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2012/12/22 21:57:28
Rolgeiger
Re: [Regionalforum-Saar] über den Umgang mit unangen ehmen Wahrheiten
Datum 2012/12/23 14:26:12
Hermann Scheid
Re: [Regionalforum-Saar] über den Umgang mit unangen ehmen Wahrheiten
2012/12/22 16:28:42
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] über den Umgang mit unangen ehmen Wahrheiten, Teil 2
Betreff 2012/12/03 16:38:21
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] über Nicola Marschall
2012/12/22 21:57:28
Rolgeiger
Re: [Regionalforum-Saar] über den Umgang mit unangen ehmen Wahrheiten
Autor 2012/12/25 00:46:35
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Zwangsarbeit und Rückkehr i n die Sowjetunion

[Regionalforum-Saar] über die Wiederaufführung der Geschichte, auf gut Denglish "Reenactment"

Date: 2012/12/23 13:02:01
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Roselt, Jens; Otto, Ulf (Hrsg.): Theater als Zeitmaschine. Zur
performativen Praxis des Reenactments. Theater- und
kulturwissenschaftliche Perspektiven (= Theater 45). Bielefeld:
Transcript - Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis 2012.
ISBN 978-3-8376-1976-8; 260 S.; EUR 27,80.

Inhaltsverzeichnis:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/toc_19780.pdf>

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Georg Koch, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Stefanie
Samida, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
E-Mail: <koch(a)... <samida(a)... rund zwei Jahrzehnten lässt sich in ganz verschiedenen
gesellschaftlichen Bereichen ein Trend zum 'Erleben' fassen. Er
manifestiert sich zunehmend auch in performativen Praktiken, wie man sie
etwa aus dem Theater kennt. Stellen sie dort nichts Neues dar, sind sie
in den Künsten und der populären Geschichtsdarstellung bzw.
Geschichtsvermittlung - jedenfalls in Deutschland - ein relativ junges
Phänomen, das als 'Reenactment' bezeichnet wird. Während jedoch die
Wurzeln des 'historischen' Reenactments deutlich weiter zurückreichen,
spielt das Reenactment in den Künsten erst seit Beginn der
Jahrtausendwende eine größere Rolle. Auch das wissenschaftliche
Interesse an diesem Phänomen hat im deutschsprachigen Raum in den
letzten Jahren deutlich zugenommen, wobei sich die Auseinandersetzung
weitgehend auf historische Darstellungen und Inszenierungen in
Freilichtmuseen und auf sogenannte 'Mittelaltermärkte' beschränkte.[1]
Im Vordergrund der Forschung standen solche Formen, die das Nachstellen
und Nachspielen konkreter historischer Ereignisse - wie zum Beispiel die
Schlacht bei Gettysburg 1863 und solche des Ersten Weltkriegs - oder des
urgeschichtlichen Alltags zum Gegenstand hatten. Letztere firmieren
zumeist unter dem Begriff 'Living History', bei dem es weniger um das
Nachstellen von Ereignissen als vielmehr generell um die Darstellung
vergangener Kulturen geht. 'Living History', so könnte man festhalten,
dient also als Oberbegriff für die verschiedenen Formen körperlichen
Erlebens von Vergangenheit, wobei die Forschung zu diesem Phänomen noch
am Anfang steht.[2]

Der von Jens Roselt und Ulf Otto herausgegebene Sammelband "Theater als
Zeitmaschine" geht auf eine Tagung des "Herder-Kolleg. Zentrum für
transdisziplinäre Kulturforschung" der Universität Hildesheim zurück. Er
versammelt neben der Einleitung insgesamt zwölf Beiträge, die sich mit
der performativen Praxis des Reenactments im Schnittfeld von Kunst, Film
und Populärkultur befassen. Damit hebt sich der Band deutlich von den
bisher erschienenen Büchern zum Thema 'Reenactment' ab und stellt eine
Betrachtungsweise ins Zentrum, die in der Diskussion weitgehend
unbeachtet geblieben war: die medien- und theaterwissenschaftliche
Auseinandersetzung mit diesem Phänomen.[3] Das ist umso erstaunlicher
als das Theater schon immer, wie die Herausgeber zu Recht betonen (S.
10), eine Art "Zeitmaschine" war, durch die "Gegenwart, Vergangenheit
und Zukunft in eigentümlicher Weise" verbunden sind.

