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2012/05/02 07:51:57
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Zeitschrift "Deutsches Arch iv für Erforschung des Mittelalters 67"
Datum 2012/05/04 23:33:39
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] „St. Wendel ehemals und heute“
2012/05/16 16:19:36
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[Regionalforum-Saar] Gerhard Mercator: Wissenschaft und Wissenstransfer
Betreff 2012/05/11 22:17:51
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[Regionalforum-Saar] Konf: Burgenbau, Rittertum und Minnesang im 13. und 14. Jahrh.
2012/05/02 07:51:57
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Zeitschrift "Deutsches Arch iv für Erforschung des Mittelalters 67"
Autor 2012/05/04 23:33:39
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] „St. Wendel ehemals und heute“

[Regionalforum-Saar] Katastrophen im Spätmittela lter

Date: 2012/05/02 07:57:53
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Fouquet, Gerhard; Zeilinger, Gabriel: Katastrophen im Spätmittelalter
[Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt,
ISBN 978-3-534-24699-1]. Darmstadt / Mainz: Philipp von Zabern Verlag
2011. ISBN 978-3-8053-4362-6; geb.; 172 S.; EUR 29,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Christian Rohr, Historisches Institut, Universität Bern
E-Mail: <christian.rohr(a)... Erforschung von Katastrophen, ob Seuchen, Hungersnöte oder
Naturkatastrophen, hat im letzten Jahrzehnt gleichsam Konjunktur.
Während sich die Forschung zunächst eher der Frühneuzeit zuwandte[1],
sind in den letzten Jahren auch vermehrt Studien zum
(Spät-)Mittelalter[2] sowie epochenübergreifende Analysen[3] erschienen,
häufig in Form von Sammelbänden.[4] Auch Gerhard Fouquet hat in
Aufsatzform zur Geschichtsbetrachtung zweier Katastrophen im
Spätmittelalter beigetragen[5], die sich auch im vorliegenden Band
inhaltlich wiederfinden.

Schon im Vorwort betonen die beiden Autoren, dass es deren Absicht
gewesen sei, "ein Buch für alle interessierten Leser und Leserinnen zu
schreiben. Im Mittelpunkt stehen Erzählungen über einzelne
Extremereignisse des Spätmittelalters." (S. 7) Diese zeitgenössischen
Quellen sollen vor allem als Zeugnisse der damaligen
Katastrophenwahrnehmung dienen. Damit wird schon deutlich, dass es in
erster Linie um einen eher exemplarischen, kulturgeschichtlichen
Ansätzen verpflichteten Zugang geht. Wie die Kapitelübersicht zeigt,
fassen Fouquet und Zeilinger den Katastrophenbegriff eher weit: der
Bogen reicht von Überschwemmungen und Seenot über Erdbeben und
Hungersnöte bis hin zu Stadtbränden, Seuchen, Krieg und Inflation.

Das einleitende Kapitel setzt sich mit Katastrophen als "conditio
humana" (Arno Borst) auseinander. Zu diesem Zweck werden vergleichend
der Bericht zum Tsunami in Japan 2011 (ARD Tagesschau extra vom 11. März
2011) und der zu einem schweren Sturm in Deutschland 1338 (Tilemann
Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik) gegenübergestellt, um die
Aktualität der Fragestellung zu betonen. Wie sehr Katastrophen und
Krisen aller Art das Leben der Menschen im Spätmittelalter
beeinflussten, wird anhand von Auszügen aus der Augsburger Chronik
Burkard Zinks zu den Jahren 1417 bis 1467 aufgezeigt (S. 15f.).
Methodische Überlegungen sucht man in diesem Kapitel allerdings
vergeblich.

Das Thema Hochwasser wird am Beispiel der beiden schweren
Birsigüberschwemmungen in Basel 1529 und 1530 abgehandelt (S. 20-34).
Die Darstellung baut dabei vor allem auf den Chroniken von Hans Stoltz
aus Gebweiler sowie des Basler Ratsherrn Konrad Schnitt auf. Während es
bei den beiden Chronisten vor allem um die Darstellung des
Schadensausmaßes geht, werden die beiden Überschwemmungen in den
Aufzeichnungen eines Basler Kartäusers von etwa 1532 als Gottesurteil
wider den neuen Glauben gedeutet (S. 25). Gleichsam als Lehre wurden in
der sogenannten Wasserordnung vom 4. April 1531 die durch Zünfte und
Gesellschaften zu übernehmenden Schutzmaßnahmen koordiniert. 1537 wurde
eine bronzene Gedenktafel gestiftet, die sich bis heute am Pfeiler des
mittleren Rathausportals befindet. Interessant ist in diesem
Zusammenhang auch die Aufstellung zur Häufigkeit von Hochwassern und
Eisgängen in Basel zwischen 1454 und 1542 (S. 32-34), die ein Bild davon
gibt, wie zahlreich kleinere und mittlere Schadensereignisse für die
Menschen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit waren.

