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2011/03/27 20:36:58
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Renovatio et unitas. Nikolaus von Kues als Reformer
Datum 2011/03/27 21:26:37
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Audiovisions-Abend im Rathaus Nohfelden
2011/03/27 20:36:58
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Renovatio et unitas. Nikolaus von Kues als Reformer
Betreff 2011/03/05 09:14:51
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Stilfragen
2011/03/27 20:36:58
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Renovatio et unitas. Nikolaus von Kues als Reformer
Autor 2011/03/27 21:26:37
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Audiovisions-Abend im Rathaus Nohfelden

[Regionalforum-Saar] Fwd: Rez. HBO: M. Hagner: Der Hauslehrer

Date: 2011/03/27 21:17:02
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

In einer eMail vom 27.03.2011 18:20:16 Westeuropäische Sommerzeit schreibt hsk.mail(a)...
Hagner, Michael: Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls.
Erziehung, Sexualität und Medien um 1900. Berlin: Suhrkamp Verlag 2010.
ISBN 978-3-518-42204-5; 280 S.; EUR 19,90.

Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-u-Kult
von:

Markus Rieger-Ladich, Departement Erziehungswissenschaften, Allgemeine
Pädagogik, Universität Fribourg
Email: <Markus.Rieger-Ladich(a)... Hagner, Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftsforschung an der
ETH Zürich und Autor instruktiver Arbeiten, die zwischen
Wissenschaftsgeschichte, Historischer Epistemologie und Science Studies
angesiedelt sind, hat sich in seiner jüngsten Studie eines
Gewaltverbrechens angenommen, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts große
Wellen schlug und nicht allein die Öffentlichkeit erregte, sondern auch
innerhalb der Wissenschaft große Resonanz erzeugte. Bei Recherchen zur
Elitegehirnforschung stieß er, einer "intuitive[n] Neugierde" (S. 251)
folgend, auf eine Mappe von Zeitungsartikeln, welche die Aufschrift
"Fall Dippold" trug. Deren Lektüre war der Auslöser für eine
Forschungsarbeit, die schließlich die Gestalt einer elegant
geschriebenen Studie annahm und sich einer disziplinären Zuordnung
souverän entzieht.

Worum geht es? Hagner arbeitet die Geschichte des Jurastudenten Andreas
Dippold auf, der im Jahre 1901 an die Friedrich-Wilhelms-Universität in
Berlin wechselt und eine Stelle als Hauslehrer annimmt, um im Anschluss
seine Studien weiterführen zu können. Rudolf Koch, ein renommierter
Bankier, fürchtet aufgrund der schulischen Leistungen der beiden Söhne
Heinz und Joachim um deren berufliche Karrieren. Er vertraut sie dem
ambitionierten Studenten an, der auch für Erziehungsfragen ein
besonderes Interesse erkennen lässt, und ermutigt ihn bei seinem
Bestreben, Berlin zu verlassen. Fern der Großstadt widmet sich Dippold
der Erziehungsarbeit: Er überwacht die beiden Söhne und unterwirft sie
einem strengen Kontrollregime. Als seine Maßnahmen, die von gezielter
Ernährung über körperliche Ertüchtigung bis hin zu fachlichem Unterricht
reichen, nicht zu den erwünschten Ergebnissen führen, intensiviert er
seine Bemühungen und züchtigt sie immer häufiger. Zwischenzeitlich in
ein fränkisches Dorf umgesiedelt, wo sie noch abgeschiedener leben,
manipuliert er deren Briefwechsel mit den Eltern, indem er sie zu
Geständnissen nötigt, in denen sie sich des exzessiven Onanierens
bezichtigen. Er täuscht wiederholt Besucher, welche gebeten werden, den
Vorwürfen nachzugehen, der Hauslehrer prügele die ihm anvertrauten
Kinder über Gebühr. Am 10. März 1903 stirbt der vierzehnjährige Heinz
infolge schwerer innerer Verletzungen. Der Schilderung dieser
unheilvollen Verkettung von Ereignissen widmet Hagner das erste Kapitel,
das den Titel trägt: "Ein Junge stirbt" (S. 7-67).

