G. Wedel: Autobiographien von
Frauen
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Wedel,
Gudrun: Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon. Köln: Böhlau
Verlag Köln
2010. ISBN 978-3-412-20585-0; 1440 S.; EUR 179,00.
Rezensiert für
H-Soz-u-Kult von:
Marleen von Bargen, Historisches Seminar, Universität
Hamburg
E-Mail: marleen.von.bargen(a)... rund 40 Jahren
sucht und sammelt die Historikerin Gudrun Wedel mit
großer Leidenschaft
autobiographische Texte von Frauen. Nun ist ein
umfangreiches Nachschlagewerk
erschienen, in dem erstmals über 2.000
Autorinnen, die zwischen 1800 und 1900
im deutschsprachigen Raum geboren
wurden, samt ihren autobiographischen
Schriften vorgestellt werden. Für
dieses von der DFG geförderte Projekt
erhielt Wedel im Jahre 2000 den
Margherita-von-Brentano-Preis.
Ziel
des Lexikons ist es, die "Fülle und Vielfalt" von
publizierten
autobiographischen Texten von Frauen aufzuzeigen und darzulegen,
aus
welchen Gründen und in welchem Ausmaß autobiographische Texte
entstanden
sind (S. VII). So wurden neben bekannten auch bislang unbekannte
und
anonyme Frauen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten in
das
Lexikon aufgenommen. Eine weitere Zielsetzung sieht Wedel
darin,
autobiographisches Schreiben in weiblichen Lebensläufen sichtbar
zu
machen und dieses mit Ereignisgeschichte sowie Publikations-
und
Rezeptionsgeschichte zu verknüpfen, um das Wirken
einzelner
Autobiographinnen bis in die Gegenwart hinein rekonstruieren zu
können.
Wedel legt hierbei einen "weite[n] Begriff von Autobiographie
zugrunde,
um die Formenvielfalt und Komplexität von autobiographischen Texten
in
den Blick zu bekommen" (S. VII). Unter der Bezeichnung
Selbstzeugnisse
summiert Wedel unterschiedliche literarische Textformen, die
in
verschiedenen inhaltlichen Zusammenhängen
autobiographische
Informationen beinhalten.
Die einzelnen Artikel
gliedern sich in verschiedene Unterpunkte. Nach
dem Namen bzw. der Namensform
folgt eine Kurzbiographie der
Autobiographin. In der Kurzbiographie befinden
sich zusätzliche Hinweise
zu Nachlassstandorten und Lexika, die
weiterführende biographische
Informationen liefern. Am Ende dieses Abschnitts
werden andere
Autobiographinnen aus dem Lexikon aufgeführt, die mit der
vorgestellten
Autorin in persönlicher Beziehung standen. So wird nicht nur
ein
"umfangreiches internes Netz der Autobiographinnen" (S. XI)
erkennbar,
sondern auch eine Grundlage für weiterführende Untersuchungen
zu
Frauennetzwerken geschaffen. Darüber hinaus können diese Angaben
den
Ausgangspunkt für Einordnungen der einzelnen Autorinnen in
bestimmte
Kontexte und gesellschaftliche Diskursfelder bilden.
Im
anschließenden Hauptteil der Artikel werden ausführlich
die
autobiographischen Publikationen - insgesamt erfasst das Lexikon
über
6.000 Titel - in chronologischer Reihenfolge angeführt. Durch
eine
Auflistung der behandelten Themen in Stichworten gewinnen
Leser/innen
einen ersten Eindruck von dem Inhalt der
autobiographischen
Publikationen, die als Bücher bzw. als Beiträge in
Sammelbänden oder
Periodika einer größeren oder kleineren Öffentlichkeit
zugänglich
gemacht worden sind. Weitere Hinweise, die etwa
die
Entstehungssituation, die Auflagenhöhe oder Rezensionen
betreffen,
ermöglichen Einsichten in den Prozess des autobiographischen
Schreibens
und in die Rezeption der autobiographischen Texte. Tagebücher,
Briefe
und Reisebeschreibungen werden gesondert als "weitere
publizierte
Selbstzeugnisse" aufgeführt. Die Trennung begründet Wedel damit,
dass
letztere in geringen zeitlichen Abständen zum Erlebten
aufgeschrieben
wurden und meist nicht den gesamten Lebenslauf abdecken.
