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2015/08/07 23:38:07
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Konf: Der Wiener Kongress und seine Folgen.
Datum 2015/08/12 08:53:55
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Wie uns die Perseiden beim Sparen helfen.
2015/08/04 08:16:46
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[Regionalforum-Saar] "Hier wohnt ein Judenfreund"
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[Regionalforum-Saar] 30 Jahre Heimat- und Kulturverein
2015/08/07 23:38:07
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Konf: Der Wiener Kongress und seine Folgen.
Autor 2015/08/12 08:53:55
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Wie uns die Perseiden beim Sparen helfen.

[Regionalforum-Saar] 1945 - die Welt am Wendepunkt

Date: 2015/08/10 23:05:37
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...

Buruma, Ian: '45. Die Welt am Wendepunkt [Übersetzt aus dem Englischen
von Barbara Schaden]. München: Carl Hanser Verlag 2014. ISBN
978-3-446-24734-5; 412 S., 27 SW-Abb.; EUR 26,00.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Claudia Kemper, Hamburger Institut für Sozialforschung
E-Mail: <claudia.kemper(a)... verwundert, wie wenig der 70. Jahrestag des Kriegsendes von 1945 im
Jahr 2015 geschichtspolitische Debatten über die Bedeutung Europas
ausgelöst hat. Die Ingredienzen für eine kontroverse Auseinandersetzung
über Sinn und Gehalt der europäischen Einheit wurden schon im ersten
Halbjahr von politischer Seite ausreichend geliefert. Mit Ian Burumas
Buch "'45. Die Welt am Wendepunkt" (englischer Originaltitel: "Year
Zero. A History of 1945") liegt eine historiographische Flanke vor, die
kritische Zeitgenossen in dieser Debatte ausgiebig konsultieren könnten.
Angesichts der mentalen und physischen Trümmerlandschaften am Ende des
Krieges waren Gewalt und Angst verbreitet, aber eben auch Träume über
eine friedlichere Zukunft, sei es mit Hilfe einer Weltregierung, der
Vereinten Nationen oder eines vereinten Europas - Träume, die schon
länger verflogen und einem starken Pragmatismus gewichen sind.

Buruma führt seine Leserinnen und Leser an Schauplätze unterschiedlicher
Weltregionen (mit Schwerpunkt auf Westeuropa, den USA und Südostasien),
um Zäsuren, Zusammenbrüche und Aufbrüche des Jahres 1945 in einem
fulminanten Panorama zusammenzuführen. Gespickt mit zeitgenössischen
Zitaten der Enttäuschten und Hoffnungsvollen verdeutlicht seine
Geschichte vom Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder dessen
Verbindungen mit der Gegenwart, so etwa in den Ideen der "Paneuropäer"
(wie Buruma etwas undifferenziert zusammenfasst) oder anderer
europäischer Visionäre, die mehr als aktuell klingen: "Wenn Europa
wirtschaftlichen Nationalismus nicht gegen internationalen Regionalismus
eintauschen kann, wird es zugrunde gehen, wie die griechischen
Stadtstaaten zugrunde gingen: in fruchtlosem gegenseitigen Hass und
Misstrauen unter der Knute des Angreifers." (S. 293) Buruma zitiert hier
den britischen Schriftsteller und Kritiker Cyril Connolly vom Dezember
1944, der mit der Kapitulation des Deutschen Reiches wenige Monate
später seine Hoffnung auf eine Befriedung Deutschlands und auf
Frankreich als kulturelles Herz Europas setzte.

Schon 1945 begann jedoch auch der Streit etwa zwischen Linken in
Großbritannien und Nationalisten in Frankreich, mit welchen
Planungstechniken sich Frieden und Stabilität erreichen ließen. Es ist
bekannt, aber in dieser erzählerischen Dichte nochmals beeindruckend:
Letztlich konnten sich viele Linke, die teils im Widerstand gegen den
Nationalsozialismus gekämpft hatten, nur für kurze Zeit behaupten, bis
sich das Primat der Stabilität durchsetzte. Freilich bewegen sich die
Leser an diesem Punkt der Lektüre schon im dritten Teil ("Nie wieder")
von Burumas detailreicher, gleichzeitig in mutigen großen Schwüngen
erzählten Geschichte, in der nicht nur Europa um seinen inneren
Zusammenhalt ringt, sondern immer wieder auch Südostasien und vor allem
Japan. In den beiden Teilen zuvor lässt der Autor unter den
Überschriften "Befreiungskomplex" und "Trümmerbeseitigung" ein Panorama
der Gewalt, der teils ungezügelten, teils verrechtlichten Rache und
Vergeltung am Leser vorbeiziehen, das einen - wohl auch beabsichtigt -
schaudern lässt.