So kenntnisreich Hagner die Rekonstruktion des Geschehenen kommentiert,
so originell ist seine Auswertung des Materials. Dabei scheint es
ratsam, ihm in seiner Selbstauskunft nicht uneingeschränkt zu folgen.
Auch wenn er erklärt, im Zentrum seines Buches stünde die Frage, "wie
die Verhaltensweisen der beteiligten Personen in Objekte des Wissens
verwandelt worden sind und wie umgekehrt Wissen sich in die alltäglichen
Verhaltensweisen einschreibt" (S. 236), so ist dies nicht einmal die
halbe Wahrheit. Hagner nimmt in seiner Studie unterschiedliche Rahmungen
vor und legt auf diese Weise immer neue Dimensionen der Ereignisse um
den prügelnden Hauslehrer offen, der schnell in das Fadenkreuz der
Politik und Rechtswissenschaft, der Medizin und Sexualwissenschaft, der
Pädagogik sowie der Medien geriet und nur wenige Monate nach dem
Todesfall in einem aufsehenerregenden Prozess zu acht Jahren Zuchthaus
verurteilt wurde.

In den folgenden Kapiteln wendet sich Hagner je spezifischen Facetten
dieses Falles zu: So rekonstruiert er in "Ermittlungszeit" (S. 68-128)
die Überlagerung juristischer, medizinischer und pädagogischer Diskurse
um die Jahrhundertwende und interpretiert im Kapitel "Der Prozess von
Bayreuth" (S. 129-150) das juristische Verfahren als ein soziales
Ereignis, das Einblicke in das spannungsreiche Verhältnis von
Rechtsprechung und Medizin zulässt. "Der Skandal und die Medien" (S.
150-172) zeichnet die Erregungskurven der öffentlichen Debatten nach und
legt die Dynamik der Aufschaukelung offen, während das Kapitel "Vom
Nutzen und Nachteil der Humanwissenschaften" (S. 173-238) die
unterschiedlichen Bilder identifiziert, die von dem zentralen Akteur in
der Öffentlichkeit, dem Rechtssystem sowie den beteiligten
wissenschaftlichen Disziplinen zirkulieren. Beschlossen wird die Studie
von einem "Epilog" (S. 239-250), in dem Hagner nicht allein den Spuren
Dippolds nach dessen Entlassung folgt, sondern auch jenen des jüngeren
der ihm anvertrauten Brüder.

Der besondere Reiz der Untersuchung liegt zweifellos darin, dass Hagner
weder allein das Ziel einer möglichst detailgenauen, faktenreichen
Nachzeichnung dieses spektakulären "Kriminalfalls" verfolgt, noch eine
normativ imprägnierte Rekonstruktion der Ereignisse, welche akribisch
die einzelnen "Sündenfälle" verzeichnet. Stattdessen flicht er in seine
Darstellung immer wieder kleinere Exkurse ein, stellt wichtiges
Hintergrundwissen zur Verfügung und erläutert Kontexte; er erhellt
Querverbindungen, Konkurrenzbeziehungen und Konstellationen.[1] Hagner
begreift den Kriminalfall mithin als ein diskursives Ereignis, das einen
Zugang zu jenen komplizierten Verschränkungen von Machtverhältnissen und
Wissensordnungen, von Subjektivierungspraktiken und
Geschlechterbeziehungen erlaubt, welche die Jahrhundertwende
charakterisieren.

