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2011/02/19 23:34:00
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] absurd
Datum 2011/02/21 00:54:21
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Neue Rechtsurkunden aus Pompeji
2011/02/19 23:34:00
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] absurd
Betreff 2011/02/01 08:43:56
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg
2011/02/19 23:34:00
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] absurd
Autor 2011/02/21 00:54:21
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Neue Rechtsurkunden aus Pompeji

[Regionalforum-Saar] Antikatholizismus

Date: 2011/02/21 00:53:33
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Borutta, Manuel: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter
der europäischen Kulturkämpfe (= Bürgertum Neue Folge 7). Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 2010. ISBN 978-3-525-36849-7; geb.; 488 S.; EUR
61,95.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Wolfram Kaiser, European Studies, University of Portsmouth
E-Mail: <Wolfram.Kaiser(a)... Kulturkampf ist von der deutschen Historiographie überwiegend als
ein spezifisch deutsches Phänomen behandelt worden. Die
Politikgeschichte der Gründungsphase des Deutschen Reichs hat sich in
erster Linie mit den preußischen Kulturkampfgesetzen der ersten Hälfte
der 1870er-Jahre, beginnend mit dem Kanzelparagraphen von 1871 und dem
Jesuitengesetz 1872, beschäftigt. Danach strebte die Kooperation der
Liberalen mit Reichskanzler Bismarck eine moderate Säkularisierung an
und war in erster Linie darauf ausgerichtet, den gesellschaftlichen
Einfluss der katholischen Kirche zurückzudrängen. In ihrem
Sonderwegsnarrativ hat die Gesellschaftsgeschichte dem deutschen
Katholizismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lange Zeit einen
Modernisierungsrückstand bescheinigt. Die Kulturkampfmaßnahmen
erschienen in ihrer autoritär-polizeilichen Durchsetzung vielfach als
illiberale Verirrung der Liberalen und die Kooperation mit Bismarck als
Pakt mit dem Teufel auf dessen Sonderweg, grundsätzlich aber als
normativ gerechtfertigt. Schließlich hat sich die katholische
Bismarck-kritische Historiographie mehr mit dem - sehr effektiven -
katholischen Widerstand beschäftigt als mit den Vorstellungswelten und
Motiven der antikatholischen Kulturkämpfer.

In seiner ausgezeichneten Berliner Dissertation hat Manuel Borutta den
Forschungsstand in dreifacher Hinsicht erheblich erweitert. Erstens wagt
er den Vergleich mit Italien, für das er zumindest mit Blick auf Piemont
von einem preußenähnlichen Kulturkampf spricht. Damit unterstützt das
Buch die Überwindung der einseitigen Fixierung der
Gesellschaftsgeschichte auf den Vergleich mit Großbritannien und
Frankreich, der bis in die 1980er-Jahre der Unterfütterung der
Sonderwegsthese diente. Zweitens thematisiert er
beziehungsgeschichtliche Dimensionen des Transfers von Topoi
antikatholischer Rhetorik und Mobilisierung, wofür er auch auf die
wichtige Rolle antikatholischer Polemik aus Frankreich für die Diskurse
in Deutschland und Italien eingeht. Drittens bezieht sich Boruttas
primäres Erkenntnisinteresse auf kulturgeschichtliche Aspekte des
Antikatholizismus in beiden Ländern, vor allem dessen diskursive Topoi
sowie mediale Inhalte und Inszenierungsformen.

Im ersten Hauptteil des Buches rekonstruiert Borutta die Genese des
Antikatholizismus in der Aufklärung im 18. Jahrhundert und seine weitere
Entwicklung im 19. Jahrhundert. Dieser Abschnitt ist weitgehend
literaturbasiert. Hier distanziert sich Borutta deutlich von der
Bielefelder Gesellschaftsgeschichte und ihrer "konfessionellen Verengung
des deutschen Bildungsbegriffs" (S. 76), in der er einen wichtigen Grund
für deren implizite Sympathie für den Antikatholizismus der Liberalen
erblickt.

