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2010/09/01 08:33:18
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] "der Platz hier ist geradezu historisch verseucht"
Datum 2010/09/07 20:34:38
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] arbeit im mittelalter
2010/09/25 09:40:03
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Buch über Kalk- und Kohlebe rgbau
Betreff 2010/09/01 08:33:18
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] "der Platz hier ist geradezu historisch verseucht"
2010/09/01 08:33:18
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] "der Platz hier ist geradezu historisch verseucht"
Autor 2010/09/07 20:34:38
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] arbeit im mittelalter

[Regionalforum-Saar] Der Historische Roman

Date: 2010/09/06 23:38:49
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

From:    Julia Ilgner <julia.ilgner(a)...   07.09.2010
Subject: Rez. TM: H. V. Geppert: Der Historische Roman
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Geppert, Hans Vilmar: Der Historische Roman. Geschichte umerzählt von
Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen: A. Francke Verlag 2009. ISBN
3-7720-8325-0; 434 S.; EUR 24,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Julia Ilgner, Historisches Seminar, Universität Freiburg
E-Mail: <julia.ilgner(a)... die historische Wahrheit kommen eigentlich nur die Dichter heran",
wusste Carl Jacob Burckhardt, seines Zeichens Historiker und
Schriftsteller, zu sagen. Dass er diese "Wahrheit" im positivistischen
Sinne ganz und gar nicht "historisch" fasste, mithin einen
geschichtlichen Grundbegriff seiner vornehmlichen Bedeutungszuschreibung
beraubte, machte ihn zum Modernen, oder treffender: zum Postmodernen.
Die Kontinuität und die konjunkturellen Aktualisierungen dieser
Wahrheitssuche im Genre des Historischen Romans sowie ihre
erzählerischen Variationen nachzuzeichnen, nimmt sich nun Hans Vilmar
Geppert aus philologisch-komparatistischer Perspektive vor.

Mit Geppert widmet sich ein langjähriger Kenner des Genres dem Thema,
der bereits 1976 mit einer Arbeit über den "anderen" Historischen Roman
bis dahin gängige Forschungsauffassungen revidierte.[1] Über Jahrzehnte
hat sich der heutige Emeritus für Vergleichende Literaturwissenschaft
und Europäische Literaturen der Universität Augsburg mit den
literarischen Formen der Aneignung von Geschichte befasst, von der
Romantik (Arnim, Vigny, Manzoni) und dem bürgerlichen Realismus
(Fontane, Rabe) über die amerikanische Moderne (Faulkner) bis hin zur
Gegenwart (Ransmayr) - allesamt Epochen und Autoren, die auch Gegenstand
der vorliegenden Arbeit sind.

Für seine Studie, die Vorzüge eines Überblickswerks und Handbuchs
vereint, zog Geppert insgesamt 45 Romane aus unterschiedlichen
europäischen Nationalliteraturen heran; zahlreiche weitere Werke fließen
qua paratextueller Referenzen kursorisch in die Interpretation mit ein,
etwa wenn der Verfasser den besonderen Umgang einzelner Autoren mit
Geschichte zu exemplifizieren sucht. Zwei Annahmen werden einleitend
postuliert und prägen die Untersuchung auf makrostruktureller Ebene.
Erstens geht Geppert davon aus, dass der Historische Roman in seiner
genuinen Ästhetik von der produktiven Differenz von historischem und
fiktionalem Diskurs geprägt ist. Er akzentuiert den hybriden,
segmentalen Charakter der Gattung, die stets ein Kompositum zweier
Disziplinen und Schreibkonventionen ist. Die Differenzierung, Vielfalt
und plurale Kontinuität, die das Genre kennzeichnet, sei daher zweitens
allein aus einer transnationalen, komparatistischen Perspektive zu
erfassen. Die Zusammensetzung des Korpus spiegelt diese Maxime wider.
Freilich versteht sich die Untersuchung nicht als ein auf universelle
Gültigkeit respektive Vollständigkeit hin angelegtes Kompendium, sondern
als eine exemplarische Darstellung über die Grenzen der
Nationalliteraturen hinaus.