Dabei zeigt sich, dass die einzelnen Befunde immer wieder über den
behandelten Fall hinausweisen. Liest man den "Hauslehrer" als
wissenschaftsgeschichtliche Studie, geraten die Auseinandersetzungen
zwischen benachbarten Disziplinen in den Blick: Der angeklagte
Hauslehrer wird dabei zu einer Spielmarke konkurrierender Diskurse. Er
wird zum Prüfstein der Erklärungskraft unterschiedlicher Schulen der
Sexualmedizin, Psychiatrie, Pädagogik und der Rechtswissenschaft. An
seiner Person entzünden sich wissenschaftliche Kontroversen, die von dem
Streben nach der Diskurshoheit sowie der Hoffnung befeuert werden, sich
innerhalb des akademischen Feldes dauerhaft zu etablieren (vgl. S.
180ff.). Zugleich liefert Hagners Studie wichtige Beiträge zur
Mediengeschichte: In dieser Perspektive zeigt sich, dass die medial
verstärkte Skandalisierung von Wissensgebieten diesen nicht äußerlich
bleibt. Gehen solche Fälle ins kulturelle Gedächtnis ein, prägen sie
auch die epistemische Ordnung: "Relevant werden sie für die
Wissensgeschichte durch ihre Fähigkeit, einen Diskurs in eine neue
Richtung zu treiben und dadurch in einem ganz direkten Sinn neue
Gegenstände des Wissens zu generieren." (S. 156f.) Weiterhin werden
damit Fragen der Narration und der Adressierung thematisch: Indem Hagner
die diskursiven Verschiebungen nachzeichnet, in deren Folge Dippold vom
amoralischen "Monster" zum "perversen Erwachsenen" und schließlich zum
krankhaften "Sadisten" mutiert, weist er die identitätsstiftenden
Effekte von Adressierungspraktiken nach (vgl. S. 97).

Nicht zuletzt die damit aufgerufenen Dispositive Kriminalität, Wahnsinn
und Sexualität verweisen nun auf jenen Autor, mit dem Hagner gleichsam
zwischen den Zeilen ein fortlaufendes Zwiegespräch führt. Auch wenn
seine Studie Michel Foucaults Arbeiten in der Anlage und der
methodischen Durchführung offensichtlich vieles verdankt, setzt er sich
doch an einigen Stellen gezielt von ihm ab. So verweist er darauf, dass
sich "Experten" auch selbst ermächtigen können und ihren Einfluss nicht
in jedem Fall einer Institution verdanken (vgl. S. 83), und wirft die
Frage nach Verdrängungskämpfen zwischen unterschiedlichen sexuellen
Dispositiven auf (vgl. S. 101). Interessanter ist die Frage nach der
Verhältnisbestimmung von Struktur und Ereignis. Diese "Gretchenfrage",
an deren Beantwortung sich Strukturalisten zuverlässig von
Poststrukturalisten unterscheiden lassen [2], sucht er mit Blick auf
seine empirischen Befunde zu lösen. So zeige die Entstehung des
Dispositivs "Erzieher-Sadismus", das ihm als "Gravitationszentrum"
pädagogischer, medizinischer, juristischer und moralischer Fragen gilt,
dass hier kaum von einer "Multiplizierung der Diskurse" gesprochen
werden könne, wie dies Foucault unterstellt habe; vielmehr bestünde die
"Lektion, die der Fall Dippold erteilt" (S. 233), in der Beobachtung,
Strukturen nicht länger als "träge" Entitäten zu betrachten, sondern
ihnen einen Akteursstatus zuzuerkennen, sie als formative Kraft zu
betrachten.

Ein Manko von Hagners bestechender Studie besteht nun freilich darin,
dass die damit aufgeworfenen Fragestellungen kaum einmal systematisch
diskutiert werden. So flüssig das Buch geschrieben ist und so gekonnt
die Aufbereitung des Materials, bleibt festzuhalten, dass wichtige
Auseinandersetzungen nur en passant geführt werden. Die Fragen an
Foucault sind brisant, sie verdienten der ausführlichen Diskussion -
aber diese bleibt leider häufig aus. Meist in Form von Exkursen werden
Anfragen formuliert, Grenzen der Diskursanalyse markiert, aber eine
grundlegende, systematische Vermessung der Defizite ist kaum zu
erkennen. Es mag sein, dass dies dem größeren Adressatenkreis geschuldet
ist: "Der Hauslehrer" ist ein glänzend geschriebener, funkelnder
wissenschaftsgeschichtlicher Essay, der auf die Erörterung
historiographischer Fragestellungen leider weitgehend verzichtet.


