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2012/12/09 13:12:55
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Nicola Marschall (1829-1917) - so stehts in der Zeitung
Datum 2012/12/11 00:24:42
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[Regionalforum-Saar] Die Mathematik im Altertum. Von Algebra bis Zinseszins.
2012/12/07 19:41:34
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[Regionalforum-Saar] Nicola Marschall - Buchvorstellung
Betreff 2012/12/17 13:43:40
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[Regionalforum-Saar] Schellemann zum 25ten Mal erschienen
2012/12/09 13:12:55
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[Regionalforum-Saar] Nicola Marschall (1829-1917) - so stehts in der Zeitung
Autor 2012/12/11 00:24:42
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Die Mathematik im Altertum. Von Algebra bis Zinseszins.

[Regionalforum-Saar] R. Beck: Ein Hexenprozess 1715-1723

Date: 2012/12/09 19:00:22
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Beck, Rainer: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Ein
Hexenprozess 1715-1723. München: C.H. Beck Verlag 2011. ISBN
978-3-406-62187-1; 1008 S.; EUR 49,95.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Andrea Bendlage, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und
Theologie, Universität Bielefeld
E-Mail: <abend(a)... zahlreichen deutschen Städten mehren sich seit einigen Jahren die
Bemühungen, den während der Hexenprozesse angeklagten Menschen, zumeist
Frauen, aber auch viele Kinder und Männer, Denkmäler zu setzen und sie
zu rehabilitieren. Jüngstes Beispiel ist die Stadt Bamberg, in der
Anfang des 17. Jahrhunderts fast 1.000 Menschen ihr Leben lassen
mussten. Die Stadt Freising, bekannt für einen der letzten Hexenprozesse
in Deutschland, hat bisher kein solches Denkmal. Mit seiner
tausendseitigen Studie über diesen Hexenprozess zwischen den Jahren 1715
und 1723 hat der Konstanzer Historiker Rainer Beck, der 'Meister' der
dichten Beschreibung, den Freisinger Opfern, "die man im Zuge dieses
Verfahrens in den Selbstmord trieb oder exekutierte" (S. 21), jedoch ein
gleichermaßen beeindruckendes wie bedrückendes literarisches Denkmal
gesetzt. Die Freisinger Quellen - etwa 330 umfangreiche
Vernehmungsprotokolle - blieben lange unbearbeitet, weil die Prozesse,
so der Autor, nicht in die 'klassischen' Muster eines Hexenprozesses mit
seinen mehrheitlich weiblichen Opfern einzuordnen sind, denn die
Verfahren richteten sich hauptsächlich gegen Kinder, gegen spielende und
herumstreunende Kinder.

Gleich die ersten Sätze nehmen den Leser mit in fremde Lebenswelten,
ohne, wie es in Einleitungen wissenschaftlicher Darstellungen üblich
ist, komplexe Fragestellungen und Forschungskontroversen auszubreiten.
Der Autor beschreibt in einer ihn auszeichnenden klaren Sprache zwischen
Distanz und Nähe seine erste Begegnung mit den Quellen, die schließlich
in eine zehnjährige Forschungsarbeit mündete, deren Komplexität hier
allenfalls angedeutet werden kann. Rainer Beck argumentiert jedoch auf
der Höhe der historischen Forschung, setzt sich mit
kommunikationstheoretischen Erklärungsmodellen auseinander und leuchtet
das Geschehen unter soziokulturellen, biographischen, psychologischen
und nicht zuletzt theologischen Aspekten aus, ohne die Akteure aus dem
Blick zu verlieren und ohne voreilig moderne Vorstellungen auf
vormoderne Gesellschaften zu übertragen. Er geht der einfachen Frage
nach, wie eine Gesellschaft am Vorabend der Aufklärung dazu kam,
spielende und phantasierende Kinder und Jugendliche vornehmlich aus
ärmeren Familien oder bettelnde Waisen einzusperren und hinzurichten. Er
zeigt, wie Hexereiverfahren in zeitgenössische Zusammenhänge integriert
waren, welche Kommunikationsstrukturen sich in ihrem Inneren beobachten
lassen und welche Praktiken und Erfahrungen unter dem Vorzeichen der
Hexerei tatsächlich verhandelt wurden. Die Verhörprotokolle geben
überraschende Einblicke in die Phantasiewelten von Kindern, die
durchdrungen waren von angsteinflößenden Zauber- und Fabelwesen, und die
zugleich verstörend sind, weil sich die Beschuldigten auffällig und
bereitwillig selbst gefährdeten. Was auf den ersten Blick wie eine
willkürliche Justiz gegenüber unliebsamen Bettelkindern, Waisen und
Gelegenheitsarbeitern erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als
ein systematisches Verfahren, das nicht unwesentlich von Selbst- und
Fremdbezichtigungen der Kinder beschleunigt schließlich seine grausame
Dynamik entfalteten konnte, eingebettet in eine komplexe konfessionell
und ständisch gegliederten Gesellschaft, "die ihre spezifischen
kulturellen und sozialen Merkmale aufwies und - durch die Präsenz des
geistlichen Hofstaats - sich etwas religiöser gab als es in
konfessionellen Kulturen ohnehin der Fall war" (S. 33).

