Guten Morgen,
über
Frau Dr. Stitz kam ich in Kontakt zu Herrn Dr. Klaus Bohr aus Neunkirchen-Saar,
der heute in Toronto in Kanada lebt. Er hat 1946 in St. Wendel am Wendalinum
sein Abitur gemacht.
Nach
dem Studium in Frankreich und Deutschland unterrichtete er u.a. an der
Schulungsstätte der Ruhr-Stahlindustrie in Gelsenkirchen und wechselte 1962 in
den Auswärtigen Dienst. Als Botschaftsrat a.D. lebt er in Toronto (Kanada)
und schreibt in Einzelgeschichten seine persönlichen Erinnerungen
auf.
Als
Frau Stitz davon erzählte, habe ich angeboten, die Geschichten in
unregelmäßigen Abständen im Regionalforum zu veröffentlichen.
Kommentare zu den Geschichten bitte ich direkt an die Liste zu
richten, da Herr Bohr seit kurzem Mitglied derselben ist.
Mit
freundlichen Grüßen
Roland Geiger
Kulinarisches
Niemals wieder wird es so munden wie von den Tellern meiner frühen
Jahre, die allesamt aus den Mettlacher Werkstätten meines Patenonkels Josef
stammten, der Zeit seines Lebens, nachdem er schwer verletzt aus der letzten
Schlacht des großen Krieges 1918 heimgekehrt war, als Designer bei Villeroy und
Boch tätig war. Das lag nicht nur im gesunden Hunger von Heranwachsenden oder an
den wunderbaren Geschichten, die Onkel Josef zu erzählen verstand, sondern
daran, dass wir Nutznießer mehrerer kulinarischer Traditionen waren die von
Meisterinnen ihres Fachs in den Küchen der Familie mit viel Liebe gepflegt
wurden. Mutter wurde früh mit den Geheimnissen der feineren französischen Küche
bei einer Verwandten ihres Vaters im Lothringischen Maizières vertraut, wo sie
ihre Sommerferien zu verbringen pflegte. Ihr Kalbsbraten in Morcheln und Sahne
oder der gespickte Rehrücken hätten keine Michelin-Inspektion fürchten müssen.
Für mehr Alltägliches hütete sie Rezepte ihrer Großmutter vom Bauernhof der
Wahlens im Schatten der mittelalterlichen Abtei Tholey, die für ihre
Kräutergärten bekannt war.
Die Erinnerung an das Heimatdorf des
Vaters an der Saarschleife ist für immer mit einem durchdringenden
fruchtig-säuerlichen Duft verbunden der sich – aus allen Kellern des Ortes
aufsteigend – über die Gassen legte und sich auch in den Stuben und Kammern der
Häuser hielt.
Der durchgegorene-herbwürzige
Apfelwein, der als Stolz jeden Hauses und als Nachweis für die Kelter- und
Keller-Künste das ganze Jahr über in großen Eichenfässern in den Kellern
lagerte, war Lebenselixier der Region zwischen dem unteren Saartal und der
Obermosel, stand mittags und abends auf jedem Tisch, stillte Durst und würzte
Bratensoßen wie auch Desserts.
Ganz und gar
unvorstellbar war eine Mahlzeit, bei der nicht auch jene meist blaugebrannten
Steinkrüge mit ihrem duftenden Inhalt zu der aus großen alten Eichenfässern
abgezapften kühlen Labe eingeladen hätten. Unübertroffen als Appetitanreger
verwandelte der kernige Viez selbst einfache Gerichte in kulinarische Erlebnisse
und inspirierte so manchen Meinungsaustausch am Familientisch. Erhitzt und mit
Honig versetzt galt er als tausendfach bewährtes Hausmittel gegen Malaisen
verschiedenster Art.
Das Ansehen der
Familien im Dorf hing nicht zuletzt von der Zahl der Fuder und der Qualität
dieses aus speziellen Viezäpfeln gewonnenen Trunkes ab. Man wusste genau, wer
die beste „Cuvée“ einlagerte. Zumeist war das ein Vetter des Vaters, der seinen
Keller unweit unseres großelterlichen Hauses hatte und oft und gerne sich durch
Proben seinen Spitzenplatz bestätigen ließ. Hochgeschätzt waren auch Fuder
meines Patenonkels aus Äpfeln vom Südhang, der „Wingert“ hiess und so die
Vermutung nahe legte, dass hier vergangene römische Weinkultur in Form von
Viezkultur weiterlebte.