Anmerkungen:
[1] Vgl. Martin Mulsow / Marcelo Stamm (Hrsg.), Konstellationsforschung,
Frankfurt am Main 2005.
[2] Judith Butler hat die beiden Positionen anhand einer
Gegenüberstellung einschlägiger Texte von Pierre Bourdieu und Jacques
Derrida überzeugend herausgearbeitet. Judith Butler, Haß spricht. Zur
Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006, S. 221ff.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Michael Geiss <mgeiss(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-232>

Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der
Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Michael
Geiss und Wolfgang Gippert). http://www.fachportal-paedagogik.de/hbo/

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Copyright (c) 2011 by H-Soz-u-Kult (H-Net) and Historische
Bildungsforschung Online, all rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if permission is
granted by the author and H-Soz-u-Kult. Please contact
hsk.redaktion(a)...
 
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From:    Markus Rieger-Ladich <mrieger-ladich(a)...
Date:    28.03.2011
Subject: Rez. HBO: M. Hagner: Der Hauslehrer
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Hagner, Michael: Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls.
Erziehung, Sexualität und Medien um 1900. Berlin: Suhrkamp Verlag 2010.
ISBN 978-3-518-42204-5; 280 S.; EUR 19,90.

Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-u-Kult
von:

Markus Rieger-Ladich, Departement Erziehungswissenschaften, Allgemeine
Pädagogik, Universität Fribourg
Email: <Markus.Rieger-Ladich(a)...

Michael Hagner, Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftsforschung an der
ETH Zürich und Autor instruktiver Arbeiten, die zwischen
Wissenschaftsgeschichte, Historischer Epistemologie und Science Studies
angesiedelt sind, hat sich in seiner jüngsten Studie eines
Gewaltverbrechens angenommen, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts große
Wellen schlug und nicht allein die Öffentlichkeit erregte, sondern auch
innerhalb der Wissenschaft große Resonanz erzeugte. Bei Recherchen zur
Elitegehirnforschung stieß er, einer "intuitive[n] Neugierde" (S. 251)
folgend, auf eine Mappe von Zeitungsartikeln, welche die Aufschrift
"Fall Dippold" trug. Deren Lektüre war der Auslöser für eine
Forschungsarbeit, die schließlich die Gestalt einer elegant
geschriebenen Studie annahm und sich einer disziplinären Zuordnung
souverän entzieht.

Worum geht es? Hagner arbeitet die Geschichte des Jurastudenten Andreas
Dippold auf, der im Jahre 1901 an die Friedrich-Wilhelms-Universität in
Berlin wechselt und eine Stelle als Hauslehrer annimmt, um im Anschluss
seine Studien weiterführen zu können. Rudolf Koch, ein renommierter
Bankier, fürchtet aufgrund der schulischen Leistungen der beiden Söhne
Heinz und Joachim um deren berufliche Karrieren. Er vertraut sie dem
ambitionierten Studenten an, der auch für Erziehungsfragen ein
besonderes Interesse erkennen lässt, und ermutigt ihn bei seinem
Bestreben, Berlin zu verlassen. Fern der Großstadt widmet sich Dippold
der Erziehungsarbeit: Er überwacht die beiden Söhne und unterwirft sie
einem strengen Kontrollregime. Als seine Maßnahmen, die von gezielter
Ernährung über körperliche Ertüchtigung bis hin zu fachlichem Unterricht
reichen, nicht zu den erwünschten Ergebnissen führen, intensiviert er
seine Bemühungen und züchtigt sie immer häufiger. Zwischenzeitlich in
ein fränkisches Dorf umgesiedelt, wo sie noch abgeschiedener leben,
manipuliert er deren Briefwechsel mit den Eltern, indem er sie zu
Geständnissen nötigt, in denen sie sich des exzessiven Onanierens
bezichtigen. Er täuscht wiederholt Besucher, welche gebeten werden, den
Vorwürfen nachzugehen, der Hauslehrer prügele die ihm anvertrauten
Kinder über Gebühr. Am 10. März 1903 stirbt der vierzehnjährige Heinz
infolge schwerer innerer Verletzungen. Der Schilderung dieser
unheilvollen Verkettung von Ereignissen widmet Hagner das erste Kapitel,
das den Titel trägt: "Ein Junge stirbt" (S. 7-67).