Für die Ausführungen zu mittelalterlichen Sturmfluten und insbesondere
zum Untergang der sagenhaften Stadt Rungholt 1362 greifen die Autoren
immer wieder auf das berühmte Gedicht "Trutz, Blanke Hans" von Detlev
von Liliencron aus dem Jahr 1882 zurück und stellen dieses den
spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Chroniken, allen voran der
Chronik von Anton Heimreich (1666), gegenüber (S. 35-47). Gute Karten
illustrieren, wie sich die Küstenlinie im nordfriesischen Wattenmeer
zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert veränderte, sodass schließlich
nur mehr die kleinen Inseln Pellworm und Nordstrand übrig blieben.
Leider bleibt das Kapitel eher deskriptiv; genauere Ausführungen zur
Mythenbildung rund um diesen "Atlantis-Mythos" (S. 35) der Nordsee wären
hier sicher interessant gewesen.

Wirklich innovativ ist das Kapitel über Schiffsuntergänge im
Spätmittelalter (S. 48-57), die "wohl häufigsten und schwersten
Verkehrsunglücke des Mittelalters" (S. 11). Die Autoren gehen dabei zum
einen auf die Gefahren der Pilger ein, die mit dem Schiff das Heilige
Land anstrebten, zum anderen aber auch auf die Havarie des
venezianischen Stadtadeligen Pietro Querini 1431/32 im Nordmeer, unweit
der heutigen Lofoten. Interessant sind zudem die - wenn auch kurzen -
Ausführungen zu den Seehandelsgesellschaften, die im Falle eines
Schiffsuntergangs eine Art Seeversicherung garantierten (S. 49).

Das Kapitel zu spätmittelalterlichen Erdbeben (S. 58-73) beginnt mit den
Wahrnehmungen des Erdbebens auf Kreta im Jahr 1494 durch einen
kleinadeligen anonymen Jerusalem-Pilger. Danach steht aber das schwere
und sehr gut dokumentierte Erdbeben von Basel im Mittelpunkt der
Erzählung. Wirklich neue Erkenntnisse sind daraus nicht zu erfahren,
doch zeigt eine Schadenskarte sehr anschaulich das Ausmaß der
Zerstörungen (S. 65).

In der Hungerforschung wurde in den letzten Jahren besonders die Zeit
zwischen 1437 und 1440 genau untersucht.[6] Darauf stützen sich auch die
Ausführungen des Kapitels, das zu Recht mit "Nicht nur eine ungnädige
Natur: Hunger" betitelt ist (S. 74-83). Damit wird deutlich gemacht,
dass Hungerkrisen nicht nur eine klimatische Seite aufwiesen, sondern
auch gute oder schlechte Einkaufs- und Vorratspolitik eine maßgebliche
Rolle dabei spielten. Analog zu der in der Forschung üblichen
Unterscheidung zwischen "Hungerkrise" und "Hungersnot" wäre es in diesem
Zusammenhang sinnvoll gewesen, auch die mehrfach verwendeten Begriffe
"Versorgungskatastrophe" und "Hungerkatastrophe" näher zu definieren.

Beim Thema Stadtbrände (S. 84-102) stützen sich die beiden Autoren
zunächst auf das Beispiel des Brandes von Frankenberg im Jahr 1476, das
von Fouquet selbst schon aufgearbeitet wurde.[7] Wie häufig diese
Stadtbrände für Gefahr sorgten, zeigt die Brandchronik für Basel
zwischen 1445 und 1549, die nicht weniger als 63 Brandereignisse
verzeichnet, also im Durchschnitt alle 20 Monate einen nennenswerten
Brand (S. 92f.). Aufschlussreich sind auch die ausführlichen
Erörterungen zur Brandbekämpfung: Städtische Ordnungen geben davon
ebenso Nachricht wie etwa der Reisebericht des Kastiliers Pero Tafur,
der 1438 einen Stadtbrand in Straßburg miterlebte.

Epidemien, und dabei wiederum vor allem die Pest, hatten einen
entscheidenden Einfluss auf die demographische Entwicklung im
Spätmittelalter. Die Ausführungen zur Pestwelle zwischen 1347 und 1352,
ihren Auswirkungen und Erklärungsversuchen haben über weite Strecken nur
einführenden Charakter (S. 103-125). Konkreter wird die Situation in
Norddeutschland ausgeführt, wobei chronikale Berichte ebenso Beachtung
finden wie die archäologische Analyse zweier Massengräber für die
Pesttoten in Lübeck. Kurz wird auch das Thema Judenpogrome im
Zusammenhang mit der Pest gestreift.

Kriegskatastrophen werden an zwei Beispielen abgehandelt: dem
süddeutschen Städtekrieg von 1449/50 und der Belagerung von Neuss
1474/75 (S. 126-138). Daran wird deutlich, dass sich die Kriegsführung
von den großen, entscheidenden Schlachten hin zu Abnutzungskriegen
verschoben hatte; Söldnerheere kämpften anstelle der einstigen Ritter-
und Bauernheere. Die Bilanz der Belagerung von Neuss zeigt auch, dass
immer mehr die Zivilisten zu den Kriegsopfern gehörten.