Der Sammelband ist, trotz einer schmerzlich vermissten Filmographie und
einer Auflistung der im Band besprochenen Performances, von besonderem
Wert - und das nicht nur, weil er neue Einblicke aus ganz
unterschiedlichen Perspektiven zu einer Thematik liefert, die in der
historisch-kulturwissenschaftlichen Debatte kaum Erwähnung fanden.[4]
Das Buch besticht dadurch, dass sich einerseits verschiedene zentrale
Aspekte - wie zum Beispiel die Sakralität, mythische Dimension,
Erinnerungsfunktion und körperliche Praxis des Reenactments - durch
nahezu alle Artikel ziehen; andererseits nehmen verschiedene Beiträge
immer wieder die gleichen Fallbeispiele unter anderen Gesichtspunkten
auf. Dazu gehören etwa die Aufführungen der Künstlerin Marina Abramovic,
die sie 2005 an sieben aufeinander folgenden Tagen im New Yorker
Guggenheim Museum unter dem Titel Seven Easy Perfomances darbot. Diesen
Reenactments von Performances der 1960er- und 1970er-Jahre widmen sich
mal intensiver, mal weniger ausführlich die Beiträge von Erika
Fischer-Lichte (S. 13ff.), Milo Rau (S. 71ff.) und Sandra Umathum (S.
101ff.). Ähnlich verhält es sich beispielsweise mit dem von Jeremy
Deller 2001 gedrehten Film Battle of Orgreave. Der britische Künstler
ließ die im Juni 1984 entstandene Eskalation zwischen mehreren Tausend
Bergarbeitern und der Staatsmacht am Originalschauplatz - der Ortschaft
Orgreave nahe Sheffield - von Laiendarstellern, aber auch Personen, die
damals auf der einen oder anderen Seite an der Auseinandersetzung
teilgenommen hatten, nachstellen: Aus dem Krieg wurde Konzeptkunst und
das historische Ereignis dadurch in ein ästhetisches transformiert, so
Jens Roselt (S. 55). Auch in den Beiträgen von Wolfgang Hochbruck (S.
189ff.) und Ulf Otto (S. 229ff.) begegnet uns Dellers Film. Während Otto
(S. 248) in ihm eine Politisierung des Reenactment-Hobbys zu erkennen
vermag, beschreibt Hochbruck Dellers Aktion als "relativ isoliertes
wenngleich faszinierendes Projekt" und bedauert die mangelnde
Dokumentation der Reaktionen und Reflexionen von Teilnehmern und
Zuschauern (S. 205). Er betrachtet Dellers Inszenierung wegen der sehr
starken Regieeingriffe überdies nicht als klassisches Reenactment,
sondern als Abwandlung eines Festaufzugs (pageant).[5]

Nicht nur hier, sondern in allen Beiträgen zeigt sich die Schwierigkeit,
den Begriff 'Reenactment' zu fassen. Während Rau (S. 73) Reenactments
als "Re-Inszenierungen medialer und historischer Ereignisse" begreift,
sind sie für die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Nina
Tecklenburg (S. 83) "Aufführung und Wiederholung" zugleich. Umathum (S.
122) wiederum fragt sich am Ende ihres Beitrags zur Geschichte der
Performance, was Reenactments sind: "Sind es Wiederbelebungen? Sind es
andere, neue Formen der Dokumentation? Oder sind es selbst Vorlagen für
neue Reperformances?". Annemarie Matzke versucht in ihrem Beitrag über
Tanz und Choreographie, den Reenactment-Begriff nicht nur gegenüber den
Termini 'Re-Inszenierung', 'Remake', 'Revival', 'Re-Staging' und
'Re-Invention' abzugrenzen (S. 129), sondern auch gegenüber der
'Rekonstruktion' (S. 130). Während die Rekonstruktion von der
Wiederherstellung einer Choreographie als Werk ausgehe, verschiebe das
Reenactment den Fokus auf die Darstellungspraxis: "den Akt der
Verkörperung" (S. 130). Den Unterschied zwischen Ritualisierung und
Reenactment hat Matthias Warstat (S. 213ff.) anhand des alljährlichen
'Pilgerns' zur Grabstätte von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg
nachvollziehbar erläutert. Könne man den Sternmarsch der Anhänger am 10.
Jahrestag der beiden 1919 von Freikorps-Soldaten ermordeten Sozialisten
im Sinne rituellen Handelns deuten - die Teilnehmer handelten damals
nach einem ganz bestimmten Muster und bekannten Trauerkonventionen, also
gemäß tradierter Regularien -, müsse man den Marsch der Linkspartei und
ihrer Anhänger zu den Gräbern im 21. Jahrhundert hingegen völlig anders
bewerten, nämlich als "bewusstes DDR-Reenactment" (S. 222). Die Märsche
wiederholten, ja re-inszenierten lediglich ein Ritual, "das in der DDR
mit größter Selbstverständlichkeit vollzogen wurde" (S. 222). Die
Politprominenz der Linkspartei agiere als 'Autorenkollektiv', das
intentionell und reflektiert handelt, um die eigene "ambivalente
Geschichte mit einer Politik für die Gegenwart zu verbinden" (S. 223).