So kenntnisreich Hagner die Rekonstruktion des Geschehenen kommentiert,
so originell ist seine Auswertung des Materials. Dabei scheint es
ratsam, ihm in seiner Selbstauskunft nicht uneingeschränkt zu folgen.
Auch wenn er erklärt, im Zentrum seines Buches stünde die Frage, "wie
die Verhaltensweisen der beteiligten Personen in Objekte des Wissens
verwandelt worden sind und wie umgekehrt Wissen sich in die alltäglichen
Verhaltensweisen einschreibt" (S. 236), so ist dies nicht einmal die
halbe Wahrheit. Hagner nimmt in seiner Studie unterschiedliche Rahmungen
vor und legt auf diese Weise immer neue Dimensionen der Ereignisse um
den prügelnden Hauslehrer offen, der schnell in das Fadenkreuz der
Politik und Rechtswissenschaft, der Medizin und Sexualwissenschaft, der
Pädagogik sowie der Medien geriet und nur wenige Monate nach dem
Todesfall in einem aufsehenerregenden Prozess zu acht Jahren Zuchthaus
verurteilt wurde.

In den folgenden Kapiteln wendet sich Hagner je spezifischen Facetten
dieses Falles zu: So rekonstruiert er in "Ermittlungszeit" (S. 68-128)
die Überlagerung juristischer, medizinischer und pädagogischer Diskurse
um die Jahrhundertwende und interpretiert im Kapitel "Der Prozess von
Bayreuth" (S. 129-150) das juristische Verfahren als ein soziales
Ereignis, das Einblicke in das spannungsreiche Verhältnis von
Rechtsprechung und Medizin zulässt. "Der Skandal und die Medien" (S.
150-172) zeichnet die Erregungskurven der öffentlichen Debatten nach und
legt die Dynamik der Aufschaukelung offen, während das Kapitel "Vom
Nutzen und Nachteil der Humanwissenschaften" (S. 173-238) die
unterschiedlichen Bilder identifiziert, die von dem zentralen Akteur in
der Öffentlichkeit, dem Rechtssystem sowie den beteiligten
wissenschaftlichen Disziplinen zirkulieren. Beschlossen wird die Studie
von einem "Epilog" (S. 239-250), in dem Hagner nicht allein den Spuren
Dippolds nach dessen Entlassung folgt, sondern auch jenen des jüngeren
der ihm anvertrauten Brüder.

Der besondere Reiz der Untersuchung liegt zweifellos darin, dass Hagner
weder allein das Ziel einer möglichst detailgenauen, faktenreichen
Nachzeichnung dieses spektakulären "Kriminalfalls" verfolgt, noch eine
normativ imprägnierte Rekonstruktion der Ereignisse, welche akribisch
die einzelnen "Sündenfälle" verzeichnet. Stattdessen flicht er in seine
Darstellung immer wieder kleinere Exkurse ein, stellt wichtiges
Hintergrundwissen zur Verfügung und erläutert Kontexte; er erhellt
Querverbindungen, Konkurrenzbeziehungen und Konstellationen.[1] Hagner
begreift den Kriminalfall mithin als ein diskursives Ereignis, das einen
Zugang zu jenen komplizierten Verschränkungen von Machtverhältnissen und
Wissensordnungen, von Subjektivierungspraktiken und
Geschlechterbeziehungen erlaubt, welche die Jahrhundertwende
charakterisieren.

Dabei zeigt sich, dass die einzelnen Befunde immer wieder über den
behandelten Fall hinausweisen. Liest man den "Hauslehrer" als
wissenschaftsgeschichtliche Studie, geraten die Auseinandersetzungen
zwischen benachbarten Disziplinen in den Blick: Der angeklagte
Hauslehrer wird dabei zu einer Spielmarke konkurrierender Diskurse. Er
wird zum Prüfstein der Erklärungskraft unterschiedlicher Schulen der
Sexualmedizin, Psychiatrie, Pädagogik und der Rechtswissenschaft. An
seiner Person entzünden sich wissenschaftliche Kontroversen, die von dem
Streben nach der Diskurshoheit sowie der Hoffnung befeuert werden, sich
innerhalb des akademischen Feldes dauerhaft zu etablieren (vgl. S.
180ff.). Zugleich liefert Hagners Studie wichtige Beiträge zur
Mediengeschichte: In dieser Perspektive zeigt sich, dass die medial
verstärkte Skandalisierung von Wissensgebieten diesen nicht äußerlich
bleibt. Gehen solche Fälle ins kulturelle Gedächtnis ein, prägen sie
auch die epistemische Ordnung: "Relevant werden sie für die
Wissensgeschichte durch ihre Fähigkeit, einen Diskurs in eine neue
Richtung zu treiben und dadurch in einem ganz direkten Sinn neue
Gegenstände des Wissens zu generieren." (S. 156f.) Weiterhin werden
damit Fragen der Narration und der Adressierung thematisch: Indem Hagner
die diskursiven Verschiebungen nachzeichnet, in deren Folge Dippold vom
amoralischen "Monster" zum "perversen Erwachsenen" und schließlich zum
krankhaften "Sadisten" mutiert, weist er die identitätsstiftenden
Effekte von Adressierungspraktiken nach (vgl. S. 97).