Das letzte kurze Kapitel setzt sich mit "Katastrophen des Geldes"
auseinander (S. 139-142). Kurz kommen dabei der Kärntner Chronist Jakob
Unrest sowie der Augsburger Burkard Zink zur Schinderlingszeit im Jahr
1459 zu Wort. Wirtschaftsgeschichtliche Ausführungen zu den
Hintergründen und den Auswirkungen des ständigen Münzverrufs vermisst
man hingegen.

Wer sich vom Titel des Buches eine umfassende Studie zu Katastrophen und
deren Bewältigung im Spätmittelalter erwartet hat, wird vielleicht etwas
enttäuscht sein, da der Überblick dafür zu exemplarisch bleibt und kaum
über den bisherigen Forschungsstand hinausgeht; auch
methodisch-theoretische Überlegungen sind nur in Ansätzen vorhanden.
Doch dies ist, wie schon eingangs erwähnt, auch gar nicht das erklärte
Ziel der Autoren. Als Einstieg in die Thematik eignet sich der Band
hingegen sehr gut: Der Stil ist flüssig, die Quellenbeispiele sind gut
gewählt, die Bilder anschaulich und in guter Qualität, das
Literaturverzeichnis übersichtlich. In jedem Fall zeigt sich, dass
Katastrophen für die Lebenswelten der Menschen zu allen Zeiten eine
maßgebliche Rolle spielten und daher mittlerweile zu Recht einen festen
Platz in der Geschichtsforschung einnehmen.


Anmerkungen:
[1] Vgl. als richtungsweisende Fallstudie Manfred Jakubowski-Tiessen,
Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen
Neuzeit (Ancien Régime. Aufklärung und Revolution 24), München 1992. Die
weitere Forschung konzentrierte sich in der Folge auf Fallstudien,
beispielsweise zum Erdbeben von Lissabon 1755, auf einzelne
Katastrophenarten und ihre Bewältigung (zuletzt Cornel Zwierlein, Der
gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und
Moderne, Göttingen 2011) oder auf zeitgenössische Wissensdiskurse
(zuletzt etwa Matthias Georgi, Heuschrecken, Erdbeben und Kometen.
Naturkatastrophen und Naturwissenschaft in der englischen Öffentlichkeit
des 18. Jahrhunderts, München 2009).
[2] Kay Peter Jankrift, Brände, Stürme, Hungersnöte. Katastrophen in der
mittelalterlichen Lebenswelt, Ostfildern 2003; Christian Rohr, Extreme
Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und
am Beginn der Neuzeit (Umwelthistorische Forschungen 4), Köln 2007;
Christian Jörg, Brände, Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und
Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15.
Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 55),
Stuttgart 2008.
[3] Vgl. zu Sturmfluten Dirk Meier, Land unter! Die Geschichte der
Flutkatastrophen, Ostfildern o.J. [2005]; Bernd Rieken, "Nordsee ist
Mordsee". Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte
der Friesen (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 83 =
Nordfriisk Instituut 186), Münster 2005.
[4] Die Zahl der Sammelbände zum Thema wächst jedes Jahr. Vgl. besonders
Christian Pfister (Hrsg.), Am Tag danach. Zur Bewältigung von
Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000, Bern 2002; Dieter Groh /
Michael Kempe / Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge
zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der
Antike bis ins 20. Jahrhundert (Literatur und Anthropologie 13),
Tübingen 2003; Monika Gisler / Katja Hürlimann / Agnes Nienhaus (Hrsg.),
Naturkatastrophen / Catastrophes naturelles (Special Issue von Traverse.
Zeitschrift für Geschichte / Revue d'Histoire 10, 3), Zürich 2003;
Michael Kempe / Christian Rohr (Hrsg.), Coping with the Unexpected.
Natural Disasters and Their Perception (Environment and History, Special
Issue 9, 2), Strond 2003; Gerrit Jasper Schenk / Jens Ivo Engels
(Hrsg.), Historical Disaster Research. Concepts, Methods and Case
Studies / Historische Katastrophenforschung. Begriffe, Konzepte und
Fallbeispiele (Historical Social Research, Special Issue 32, 3), Köln
2007; Gerrit Jasper Schenk (Hrsg.), Katastrophen. Vom Untergang Pompejis
bis zum Klimawandel, Ostfildern 2009.
[5] Gerhard Fouquet, Das Erdbeben von Basel - für eine Kulturgeschichte
der Katastrophen, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und
Altertumskunde 103 (2003), S. 31-49; Gerhard Fouquet, Für eine
Kulturgeschichte der Naturkatastrophen. Erdbeben in Basel 1356 und
Großfeuer in Frankenberg 1476, in: Andreas Ranft / Stephan Selzer
(Hrsg.), Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike
und Moderne, Göttingen 2004, S. 101-131.
[6] Jörg, Hunger, wie Anm. 2.
[7] Vgl. oben, Anm. 5.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Wolfgang Eric Wagner <wolfgang-eric.wagner(a)... zur Zitation dieses Beitrages
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