Der von Roselt und Otto herausgegebene Band bietet dem an der Praxis des
Reenactments interessierten Leser eine Fülle an Anregungen für
weitergehende Analysen. Die Beiträge machen zugleich aber einmal mehr
deutlich, wie Komplex der Terminus ist; darauf haben die Herausgeber in
ihrer Einleitung ebenfalls abgehoben: "Der Begriff Reenactment wurde auf
vielfältige Weise aufgegriffen, gewendet und weitergereicht. Seine
Kontur ist dadurch nicht eben schärfer geworden" (S. 8). Das mag auf den
einen oder die andere, die sich mit dem Thema beschäftigen, ernüchternd
- ja entmutigend - klingen, sollte es aber nicht sein, denn eine
verbindliche Definition gibt es schlicht nicht. Die Offenheit des
Begriffs bietet vielmehr die Chance, über die Fächergrenzen hinweg mit
ihm zu 'spielen'. Der Sammelband verdeutlicht eindrücklich, dass genau
darin sein Wert liegt.


Anmerkungen:
[1] Vgl. beispielsweise Jan Carstensen / Uwe Meiners / Ruth-E. Mohrmann
(Hrsg.), Living History im Museum. Möglichkeiten und Grenzen einer
populären Vermittlungsform, Münster 2008; Heike Duisberg (Hrsg.), Living
History in Freilichtmuseen. Neue Wege der Geschichtsvermittlung,
Rosengarten-Ehestorf 2008; Judith Schlehe u.a. (Hrsg.), Staging the
Past. Themed Environments in Transcultural Perspectives, Bielefeld 2010;
Dachverband Archäologischer Studierendenvertretungen (DASV) e.V.
(Hrsg.), Vermittlung von Vergangenheit. Gelebte Geschichte als Dialog
von Wissenschaft, Darstellungen und Rezeption, Weinstadt 2011; Berit
Pleitner, Living History, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
62, 2011, S. 220-233.
[2] Seit 2011 setzt sich das von der VolkswagenStiftung geförderte
Projekt "Living History: Reenacted Prehistory between Research and
Popular Performance", das am Zentrum für Zeithistorische Forschung
Potsdam und an der Eberhard Karls Universität Tübingen durchgeführt
wird, mit verschiedenen Aspekten der Living History auseinander,
<http://www.livinghistory.uni-tuebingen.de> (10.10.2012).
[3] Vgl. aber z.B. Inke Arns / Gabriele Horn (Hrsg.), History Will
Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen
(Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt am Main 2007.
[4] Dazu gehört auch die Frage nach Reenactments im Film, die bislang
weitgehend unbeachtet blieb, aber hier von Volker Wortmann (S. 139ff.),
Stefanie Diekmann (S. 155ff.) und Simon Rothöhler (S. 175ff.)
aufgegriffen wird.
[5] Fischer-Lichte hat sich in ihrem Beitrag ausführlich mit den Wurzeln
des Reenactments beschäftigt und darin u.a. auch die
englisch-amerikanische Pageant-Bewegung beschrieben (S. 24ff.).

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Irmgard Zündorf <zuendorf(a)...