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Datum 2015/01/06 20:11:48
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Karl der Grosse
2015/01/30 00:00:29
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Betreff 2015/01/28 16:14:49
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Autor 2015/01/06 20:11:48
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Karl der Grosse

[Regionalforum-Saar] Flut und Boden. Roman einer Familie - eine interessante Rezension

Date: 2015/01/04 22:50:28
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...

Leo, Per: Flut und Boden. Roman einer Familie [4. Aufl.]. Stuttgart:
Klett-Cotta 2014. ISBN 978-3-608-98017-2; 350 S.; EUR 21,95.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Stefanie Schüler-Springorum, Zentrum für Antisemitismusforschung,
Technische Universität Berlin
E-Mail: <schueler-springorum(a)... Rezensent/innen sind sich (fast durchweg) einig: Dieses Buch ist
alles Mögliche, nur kein Roman. Eine Familienerzählung vielleicht, ein
literarischer, ein mentalitätsgeschichtlicher, ein dokumentarischer, ein
autobiographischer Essay - so lauten die Definitionsangebote. Nur ein
Kollege, Thomas Meyer, hat sich die Mühe gemacht, neben dem "Roman" auch
die ein Jahr zuvor, unter dem ebenfalls eingängigen Titel "Der Wille zum
Wesen" erschienene Dissertation Per Leos mit zu besprechen, beide Bücher
gewissermaßen nebeneinander zu legen.[1] Und dies scheint der richtige
Weg zu sein, denn nur so wird das Besondere, das Neuartige an Leos
Vorgehensweise deutlich. Es ist tatsächlich ein gleichermaßen
anspruchsvolles wie gewagtes Unterfangen, als Historiker ein Buch über
die eigene Familie zu schreiben und deren Entwicklung am Thema der
Dissertation entlang zu erklären, oder anders ausgedrückt: die selbst
erarbeiteten Thesen am Beispiel der eigenen Familiengeschichte zu
überprüfen. Anspruchsvoll ist dies nicht nur deshalb, weil es sich
bekanntlich um zwei völlig verschiedene Textsorten mit jeweils
unterschiedlichen Schreibkonventionen handelt, sondern auch und vor
allem, weil Leos Ziel über die gängige Frage "Wie wurde Opa ein Nazi?"
weit hinausgreift. Es geht ihm um die Spezifik, um die Potenziale des
deutschen Kulturprotestantismus bzw. um die Frage "Wieso wurde Opas
Bruder kein Nazi?".

Denn Per Leo (geboren 1972) hat das Glück, in seiner Familie ganz
verschiedene Ausformungen des deutschen Idealismus auffinden zu können,
wobei die Frage bleibt, ob diese tatsächlich so verschieden waren oder
erst durch den Nationalsozialismus in gegensätzliche Richtungen
katapultiert wurden. Aus einer durch und durch bildungsbürgerlichen
Familie lesender und schreibender Lutheraner abstammend, die sich zu
Beginn des 20. Jahrhunderts praktischerweise mit hanseatischem
Kaufmannsgeld verbunden hatte, entsprach der jüngere Sohn Friedrich dem
Bild des lebenstüchtigen, frischen und der Scholle zugewandten
Jungmannen, der jedoch in den ökonomischen Wirren der Weimarer Republik
kein Bein auf die Erde bekommt, bis ihm dann der Nationalsozialismus die
große Chance bietet. Im Rasse- und Siedlungshauptamt als
Abteilungsleiter zuständig für Rassegutachten, ist der SS-Mann Leo ein
klassischer Schreibtischtäter - das Kapitel über seine NS-Zeit, unter
der Überschrift "Kein Geheimnis", möchte man sich als Text für die
nächste Bundestagsgedenkstunde zum 27. Januar wünschen. Hier läuft der
Autor sprachlich zu Hochform auf und schreibt mit einem brutal
entmystifizierenden Sarkasmus an gegen all das bildungsbürgerliche
Erinnerungsgeraune von tragischen Verstrickungen und falschen Faszinosa,
das einem auf mancher Gedenkveranstaltung bis heute den Atem rauben
kann. Überhaupt besticht das Buch durch die Vielfalt der Sprache, des
Stils - mal ist er böse, mal einfühlsam, aber immer genau beobachtend
und klug beschreibend. Dies gilt einmal mehr für die Schilderung des
"guten Großonkels" Martin, des Gegenbilds zum Nazi-Opa, der als
erbkranker körperbehinderter Naturwissenschaftler den
Nationalsozialismus am Rande (und zwangssterilisiert) überlebte. Er
steht für die andere Möglichkeit, bildungsbürgerliche Traditionen im
Deutschland des 20. Jahrhunderts weiterzuleben, in seinem Fall in der
DDR, als ebenso kunst- wie feinsinniger Außenseiter. Beide Lebenswege
rückzuführen, zu verknüpfen mit der großen Sehnsucht des deutschen
Idealismus nach Sinn und Bedeutung, nach Individualität im großen
Ganzen, ist eine wahrlich anspruchsvolle Aufgabe, der sich der Autor
zugleich entlarvend und mitfühlend stellt.