Krönendes
Beiwerk des Kelterns war ein aus Trester und Apfelwein gebranntes hoch-
prozentiges Destillat, das den Vergleich mit dem sehr viel bekannteren Calvados
nicht zu scheuen brauchte.
Weniger als
Alkohol denn als selbstverständlicher Begleiter in allen Lebenslagen betrachtet
wurde Viez auch uns Kindern nicht vorenthalten. Solche aus überlieferter
Tradition geborene Praxis war aufgrund der robusten Gesundheit sowie des
biblischen Alters nicht weniger Tischgenossen schwer anfechtbar. Uns jedenfalls
hat er keine Schäden, dafür jedoch viele nostalgische Erinnerungen hinterlassen.
Eine lobende
Erwähnung des herzhaften Trunkes aus dem Dreiländereck zwischen Lothringen,
Luxemburg und der unteren Saar, der allgemein als „Merziger“ Viez gehandelt
wurde, findet sich sogar in der Chronik der Napoleonischen Kriege und das kam
so:
Der Sohn des Sankt Johanner Gastwirts
vom „Coq d’Or“ in Saarbrücken, Hans Balder, war um die Jahrhundertwende nach
langen Lehrjahren bei Meistern der Pariser Kochkunst in den Umkreis des
Kaiserlichen Hofes dortselbst geraten und hatte das Wohlwollen des Herrschers
aller Franzosen gefunden. Dieser schätzte die deftige Hausmannskost, die Balder
nach saarländischen Rezepten zu bieten hatte, höher ein als die dekadenten
Gerichte der lokalen Haute Cuisine. Napoléon war nämlich nach der Beschreibung
Brillat de Savarin’s kein Liebhaber kulinarischer Genüsse, eher einer, der zu
unmöglichen Zeiten nach Nahrhaftem verlangte, um sich den Magen vollzuschlagen.
Solche Bedürfnisse wusste der Koch von St. Johanner Markt in Form von
Reibekuchen oder Dibbelabbes aufs Beste und ohne großes Zeremoniell zu
befriedigen. So hoch stand er schließlich in der Gunst des Empereur, dass dieser
ihn in den Adelsstand erhob und ihm gleichzeitig den Titel „Grand Chef de la
Cuisine de Sa Majesté“ verlieh. Als man dann aufbrach, den Herrscher aller
Russen in die Knie zu zwingen, war Hans Balder samt Töpfen und Pfannen als
Leibkoch mit von der Partie. Auf den Marsch gen Osten kehrte man im „Coq d’Or“
am Sankt Johanner Markt ein, wo Hans Balder – jetzt am heimischen Herd wirkend –
noch einmal alles aufbot, was die saarländische Küche an Deftigem zu bieten
hatte. Er sah, mit welcher Begeisterung Seine Majestät nicht nur den kredenzten
Saar-Rieslingen, sondern auch dem Merziger Viez zusprach, woraufhin er für
reichliche Vorräte an solchen für die kommende Kampagne in den Weiten Russlands Sorge trug.
Das sollte sich am 8. September nach der blutigen Schlacht von Borodino
auszahlen, als der völlig erschöpfte kaiserliche Schlachtenlenker gebieterisch
nach Dibbelabbes mit Viez verlangte, was seinen Leibdiener in Bedrängnis
brachte. Vergeblich fahndete der auf dem Schlachtfeld nach passendem Bratfett,
und Balder buk in der Not seinen Dibbelabbes in Kanonenöl. Doch der Viez rettete
den Tag. Sein kräftiges Aroma vermochte sogar den ungewohnten Geschmack solchen
Bratfetts zu überdecken und trug dem Koch und Mundschenk, wie dieser in seinem
Tagebuch berichtete, höchstes kaiserliches Lob ein.
Unter den Gaumenfreuden gab es einem
frühen Favoriten, der seine Spitzenstellung über Jahrzehnte hinweg unangreifbar
halten sollte. Seine Herkunft ist nicht eindeutig zuzuordnen, wenngleich er eher
aus den Backkünsten des Hunsrücks und der Pfalz statt aus der mehr der Apfel-
und Viezkultur huldigenden Überlieferung des moselfränkischen Familienzweigs
stammen dürfte. Die Rede ist von einzigartigem Zwetschgenkuchen, wie er über
Jahr-hunderte in den Dörfern des Hunsrücker Hochwaldes und der Pfalz auf
knusperigem Brotteig, der den Saft kaum halten konnte, mit jenen kleinen
säuerlichen erst Ende August reifenden Pflaumen gebacken wurde. Wenn dann zum
Sonntagskaffee eine Haube frischer Schlagsahne den saftigen Belag der Früchte
abdeckte, hatte kein anderes Gebäck auch nur den Hauch einer Chance, im
Wettbewerb der Gaumen mitzuhalten. Ich fand diese säuerlich-würzige
Pflaumensorte später in den kargen Bergen Bosniens wieder, wo sie als Grundlage
für einen ungewöhnlich aromatischen Slibowitzdiente und mich mit jedem Schluck
in die spätsommerlichen Kaffeeorgien meiner Heimat versetzte.