Die Monographie behandelt zwei Phasen der Freisinger Verfolgungen mit
über hundert Verdächtigen und insgesamt 28 Verhaftungen: Die erste Phase
beginnt mit dem ersten Prozess zwischen 1715 und 1717, die zweite
Prozesswelle mit der Wiederaufnahme der Verhöre zwischen 1721 und 1723,
die deutlich weitere Kreise zog. Seinen Anfang nahm das Theater des
Schreckens im Herbst 1715 mit einem Kinderspiel auf einer Wiese vor den
Toren Freisings und der Behauptung einiger Beteiligter, ein gewisser
'Trudenfanger' - der elfjährige Betteljunge Andre, der sich auf den
Straßen und im Umland herumtrieb - habe Mäuse gezaubert, ein
Hexereidelikt, dass seit dem 17. Jahrhundert vermehrt Kindern
zugeschrieben wurde (S. 63). Am Ende des ersten Aktes stand ein
Hexereibekenntnis, das mit einem banalen und ganz unhexerischen Akt der
Veräppelung religiöser Praktiken begonnen hatte und schließlich in ein
diabolisches Geschehen umgedeutet wurde. Die erste traurige Bilanz nach
fast zwei Jahre dauernden Verhören: Der Hauptverdächtige hatte sich nach
langen Verhören und Folter in seiner Verzweiflung das Leben genommen;
ein Kind verendete an den Folgen der Gefangenschaft und der Härte der
Verhöre in seiner Zelle; drei weitere Kinder, allesamt Betteljungen
zwischen 12 und 14 Jahren, wurden hingerichtet, an einem ganz
gewöhnlichen Markttag mit einigem Getriebe, wie der Autor lakonisch
bemerkt und so sehr eindrücklich auf das uns heute befremdlich
erscheinende Nebeneinander von alltäglichen Verrichtungen und dem Grauen
der Hochgerichtsbarkeit verweist. Es gab durchaus gewalttätigere
Prozesse, und es lässt sich ein gewisser Legalismus im Prozessverlauf
erkennen, den man in Freisingen beachtete - um aber letzten Endes, so
der Autor, trotzdem einen miserablen Prozess zu führen. Die Richter und
Ankläger zeigten eine ausgeprägte Bereitschaft, kindliche Gerüchte und
Aktionen, die auch für Zeitgenossen noch im Rahmen gewöhnlicher
Alltagsinterpretamente verhandelbar waren, in eine spekulative
Wirklichkeit zu transportieren und unter Anwendung diskreditierender,
dämonologischer Konstrukte zu deuten und die kindlichen Akteure zu
strafen.

Während in der ersten Phase die Aussagen der Beschuldigten noch gewisse
kindliche Züge aufwiesen, zeichnete sich der zweite Prozess durch
zunehmende Härte und immer schwerwiegendere Beschuldigungen gegenüber
den Kindern aus. Jetzt ging es um klassische Hexereidelikte wie den Pakt
mit dem Teufel, den Verkehr mit dem Bösen, den Hexentanz, den Wetter-
und Schadenszauber sowie die Hostienschändung. Ausgelöst wurde dieser
Prozess durch gescheiterte 'Resozialisierungsmaßnahmen' zweier
Jugendlicher, die man nach dem ersten Prozess in die Obhut von
Pflegefamilien und zur religiösen Unterweisung in die Verantwortung der
ansässigen Franziskaner gegeben hatte. Überhaupt nahmen die Geistlichen
in der zweiten Phase einen zunehmenden Einfluss auf das Verfahren. Bis
zum Jahre 1722 fielen noch einmal zehn Kinder und Jugendliche - diesmal
auch Kinder aus der Stadt - dem Verfolgungseifer der Freisinger
Obrigkeit zum Opfer, die sich einem ganz realen Netzwerk und einer
verschworenen Gemeinschaft des 'Bösen' auf der Spur wähnte, für die
besonders Kinder anfällig gewesen sein sollen.