Aber es ist, wie gesagt, auch ein gewagtes Unterfangen, denn dem
Historiker Leo ist natürlich sehr bewusst, dass die Damen und Herren
Kollegen sich nicht nur genussvoll über die Beschreibung Ulrich Herberts
und dessen Freiburger Seminar hermachen, sondern ebenso eifrig
beobachten werden, wie sich der Autor über die erinnerungspolitischen
Fallstricke, die Mühen der Meta-Ebene hangelt und dabei auch noch viel
Persönliches preisgibt oder doch zumindest preiszugeben scheint. Und
vielleicht findet der eine oder die andere es auch ein bisschen dreist,
in einem "Roman" gleich noch eine Zusammenfassung der Dissertation
mitgeliefert zu bekommen. Aber Per Leo hat sich von all dem, zum Glück,
nicht abhalten lassen, dieses Buch genauso zu schreiben, wie er es für
richtig hielt - und daher passt es auch in kein Schema, beugt sich unter
keine Genre-Definition, ist vielmehr ein sehr gelungener Ausdruck
historisch-intellektuellen Eigen-Sinns. Als Historikerin macht es vor
allem eins: Spaß zu lesen.

Die Fußballfans unter uns kommen nebenbei auch auf ihre Kosten und
können in Erinnerungen an die großen Zeiten Werder Bremens schwelgen,
während der wunderbare Abschnitt über den Westbesuch bei der
DDR-Verwandtschaft vermutlich im Jahre 2039 in einer Anthologie zur 50.
Wiederkehr des Mauerfalls abgedruckt werden wird. Vor allem aber - und
schon dafür sei Per Leo herzlich gedankt - werden nach dem Kapitel "The
Making of a Nazi-Enkel" keine Kisten mehr auf deutschen Dachböden
entdeckt und keine Familiengeschichtsbücher mehr als Tabubrüche
inszeniert werden können. Zu amüsant ist die Steigerung des
aufmerksamkeitsökonomischen Mehrwerts, die der Autor nach seinem
Selbst-Outing als "Nazi-Enkel" bei Therapeutinnen wie Kommilitoninnen
gleichermaßen registriert. Und, last but not least, ist sein Buch auch
"für die Lehre" nützlich, als hoffentlich nachhaltig beeindruckendes
Beispiel dafür, dass man als HistorikerIn neben der Neugier vor allem
zwei Dinge braucht: die Lust an der sorgfältigen Quellenlektüre und die
Begabung zum Verfassen guter Texte. Lesen und Schreiben also.


Anmerkung:
[1] Per Leo, Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur,
charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland
1890-1940, Berlin 2013; dazu Thomas Meyer, Antisemitismus als
körperliches Geschehen. Per Leos Roman "Flut und Boden", seine
Dissertation "Der Wille zum Wesen" und Nitzan Lebovics Studie über
Ludwig Klages analysieren die Vorgeschichte des "Dritten Reiches", in:
Literaturkritik Nr. 11/2014,
<http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19908>
(04.12.2014).

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Jan-Holger Kirsch <kirsch(a)...