Außerdem werden
noch weitere publizierte Werke angeführt, die "dem Titel nach
einen
autobiographischen Bezug vermuten lassen" (S. XIII)
sowie
"Selbstzeugnisse im Umfeld" der jeweiligen Autobiographin. Hinweise
auf
weiterführende Sekundärliteratur beschließen die einzelnen
Artikel.
Die Zuordnung der Selbstzeugnisse innerhalb der
Artikelunterpunkte
verdeutlicht, dass eine klare Trennung der Texte nach Art
und Umfang der
autobiographischen Informationen kaum vollzogen werden
kann.[1] So wird
es aber für die Selbstzeugnisforschung durchaus
gewinnbringend sein,
wenn Texte ergänzend hinzugezogen werden, die
üblicherweise nicht in den
Fokus biographischer Untersuchungen rücken würden.
Als Beispiel sei das
für Anna Siemsen als autobiographische Publikation
gelistete Buch
"Erziehung im Gemeinschaftsgeist" angeführt, das in der Regel
nur als
pädagogisch-philosophische Abhandlung untersucht wird.
Neben
einem Quellen- und Literaturverzeichnis bietet das Lexikon zudem
ein
Personen-, Orts- und Sachregister, so dass auch nach anderen
Kriterien als
dem Namen gesucht werden kann. Statt einer Einleitung
werden Hinweise zur
Benutzung gegeben, in denen nur knapp Ziele und
Schwerpunkte des Lexikons
umrissen werden. Anschließend erläutert Wedel
im Wesentlichen die Quellen und
die Struktur der Artikel. Eine
Einleitung, in der das Lexikon in größere
Forschungskontexte, wie zum
Beispiel in die Autobiographie- und
Selbstzeugnisforschung oder in die
Frauen- und Geschlechtergeschichte
eingeordnet und seine Bedeutung für
die interdisziplinäre Forschung
herausgestellt würde, fehlt jedoch.
Wedel formuliert allenfalls, dass die von
ihr gesammelten
autobiographischen Schriften "einen bedeutenden Teil
der
Erinnerungskultur" darstellen und in den "Übergangsbereich
vom
,kommunikativen' [...] zum ,kulturellen' Gedächtnis" (S.
VIII)
hineinreichen würden, ohne jedoch näher auf
diesen
forschungstheoretischen Ansatz einzugehen.
Dabei leistet Wedel
mit dem Lexikon einen wesentlichen Beitrag, eine
große Lücke in der
Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung zu
schließen. Das Lexikon zeigt,
dass autobiographische Texte von Frauen
aufgrund ihrer literarischen
Mischformen eben nicht dem "klassischen"
Gattungsbegriff entsprechend
klassifiziert werden können. Dies ist
zunächst keine neue Erkenntnis. Seit
den 1980er-Jahren wurden vor allem
aus literaturwissenschaftlicher Sicht
vermehrt Kritik an dem Ausschluss
von Frauen aus der Geschichte der
Autobiographie sowie Forderungen nach
einer Revision der kanonischen
Grenzziehungen laut. Hinterfragt wurde
die traditionelle Definition der
Autobiographie, die sich
gattungsgeschichtlich an dem sich selbst
historisierenden männlichen,
bürgerlichen Subjekt orientierte, das auf ein in
sich geschlossenes
Leben zurückblickt. Hierfür hatte vor allem Goethes
Selbstinszenierung
in seinen Lebenserinnerungen "Dichtung und Wahrheit"
Vorbildcharakter
erlangt. Die sich aus weiblichen Lebens- und
Handlungsbedingungen
ergebenen Formen des autobiographischen Schreibens von
Frauen wurden
daher aus dem gattungsgeschichtlichen Kanon ausgeklammert.[2]
Wedels
Sammlung verschiedener autobiographischer Schriften von Frauen
zeigt
erstmals neben bereits existierenden exemplarischen Einzelstudien
in
einer Zusammenschau die Vielfalt dieser Texte auf und ermöglicht
damit
künftigen Forschungen, "das Spektrum der behandelten Themen
auszuloten,
Standardthemen sichtbar zu machen und dabei die Varianten der
formalen
Gestaltung festzuhalten" (S. VII).