Neue Forschungsergebnisse stellt Borutta vor allem im zweiten und
dritten Hauptteil seines Buches vor. Dabei geht es ihm zunächst um
Formen der medialen Visualisierung und Inszenierung. Hier diskutiert
Borutta kompetent die verschiedenen Medien des Antikatholizismus, von
Romanen über Skandalchroniken bis zu Satirezeitschriften. Danach
behandelt er Visualisierungsformen wie Historiengemälde, Genremalereien
und Karikaturen. Die Topoi - wie das Bild des "perversen Geistlichen"
(S. 183) - sind aus früheren Forschungen wohl bekannt, ihre
Visualisierung und strategische Nutzung wird hier jedoch erstmals in
dieser empirischen Breite überzeugend beschrieben und belegt - ebenso
die Bedeutung von Transfers aus anderen kulturellen und nationalen
Kontexten. Vor allem, so schreibt Borutta überzeugend, war die
"Moralisierung des Konflikts" nicht "bloß propagandistisch" gemeint,
sondern zielte auf die "Universalisierung der bürgerlichen
Lebensführung" ab (S. 264).

Im dritten Hauptteil geht es Borutta anhand mehrerer empirischer
Beispiele um die Geschlechtergeschichte des Kulturkampfes und die
Verweiblichung des Katholizismus durch das "progressive Lager" (S. 387)
in Abgrenzung zu dessen männlich-bürgerlich-protestantischem Leitbild
einer säkularisierten Gesellschaft - ein Leitbild, von dem Borutta
meint, es habe wie bei Max Weber "Eingang in die Selbstbeschreibung der
Moderne" gefunden und letztlich auch die Gesellschaftsgeschichte stark
geprägt. Hierzu, so schränkt der Autor allerdings sogleich selbst ein,
"bedarf es weiterer, auch wissenschaftshistorischer Untersuchungen" (S.
414).

Borutta hat eine im Vergleich Deutschlands und Italiens, in der
Einbeziehung transnationaler Aspekte, in ihrer thematischen Breite und
ihren empirischen Belegen überaus lesenswerte Studie vorgelegt. Noch
lesenswerter wäre das Buch allerdings, wenn es durchweg in deutscher
Sprache geschrieben wäre. Begriffe wie "sexcrimes" (S. 155), "classing",
"aging" und "gendering" (S. 388) scheinen in weiten Kreisen der
deutschen Geschichtswissenschaft jedoch inzwischen leider als ein
Ausweis von Internationalität der Forschung zu gelten. Gerade wegen der
vor allem für eine Dissertation sehr breiten Anlage kann Borutta
außerdem nicht immer so tief schürfen, wie es wünschenswert wäre.
Transnationale Aspekte werden zwar berücksichtigt, aber die breitere
europäische Dimension des Antikatholizismus über Deutschland und Italien
hinaus nur angedeutet. Insofern bleibt die Studie vielleicht noch immer
zu sehr Jürgen Kockas und Heinz-Gerhart Haupts Konzeptualisierung einer
transnationalen Einbettung des historischen Vergleichs verpflichtet, die
grenzüberschreitende beziehungsgeschichtliche Aspekte aus pragmatischen
wissenschaftspolitischen Motiven subsidiär in den Vergleich integriert
hat. Außerdem stößt Borutta mit seiner These zur Genealogie der
Säkularisierungsthese, die er im vergangenen Jahr in einem Aufsatz in
"Geschichte und Gesellschaft" vertieft hat und die auch von Rebekka
Habermas auf dem letzten Historikertag vertreten wurde, eine hoffentlich
interessante Debatte an, ohne seine These jedoch - vorerst - hinreichend
belegen zu können. Immerhin wird hier deutlich, dass in der
Historiographie eine - in diesem Fall zumindest teilweise gescheiterte -
Revolution nicht immer ihre Kinder frisst, sondern die Kinder der
Bielefelder Gesellschaftsgeschichte die beabsichtigte Revolution. Statt
von Friedrich II. zu Bismarck und Hitler ist Deutschlands Sonderweg
offensichtlich von den Antikatholiken des Kulturkampfes zu Weber und
Wehler verlaufen. Das ist, von außen betrachtet, immerhin amüsant.