Nicht zuletzt die damit aufgerufenen Dispositive Kriminalität, Wahnsinn
und Sexualität verweisen nun auf jenen Autor, mit dem Hagner gleichsam
zwischen den Zeilen ein fortlaufendes Zwiegespräch führt. Auch wenn
seine Studie Michel Foucaults Arbeiten in der Anlage und der
methodischen Durchführung offensichtlich vieles verdankt, setzt er sich
doch an einigen Stellen gezielt von ihm ab. So verweist er darauf, dass
sich "Experten" auch selbst ermächtigen können und ihren Einfluss nicht
in jedem Fall einer Institution verdanken (vgl. S. 83), und wirft die
Frage nach Verdrängungskämpfen zwischen unterschiedlichen sexuellen
Dispositiven auf (vgl. S. 101). Interessanter ist die Frage nach der
Verhältnisbestimmung von Struktur und Ereignis. Diese "Gretchenfrage",
an deren Beantwortung sich Strukturalisten zuverlässig von
Poststrukturalisten unterscheiden lassen [2], sucht er mit Blick auf
seine empirischen Befunde zu lösen. So zeige die Entstehung des
Dispositivs "Erzieher-Sadismus", das ihm als "Gravitationszentrum"
pädagogischer, medizinischer, juristischer und moralischer Fragen gilt,
dass hier kaum von einer "Multiplizierung der Diskurse" gesprochen
werden könne, wie dies Foucault unterstellt habe; vielmehr bestünde die
"Lektion, die der Fall Dippold erteilt" (S. 233), in der Beobachtung,
Strukturen nicht länger als "träge" Entitäten zu betrachten, sondern
ihnen einen Akteursstatus zuzuerkennen, sie als formative Kraft zu
betrachten.

Ein Manko von Hagners bestechender Studie besteht nun freilich darin,
dass die damit aufgeworfenen Fragestellungen kaum einmal systematisch
diskutiert werden. So flüssig das Buch geschrieben ist und so gekonnt
die Aufbereitung des Materials, bleibt festzuhalten, dass wichtige
Auseinandersetzungen nur en passant geführt werden. Die Fragen an
Foucault sind brisant, sie verdienten der ausführlichen Diskussion -
aber diese bleibt leider häufig aus. Meist in Form von Exkursen werden
Anfragen formuliert, Grenzen der Diskursanalyse markiert, aber eine
grundlegende, systematische Vermessung der Defizite ist kaum zu
erkennen. Es mag sein, dass dies dem größeren Adressatenkreis geschuldet
ist: "Der Hauslehrer" ist ein glänzend geschriebener, funkelnder
wissenschaftsgeschichtlicher Essay, der auf die Erörterung
historiographischer Fragestellungen leider weitgehend verzichtet.


Anmerkungen:
[1] Vgl. Martin Mulsow / Marcelo Stamm (Hrsg.), Konstellationsforschung,
Frankfurt am Main 2005.
[2] Judith Butler hat die beiden Positionen anhand einer
Gegenüberstellung einschlägiger Texte von Pierre Bourdieu und Jacques
Derrida überzeugend herausgearbeitet. Judith Butler, Haß spricht. Zur
Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006, S. 221ff.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Michael Geiss <mgeiss(a)...

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<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-232>

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