In geschlossenen und ausführlichen Exkursen über Druden und Alraunen,
über die Besonderheiten des Inquisitionsprozesses, der eben nicht nur
eine Spezialität der Kirche war, aber auch über Peergroups, 'topische'
Erzählnarrative und die Bedeutung frühneuzeitlicher Engel, Teufel, die
Lüge, die Sünde, das Lachen und die Hostienverehrung sowie über das
barocke Theater und zeitgenössische Erziehungslehren entfaltet der Autor
nicht nur die Alltagswelten herumziehender Kinder, sondern auch den
Deutungshorizont ihrer Ängste und Hoffnungen, aber auch die Praxis der
frühneuzeitlichen Justiz und den Strafvollzug. Die "Suggestibilität" der
Richter und ihre unscharfen Kriterien sind ein zentrales Kennzeichen der
Befragungen und Verhöre sowie die fehlende Reflexionsleistung wie etwa
das Ausblenden der ständigen Angst der Beschuldigten. Das Gericht
operierte im Rahmen der Legalität unabhängig davon, ob es der
Wahrheitsfindung diente. In Freising durchzog ein grenzwertiger Umgang
mit dem Gesetz und damit auch ein hausgemachtes Problem das Verfahren:
Die Unzulänglichkeit der Richter, ihre Desorientierung und
Dysfunktionalität und schließlich das Fehlen jeglicher
Selbstreflexivität: die Unterlassung, so Beck resümierend, ist der
soziologische Ort, der das berüchtigte Amalgam von Banalität und Bosheit
hervorbrachte, "das Menschen, deren man sich bemächtigt, zu Objekten der
eigenen Willkür degeneriert" (S. 865). Rainer Beck benennt die Opfer
dieser 'Unterlassungen', aber er beschreibt sie auch als handelnde
Subjekte, die im Kontext ihrer Erfahrungswelten zwischen Hoffnung und
Verzweiflung ihre Handlungsoptionen nutzten. Die lange Dauer der
Verfahren, die Widerrufe der Kinder und die Selbstmorde im Turm
zermürbten die Beteiligten. Das ganze Ausmaß der Verzweiflung und der
Ausweglosigkeit dokumentiert ein Brief, den ein Junge mit Hilfe seines
Beichtvaters vor seiner Hinrichtung aufsetzte und den Beck in Gänze
wiedergibt. Ihn zu kürzen erschien ihm "unangemessen" (S. 744).

Das Ende der Prozesse kam zögerlich, als sich der Kreis der
Verdächtigten zunehmend auf Kinder von heimischen Handwerkern
auszudehnen und der Konsens innerhalb der städtischen Führungsschichten
zu bröckeln begann. Die beklagten Kinder wehrten sich und verweigerten
die Geständnisse, der bischöfliche Hofrat sah plötzlich Verfahrensmängel
und hegte Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen. Mit der Beendigung
des Verfahrens machte sich jedoch weder die Einsicht in die
Fehlerhaftigkeit der Anschuldigungen noch Empörung oder Solidarität mit
den Betroffenen breit, denn, so Beck, "bekanntlich orientierten sich
gesellschaftliche Krisen begleitende Ein- oder Ausschlussverfahren und
Stigmatisierungsprosse nicht oder nicht zwingend an Prinzipien
menschlicher Verantwortung, sozialer Gerechtigkeit und der Verfolgung
der Wahrheit" (S. 890). Die entlassenen Kinder wurden, um Gerede in der
Stadt zu unterbinden und den gottesfürchtigen Bewohnern den Anblick der
geschundenen Kinder zu ersparen, aus der Stadt gewiesen. In Freisingen
hatte man jetzt überdies wichtigeres zu tun: Das tausendjährige
Bistumsjubiläum im Jahre 1724 war vorzubereiten. Die Kinderhexenprozesse
fanden dabei keine offizielle Erwähnung, die Festprediger betonten
hingegen die Liebe des Bischofs für seine Gemeinde, der sein Bistum
'gerettet' und den Körper der Stadt vom Bösen gereinigt habe.

Das beeindruckende Werk von Rainer Beck ist ohne Frage eine
Herausforderung für den Leser und erfordert einige Geduld. Doch die Mühe
wird belohnt, weil man lernen kann, wie vergangenes Handeln durch
Einbettung in den historischen Kontext und den zeitgenössischen Horizont
für uns heute plausibel und nachvollziehbar wird. Wie die Studie in das
zunehmend größer werdende Feld der Hexenforschung einzuordnen ist,
bleibt abzuwarten. Die immer wieder beklagte Widersprüchlichkeit und
zuweilen Beliebigkeit der Erklärungen für die Ursachen der Verfolgungen
interessieren Beck nur am Rande, weshalb der wissenschaftliche Apparat
übersichtlich gehalten ist. Ihm geht es primär um die
Lebenswirklichkeiten und Alltagserfahrungen in einer katholischen
Bischofs- und Residenzstadt am Vorabend der Aufklärung und die Frage,
wie sich diese Gesellschaft der Gültigkeit ihrer jeweiligen Konstrukte
und imaginären Realitäten versicherte. Mit der Erinnerung an die
verfolgten Kinder hält uns der Autor zugleich einen Spiegel vor, denn
die fatale Dynamik von Ein- und Ausschlussverfahren und die 'Imagination
des Bösen' sind nicht nur ein Kennzeichen vormoderner Gesellschaften.