.2013).

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Christoph Classen <classen(a)...