Großmutter Luwies verdanke ich eine
früh eingefleischte Vorliebe für die majorantrunkene „Pfälzer Kich“ Die Frauen
dreier Generationen unserer Familien aus dem Landstuhler Bruch hatten für
ungebrochene und unverwässerte Überlieferung pfälzischer Spitzenprodukte wie
Saumagen, schlachtfrische Leberwurst, Metzelsupp und Anduddele (hausgemacht und
geräuchert) Sorge getragen. Den blanken Stolz des Monopols über gefüllte Knepp,
Hoorische, Schales und Dibbelabbes teilte man notgedrungen mit Rivalen aus dem
Hunsrück, die ihrerseits Autorenstolz für diese Gerichte beanspruchten. Beim
Anrichten des Sau-magens durften wir Kinder erste Erfahrungen in gehobener
Regionalküche sammeln. Immer wieder musste er – langsam in der Röhre garend –
mit Schmalzfett übergossen werden, bis er knusprig-braun aus allen Nähten
platzend seinen duftenden Inhalt aus Kartoffelwürfeln in Majoran und magerem
Rauchfleisch freigab. An besonderen Festtagen schenkte es Luwies dazu – auch
hier bewährter Pfälzer Tradition folgend – den Enkeln Weinwasser mit Zucker ein
und legte damit die Grundlage für eine lebenslang anhaltende
Cholesterolvorsorge.
Es blieb mir immer unverständlich,
wenn hohe ausländische Staatsgäste, denen ein fülliger Politiker aus dem
Pfälzischen regelmäßig dieses sein Lieblingsgericht servierte, statt mit
spontaner Begeisterung zumeist nur mit höflicher Zurückhaltung reagierten, bis
ich dann bei einem Lokaltermin herausfand, dass 3-Sterne-Köche in Deidesheim das
Gericht so „verfeinert“ hatten, dass von dieser glorreichen Inkarnation
pfälzischer Deftigkeit nur noch ein blass-dekadenter Abglanz auf hoheitlichen
Tellern landete und so manches Vorurteil über die Esskultur der deutschen
Provinz unwiderlegt blieb.
Was Wunder, das sich hartnäckig als
Gerücht hält, hohe für die bilateralen Beziehungen nicht unwichtige Staatsgäste
hätten nach Verzehr dieser mit Trüffeln und anderem modischem Beiwerk verfüllten
Speise keine große Neigung zu dem erhofften diplomatischen Einlenken gezeigt,
was dann auch durch die verführerischen Rieslinge aus dem welt-berühmten Lagen
der Umgebung nur habe teilweise kompensiert werden können.
Das Angebot eines Pfälzer
Original-Saumagens à la Luwies hätte nicht nur den Etat des Bundeskanzleramtes
schonen können, er hätte vermutlich auch den hohen Gästen einen nachhaltigen und
unverfälschten Einblick in die so manche Widrigkeiten überwindende Pfälzer
Genussfreude vermittelt. Wer weiß, ob nicht ein Biss in die knusperige Hülle des
Originalgerichts auch bei Skeptischeren unter den Tafelnden wie Francois M. oder
Lady Th. eine geneigtere Disposition für die Nöte des Gastlandes erzeugt hätte.
Somit dürfte so manche Chance ungenutzt geblieben sein, eine über Jahrhunderte
erprobte köstliche Spezialität, begleitet von kaum zu übertreffenden Rieslingen,
zum Wohl des gesamten Vaterlandes zur Geltung zu bringen und selbst verwöhnten
Gaumen ein anerkennendes Staunen über die Küchenkultur eines gesegneten
Landstrichs im Südwesten Deutschlands abzuringen.