Buruma ist ein Könner der populären Geschichtserzählung, in der
nonchalant Teile des aktuellen Forschungsstandes eingeflochten werden,
wenn auch oft ohne detaillierte Belege, oder Ambivalenzen
zeitgenössischer Handlungsoptionen zum Ausdruck kommen. Persönliche
Erinnerungen, Tagebucheinträge, Biographien, Zeitungs- und
Zeitschriftenartikel gehören zu den Hauptquellen, aus denen Buruma
schöpft und mit denen er sowohl die Befreiung der Konzentrationslager in
Europa oder den beginnenden Bürgerkrieg in Griechenland als auch das
Vorrücken sowjetischer Truppen in der von Japan besetzten Mandschurei
erzählt. Verstörend ist der "Befreiungskomplex", in dem der Jubel über
die Befreier und der Genuss wiedergewonnener körperlicher Unversehrtheit
neben dem Hunger und neben den Gewaltausbrüchen gegen alle stehen, die
tatsächlich oder vermeintlich zur falschen Seite gehört hatten.

In den Niederlanden, wohin Burumas Vater nach seiner Zeit als
Zwangsarbeiter in Berlin zurückkehrte, oder in den ehemals deutsch
besetzten Gebieten in Polen spielen sich ähnliche grausame Szenen ab,
werden Kollaborateure erschlagen, Frauen vergewaltigt, wird sich dem
eigenen Leben scheinbar nur durch die Gewalt am Anderen versichert.
Buruma lässt den Königsberger Krankenhausleiter Hans Graf von Lehndorff
fassungslos sprechen angesichts der Vergewaltigungen von Schwestern wie
Patientinnen durch russische Soldaten: "Hat das noch etwas mit
natürlicher Wildheit zu tun oder mit Rache? Mit Rache vielleicht, aber
in einem anderen Sinn... Welch ein Bemühen, das Chaos zur Schau zu
tragen!" (S. 98)

Buruma greift dieses und andere Zitate auf, um seine Interpretation der
basalen Gefühls- und Handlungsdimensionen in dieser im wahrsten Sinne
des Wortes entgrenzten Welt einzufügen. Aus den zahlreichen individuell
motivierten Beweggründen ragte die Rache weit heraus, die "selten frei
im Raum" steht (S. 98), sondern angestachelt oder antrainiert wird, die
eskaliert oder einfach nur geschieht, weil sie keine Konsequenzen
fürchten muss. Wenn auch eingängig, neigt Buruma allzu sehr dazu,
menschliches Verhalten als triebgesteuert zu deuten. Hierin liegt auch
der argumentative Übergang zum zweiten Teil des Buches
("Trümmerbeseitigung"), denn was sich einige Wochen, vielleicht Monate
unkontrolliert Bahn brach, habe unter Kontrolle gebracht werden müssen.
Ein Hauptmotiv für Militärtribunale und Kriegsverbrecherprozesse sieht
Buruma deshalb in der Notwendigkeit, das emotionale Bedürfnis nach
Vergeltung in demonstrativen, fassbaren Verfahren zu befriedigen. In den
Teilkapiteln "Entgiftung" und "Rechtsstaatlichkeit" widmet sich der
Verfasser den teils planlosen, aber nichtsdestotrotz effektiven Methoden
sowohl sowjetischer wie westlicher Besatzungsbehörden, der in der
Vergangenheit geschehenen Gewalt ein eigenes, die Gegenwart
legitimierendes Gewaltmonopol entgegenzusetzen.

