Mord an den Schwächsten
Ausstellung im Rathaus St. Johann zeigt, wie Kinderärzte in
der NS-Zeit Verbrechen begingen
Vergast, vergiftet, mit tödlichen Erregern infiziert, langsam
ausgehungert – auf diese Weise ermordeten Kinderärzte in der
NS-Zeit zwischen 5000 und 10 000 Säuglinge, Kinder und
Jugendliche mit Behinderung. Belege dafür gibt es im Rathaus St.
Johann.
Saarbrücken. „Es war geheim. Es war verboten. Man konnte
es wissen, und man hat es gewusst.“ Thomas Beddies gerät bei
seinem Forschungsthema in Rage. Der Historiker erforscht im
Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
(DGKJ) die Verbrechen von Kinderärzten in der NS-Zeit. Die
daraus entstandene Ausstellung „Im Gedenken der Kinder. Die
Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“ wurde
erstmals im September 2010 bei der Jahrestagung der DGKJ in
Potsdam gezeigt. Seit Dienstag ist sie im Hauberrisser Saal im
Rathaus St. Johann zu sehen.
„Kinder mit Trisomie 21, die glücklich und gesund zuhause
gelebt haben, wurden von ihren Eltern ins Krankenhaus gebracht
und waren später programmgemäß tot. Sie hätten noch lange
zuhause und gut leben können“, sagt Beddies in seinem Vortrag.
Kinder wie Elke Jacob. Sie war eines von zirka 200 Kindern mit
Behinderung, die im Landeskrankenhaus Stadtroda in Thüringen
starben. Ärzte haben die Zweijährigen vermutlich mit einer
Überdosis des Betäubungsmittels Luminal getötet. Stadtroda war
Teil eines Netzwerks von etwa dreißig „Kinderfachabteilungen“,
in denen Ärzte von 1939 bis 1945 zwischen 5000 und 10 000
Säuglinge, Kinder und Jugendliche ermordeten. Welches Kind
„lebensunwert“ war und getötet werden sollte, darüber entschied
in vielen Fällen der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen
Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“. Oft
ohne Wissen der Eltern. Hauptgutachter waren die Kinderärzte
Werner Catel, Hans Heinze und Ernst Wentzler. Und sie hatten
Helfershelfer im ganzen Land. Dazu heißt es in der Monatsschrift
Kinderheilkunde (Januar 2011): „Ein dichtes Netzwerk kollegialer
Kontakte lieferte Hinweise auf Säuglinge, Kinder und
Jugendliche. Ohne die Beteiligung einer Vielzahl von Ärzten
hätte der Vernichtungsapparat längst nicht so effektiv arbeiten
können.“
Viele Belege dafür sind in der Ausstellung „Im Gedenken der
Kinder. Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der
NS-Zeit“ zu sehen. Sie ist bis zum 3. Februar, Montag bis
Freitag, 12 bis 18 Uhr, geöffnet. Der Eintritt ist frei. dög
im-gedenken-der-kinder.de
Verbrecher in allen Ehren
Mediziner, die verantwortlich für Tod und Leid waren,
lebten nach dem Krieg gut
Homburg/Ensheim/Merzig. Die meisten
Kinderärzte, die für die Morde an bis zu 10 000
Kindern verantwortlich waren, praktizierten und
lehrten in der Nachkriegszeit unbehelligt weiter,
etwa Werner Catel in Kiel und Hans Heinze in
Hannover.
Beim NS-Euthanasieprogramm, das selbst nach
NS-Recht strafbar war, haben auch viele Saarländer
freiwillig mitgemacht. Von den bis zu 1600 Patienten
der psychiatrischen Anstalten Homburg und Merzig
wurden in der Nazizeit über 1000 deportiert und
ermordet, nur 80 bis 260 überlebten. Die
Forschungsergebnisse sind dem Historiker Christoph
Braß zu verdanken.
Mitverantwortlich für etwa 2350
Zwangssterilisationen und Krankenmorde in der
NS-Zeit war der Ensheimer Arzt Oskar Orth
(1876-1958), Leiter des Landeskrankenhauses in
Homburg. Auch er genoss nach 1945 höchstes Ansehen,
wurde Ehrenbürger Homburgs und Saarbrückens, erhielt
1957 das Bundesverdienstkreuz. Straßen wurden nach
ihm benannt. Erst 2012 entschloss sich der
Bezirksrat Halberg, den Oskar-Orth-Brunnen
umzubenennen, in Ensheimer Brunnen. Die Stadt
Homburg stiftete noch 1980 einen nach Orth benannten
Wissenschaftspreis, jetzt „Wissenschaftspreis der
Stadt Homburg“. dög/sbu