Blickt man auf die grundlegenden, inzwischen aber überholten Arbeiten
über den Historischen Roman von Hugo Aust und Harro Müller für den
deutschen sowie Ina Schabert für den englischen Raum [2], dann erkennt
man in Gepperts Darstellung ein längst überfälliges Unternehmen. Dem
Anspruch auf Aktualität wird dieser insofern gerecht, als er die
Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre selektiv in die eigene Arbeit
integriert. Vornehmlich geschieht dies im Falle der These Fabian
Lamparts von den "Mehrfachanfängen" des Historischen Romans, der den
Ursprung des Genre von der dominanten Reduktion auf die Romane Walter
Scotts löst und stattdessen auf Manzoni, Vigny, und Arnim
rekurriert.[3]

Anschließend an die Darstellung der mehrfachen Wurzeln der Gattung des
Historischen Romans und gattungstheoretische Überlegungen (Kapitel 1 und
2) durchmisst die Untersuchung in sechs Schritten weitgehend
chronologisch die literaturgeschichtlichen Epochen. Schwerpunkte stellen
die europäische Romantik (Kapitel 2), das lange 19. Jahrhundert (Kapitel
3 und 4) sowie die Postmoderne dar (Kapitel 8). Episodisch unterbrochen
wird die Chronologie durch einen zweiten, umfassenderen
Theorieabschnitt. Mithilfe theoretischer und narrativ-systematischer
Unterscheidungen rekapituliert Geppert den status quo der exzessiven
Debatte um Geschichte und Literatur, konzentriert sich dabei jedoch
primär auf Klassiker der Geschichtstheorie wie Hayden White, Reinhart
Koselleck und Paul Ricoeur. Ein Hinweis auf neuere Ansätze,
beispielsweise aus der Erzähltheorie, ein adäquates Instrumentarium für
die Beschreibung von historischen, historiographischen sowie faktualen
Narrationen wäre wünschenswert gewesen.[4] Zweifellos lohnend sind die
einzelnen Parameter (Geppert nennt sie "Erkenntnisformen") des
historischen Erzählens. In erfreulicher Prägnanz legt der Verfasser dar,
was sich hinter "Illusion", "Pluralität", "Reflexion" oder
"Metahistorie" verbirgt. Methodisch strikt ließe sich monieren, dass ein
derart elaboriertes Theoriekapitel an sich im Widerspruch zu einer
chronologischen Überblicksdarstellung steht. Zweifellos bedarf es in der
gegenwärtigen Forschung zum Historischen Roman strukturalistischer
Narratologiekonzepte wie Diahistorien und Chronotopoi. Jedoch sind diese
vor dem Hintergrund einer bestimmten literarischen Epoche und eines
konkreten Untersuchungsgegenstands (des Nouveau Roman) entstanden.
Entsprechend effizient erweisen sich solche Kriterien bei der Analyse
metafiktionaler Weltentwürfe wie den Romanen Thomas Pynchons, Don
DeLillos oder Christoph Ransmayrs. Auch prämodernen Stilformen, wie der
Phantastik eines Leo Perutz werden sie gerecht. Für das Gros der übrigen
Texte, die Geppert behandelt, sind sie hingegen lediglich von bedingter
Relevanz. Will man die Historizität der Poetik nicht gänzlich ignorieren
und der Ästhetik des 19. Jahrhunderts gerecht werden, bedarf es einer
Modifikation. Gleichwohl soll dies den generellen Wert der Untersuchung
nicht unterminieren; Geppert remoduliert vielmehr ein Grundproblem des
Faktizitäts-/Fiktionalitäts-Diskurses, für das bislang methodisch noch
keine allseits akzeptierte Lösung zur Verfügung steht.