Der Situation geschuldete Planlosigkeit stellt Buruma auch fest im
Umgang westlicher Besatzer mit vertriebenen Kroaten, Serben, Slowenen
oder Ukrainern, die in Kärnten anlandeten und nach einigem Abwägen ohne
Bedenken, aber durchaus in Kenntnis der dortigen Situation in den
Machtbereich der Sowjetunion rückgeführt wurden. Liest man die
Abschnitte zu den in erster Linie nach logistischen und diplomatischen
Gesichtspunkten angeordneten Entscheidungen, als deren Folge
Menschenmassen auf dem europäischen Kontinent bewegt wurden, wundert
einen der Anspruch, mit dem fast zur selben Zeit in San Francisco die
Gründungsversammlung der Vereinten Nationen (UN) abgehalten wurde.
Buruma löst den Widerspruch, der keiner war, nur implizit auf: Er
verweist auf die langen Linien der UN-Idee seit der Atlantik-Charta 1941
ebenso wie auf die zahlreichen regionalen Konflikte, die im und nach dem
Krieg ihre Konstellation veränderten, aber in der Regel nicht
aufhörten.

Die "Welt am Wendepunkt" zeigt sich in Burumas episodischer Erzählung
als eine Welt, in der Gesellschaften zertrümmert waren und in der für
die so genannte zivilisierte Welt nicht vorstellbare Grausamkeiten
geschehen waren. Die Menschen dieser Welt waren rasend vor Wut und
Rachelust, aber auch voller Hoffnung, die womöglich wegen des
vorangegangenen Grauens so überzeugt und groß ausfiel. Es wundert nicht,
dass die Originalausgabe den Titel "Year Zero" trägt, denn aus Sicht
vieler Zeitgenossen musste es einen klaren Neuanfang geben. Es ist
Burumas erzählerischer Strategie zu verdanken, dass Kontinuitäten im
Personal, in den Institutionen und in der nicht abgetragenen Schuld
dennoch so deutlich werden. Verständlicherweise erfahren die Leser vom
Japan-China-Kenner Buruma mehr über diese Zonen der Nachkriegszeit als
etwa über Nordafrika oder Skandinavien. Während Deutschland als vom Weg
abgekommene Zivilisation galt, die nur ordentlich mit Kulturgut und
Demokratielehrstunden eingedeckt werden müsse, bis das Gute wieder zum
Vorschein komme, standen Japaner weiterhin im Ruf, mit
partizipatorischer Demokratie wenig anfangen zu können, weshalb sie von
den Amerikanern eher missioniert als "re-educated" wurden. Japans bis
dato schwieriges Verhältnis zur Vergangenheit oder seine komplizierten
Beziehungen zu anderen asiatischen Staaten versucht Buruma nicht das
erste Mal zu erklären. Auch in dieser Variante japanischer Geschichte,
eingebettet in eine globale Erzählung mit offenem Ausgang, bleiben
weiterhin Fragen offen.

Ian Buruma ist kein Historiker im akademischen Sinne. Es fehlt an
repräsentativer Auswahl der Quellen und an analytischer Tiefenschärfe,
wie an anderer Stelle schon zu Recht bemerkt wurde.[1] Auch der separate
Bildteil des Buches bleibt mit dem Text unverbunden und wird nicht als
Quelle genutzt. Ein Hauptziel des Autors (geb. 1951) ist es, "die Welt
meines Vaters und seiner Generation zu verstehen" (S. 20); dafür baut er
mitunter sehr persönliche Bezüge zur eigenen Familie ein. Wer sich
darauf einstellt und weder eine Lehrstunde zum deutschen Kriegsende noch
eine Bestandsaufnahme aller Neuanfänge von 1945 erwartet, kann das Buch
mit viel Gewinn lesen. Denn Buruma erzählt eine subjektiv komponierte
Geschichte von Rache und Hoffnung in chaotischer Zeit, und genau darin
liegt ihre Kraft.


Anmerkung:
[1] Jürgen Osterhammel, Meist siegte das Bedürfnis nach Rache, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.2015, S. 10,
<http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/meist-siegte-das-beduerfnis-nach-rache-ian-burumas-45-die-welt-am-wendepunkt-13445446.html>
(22.07.2015); Gregor Schöllgen, Als Onkel Emil gegen Hitler kämpfte, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.2015, S. 6,
<http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/autor-ian-buruma-zeigt-das-kriegsende-in-europa-und-asien-13501600.html>
(22.07.2015).

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Jan-Holger Kirsch <kirsch(a)...