Sie nahmen sich
reichlich Zeit, die kernig-saftigen Hinterschinken in der Räucherkammer meines
Patenonkels Josef. Monatelang brauchten sie dazu, nachdem sie im Knoblauch- und
kräuterschwangeren Salzsud ihre aromatische Grundausrüstung erhalten hatten über
der Glut und dem Rauch von Buchenholz. Anders als die schwammig-wässrigen oder
trocken-versalzenen Schinken, die uns später eine nur noch gewinnorientierte
Fleischindustrie als „Westfälischer“ oder „Schwarzwälder Schinken“ anbot,
setzten die unvergleichlich duftenden dunkelrot durchwachsenen und schnittfesten
Schinkenstücke auf dem Früh-stückstisch der Familie Geschmacksmaßstäbe, wie sie
später in solcher Vollendung nur noch in der Nostalgie der Erinnerung
weiterleben. Krönung der Festgerichte waren ganze Schinken, die zu Hochzeiten
und Jubiläen im Brotbackofen stundenlang bei kleiner Hitze gegart wurden, wobei
man nicht versäumte, durch regelmäßiges und großzügiges Begießen mit Viez jenen
saftig-zarten Wohlgeschmack zu
erzielen, den ich später nicht einmal im berühmten „jambon braisé“ der
französischen Küche wieder fand. Die Geheimnisse des „slow food“, die heute von
Köchen und Kritikern so überaus gepriesen werden, waren im Dorf an der
Saarschleife lange zuvor mit Stolz gepflegte Tradition in jedem Haushalt, der
auf sich hielt.
Die Bedeutung
von Solperfleisch und Geräuchertem sollte im moselfränkischem Zweig der Familie
während der napoleonischen Kriege gar eine historische Dimension erlangen. Nach
den Erzählungen unserer Tante Kätchen, einer Schwester des Vaters und zugleich
glaubwürdigster Quelle von Überlieferungen aus alten Zeiten, drohte der Familie
durch Konfiskationsmaßnahmen durchziehender Sanskulotten, wie man damals die
Soldateska des eroberungswütigen Korsen nannte, eine Katastrophe. Ein Grenadier
der Grande Armée, die sich, wie damals üblich, aus dem jeweils besetzten Lande
nährte, wollte sich nicht mit einer ergiebigen Mahlzeit und dem Abzapfen eines
Eimers Viez zufrieden geben, sondern begab sich daran, die Räucherkammer seiner
unfreiwilligen Gastgeber auszuräumen und – damit nicht genug – auch den Inhalt
der Solperbütte mit dem familiären Jahresbedarf an Pökelfleisch zu konfiszieren,
was den Proteinvorrat der so Beraubten gefährlich abgesenkt hätte. Angesichts
solcher Gefährdung überkam den „Pater Familias“ der Zorn des Gerechten und trieb
ihn zu tollkühner Tat. Als der Ausräumer sich über den Rad der Bütte beugte, um
auch die letzten Fleischstücke zu evakuieren, nutzte das Familienoberhaupt diese
aus der Gier geborene Schieflage des Eindringlings um ihn in die Tiefe der
Solperbrühe zu tunken, bis er nicht nur jede räuberische Absicht, sondern auch
seinen Geist aufgegeben hatte.
Unserem
todesmutigen Verteidiger familiärer Proteinvorräte blieb nach solcher Tat nur
die Flucht in die Wälder über dem Saartal, bis die welsche Besatzungsmacht gen
Osten abgezogen war, wo sie in den Weiten Russlands und im brennenden Moskau ihr
Schicksal ereilte. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass nur wenige Monate
später ein halb-verhungerter und abgerissener Grenadier der Grande Armée auf der
Flucht vor verfolgenden Kosaken, die keinen Pardon kannten, in der Familie
Zuflucht fand. Dort kam er mit Hilfe gealterter Bestände aus selbiger
Solperbütte und Räucherkammer nicht nur wieder zu Kräften, sondern vermochte mit
viel welschem Charme und dank schätzenswerter Mithilfe in Stall, Feld und bei
der Viezkelter gar eine der Töchter seiner Gastgeber zu erobern und ein
geachtetes Mitglied des Clans zu werden.
Unter den Namen
der Familie gibt es einen, der seine Herkunft aus dem Französischen nur schwer
verleugnen kann und dann wohl im Zusammenhang mit diesem familiären Zugewinn aus
den napoleonischen Feldzügen zu bringen ist. Die Pinters – alias peintres – lassen sogar der Deutung
freie Bahn, hier sei die Grande Nation
um ein Stück ästhetischen Potentials beraubt worden, das dann fröhliche und
erfolgreiche Urständ in so manchen Genen der Hofmanns, Spaniers, Diwos,
Austgens, Weins und Bohrs fand.
Klaus Bohr (*1926 in Neunkirchen/Saar)