Daneben ist das Lexikon
auch für geschlechtergeschichtliche und
kulturgeschichtliche Fragestellungen
relevant. Autobiographische Texte
entstanden immer dann, wenn ein Individuum
sich seiner Selbst
vergewissern und seinem Leben eine bestimmte Sinndeutung
verleihen
wollte. Autobiographische Texte geben daher Aufschluss
über
Sinnstiftungsprozesse und Identitätskonstruktionen in
Auseinandersetzung
mit gesellschaftlichen Strukturen. Insbesondere Krisen
oder
Umbruchsituationen vor dem Hintergrund der
gesellschaftlichen
Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse
beförderten gegen Ende
des 19. Jahrhunderts das Verfassen autobiographischer
Texte von
Personen, die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten
angehörten.
Gerade auch Frauen beteiligten sich in steigender Anzahl an
dieser
Praxis. Die damals entstehenden Schreibformen der
autobiographischen
Texte lassen den Schluss zu, dass es veränderte
Selbstwahrnehmungen,
Lebensbedingungen und Handlungsspielräume waren, die
einer Sinngebung
und spezieller Ausdrucksmöglichkeiten bedurften.[3] Vor
diesem
Hintergrund mag sich auch Wedels Vorgehen erklären,
autobiographische
Texte von jenen Frauen zu sammeln, die zwischen 1800 und
1900 geboren
wurden. Angesichts der seit dem Mittelalter
überlieferten
autobiographischen Texte von Frauen ist eine zeitliche
Einengung auch
für ein Lexikon unumgänglich und sinnvoll. Dennoch hätte eine
Begründung
für die zeitliche Eingrenzung erfolgen können.
Gudrun
Wedels Lexikon ist eine Pionierarbeit, die trotz des stolzen
Preises von 179
Euro Wissenschaftler/innen, die zu biographischen
oder
geschlechtergeschichtlichen Themen arbeiten, zur Anschaffung
empfohlen
sei. Zu guter Letzt ist noch Wedels Vorhaben, eine
Internet-Datenbank zu
erstellen, positiv hervorzuheben. Hierfür soll das in
gedruckter Form
vorliegende Lexikon als Basis dienen. Die Internet-Datenbank
soll nicht
nur autobiographische Texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert von
Frauen,
sondern auch von Männern beinhalten. Damit kann ein Grundstein
gelegt
werden, autobiographische Texte von Frauen nicht länger als
randständige
Erscheinung der Autobiographie-Forschung zu betrachten,
sondern
männliche wie weibliche Autobiographien nebeneinander zu stellen, um
auf
diese Weise neue Einsichten und weitergehende Erkenntnisse für
die
(Auto-)Biographieforschung insgesamt zu gewinnen.
Anmerkungen:
[1] Zur Diskussion des Begriffes "Selbstzeugnis" in der
Forschung siehe
die DFG-Forschergruppe "Selbstzeugnisse in transkultureller
Perspektive"
unter <http://www.fu-berlin.de/dfg-fg/fg530/>
(23.05.2011).
[2] Exemplarisch: Michaela Holdenried, Einleitung, in: dies.
(Hrsg.),
Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin 1995, S.
9-20,
bes. S. 9f.
[3] Charlotte Heinritz, Auf ungebahnten Wegen.
Frauenautobiographien um
1900 (Aktuelle Frauenforschung), Königstein im
Taunus 2000, bes. S.
10-16.
Diese Rezension wurde redaktionell
betreut von:
Kirsten Heinsohn