In jeder Hinsicht überzeugend erweist sich die Studie in der
Detailanalyse. Eloquent sowie begrifflich präzise leuchtet Geppert die
einzelnen Romane paradigmatisch auf teils engstem Raum aus. Dass dies
auch bei geschichtsphilosophisch hochkomplexen Texten wie Alfred Döblins
"Wallenstein"-Epos (1920) oder Pynchons enzyklopädischer Großerzählung
"Gravity´s Rainbow" (1973) gelingt, verdient besondere Beachtung.
Konstitutive Textmerkmale, die für die Gattungsgenese von Bedeutung
sind, werden herausgestellt. Vor- und Rückverweise suchen zusätzlich dem
komparatistischen Anspruch gerecht zu werden. Dem Zwang zur Reduktion,
der zumeist lediglich knappe Inhaltsparaphrasen zulässt, was bei
fehlender Textkenntnis mitunter den Nachvollzug der Argumentation
beeinträchtigt, sucht Geppert mit einschlägigen Literaturangaben und
Auswahlbibliographien beizukommen. Die gewinnbringende punktuelle
Lektüre wird zudem durch eine optische Trennung von Haupt- und Nebentext
im Layout forciert. Letzterer umfasst weiterführende Informationen oder
referiert Aspekte der Forschungsgeschichte, was den Band kompatibel für
die Ansprüche unterschiedlicher Leserschaften macht.

Weniger kritisch als vielmehr konstruktiv im Hinblick auf eine künftige
Überarbeitung wäre anzuregen, die russischen Autoren zu ergänzen.
Angesichts der nachhaltigen Rezeption Tolstois darf "Krieg und Frieden"
(1868/69) in einer als repräsentativ verstandenen Überblicksdarstellung
nicht fehlen. Ferner bietet sich mit der deutschen Gegenwartsliteratur
der letzten zehn Jahre ein ergiebiges Feld, der konjunkturellen
Attraktivität des Genres nachzugehen. Analysen etwa von Martin Mosebachs
Entdeckerroman "Der Nebelfürst" (2001), Daniel Kehlmanns "Die Vermessung
der Welt" (2005) oder Wolfgang Kappachers biographischer Annäherung an
Hugo von Hofmannsthal in "Der Fliegenpalast" (2009) könnten problemlos
an bestehende Vorarbeiten anknüpfen. Gleichzeitig ließe sich damit die
bislang fehlende Gesamtschau leisten, die die longue durée einzelner
Formationen und Narrative bis in die jüngste Zeit nachzuzeichnen
vermag.

Gepperts Studie kombiniert die Vorzüge einer kompakten Einführung mit
denen einer umfassenden Gattungsgeschichte. Indem sich der Band von
konventionellen Mustern einer nationalliterarischen Gattungsgenese löst
und das Feld historischer Dichtung aus komparatistischer Sicht
perspektiviert, trägt er zu einer richtungweisenden Neujustierung bei.
Der Autor selbst versteht seine Unternehmung nicht zuletzt als
Kompendium mit Anthologiecharakter, das Lektüreanreiz für ein anregendes
Selbststudium sein möchte - es wäre dem Band zu wünschen, dass dies
gelingt.

Anmerkungen:
[1] Hans Vilmar Geppert, Der 'andere' historische Roman. Theorie und
Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung, Tübingen 1976.
[2] Hugo Aust, Der historische Roman, Weimar 1994; Harro Müller,
Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe. Historische Romane im 20.
Jahrhundert, Frankfurt am Main 1988; Ina Schabert, Der historische Roman
in England und Amerika, Darmstadt 1981.
[3] Fabian Lampart, Zeit und Geschichte. Die mehrfachen Anfänge des
historischen Romans bei Scott, Arnim, Vigny und Manzoni, Würzburg 2002.
[4] Denkbar wären neuere Arbeiten, die sich um die Beschreibung und
theoretische Verortung nicht-literarischen Erzählens bemühen. Einen
Ansatz zur Systematisierung bietet der Sammelband von Christian Klein:
Ders. (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen
nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart 2009. Vgl. darin insbesondere
den Beitrag von Stephan Jaeger zum Erzählen im historiographischen
Diskurs (S. 110-135). Vgl. ferner Daniel Fulda / Stefan Matuschek,
Literarische Formen in anderen Diskursformationen. Philosophie und
Geschichtsschreibung, in: Simone Winko / Fotis Jannidis / Gerhard Lauer
(Hrsg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des
Literarischen. Berlin  2009, S. 188-219 sowie die Beiträge von Werner
Strube und Frank Zipfel im selben Band.


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Stefan Jordan <jordan(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-3-138>

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