Tausend, Klaus: Im Inneren
Germaniens. Beziehungen zwischen den germanischen Stämmen vom 1. Jh. v. Chr. bis
zum 2. Jh. n. Chr. (= Geographica Historica 25) [Mit Beiträgen von Günter Stangl
und Sabine Tausend]. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009. ISBN
978-3-515-09416-0;
282 S.; EUR 47,00.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult
von:
Klaus-Peter Johne, Institut für Geschichtswissenschaften,
Humboldt-Universität zu Berlin
E-Mail:
<JohneKP(a)... Beziehungen zwischen den
einzelnen germanischen Stämmen in der Zeit von Caesar bis Mark Aurel und nicht
die so oft behandelten Verhältnisse zwischen Römern und Germanen in diesem
Zeitraum stellt der Verfasser in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Die
Aufarbeitung der Thematik ist verdienstvoll, wenn auch schwierig, da die gesamte
literarische Überlieferung auf den Werken von Griechen und Römern beruht, von
denen nur wenige wie Plinius der Ältere und Tacitus ein echtes Interesse an
Vorgängen im Inneren Germaniens hatten - und auch dieses immer nur aus der
Perspektive des Imperium Romanum. Der eingangs geäußerte Vorsatz, die "inneren
Verhältnisse Germaniens nicht aus dem Blickwinkel der römisch-germanischen
Beziehungen zu sehen" (S. 12), lässt sich daher auch kaum einhalten.
Das
erste Kapitel über die politisch-militärischen Verhältnisse ist das
umfangreichste, da über Bündnisse, Feindschaften und Kriege germanischer Stämme
noch die meisten Quellen vorliegen, hatten die Römer daran doch ein elementares
Interesse (S. 15-88). Das Kapitel beginnt mit einer katalogartigen, 54 Punkte
umfassenden Aufstellung politischer Kontakte zwischen dem Gallischen Krieg und
den Markomannenkriegen. Da die Bündnisse und Feindschaften unter den Germanen in
ihrem Bezug zu den Römern vorgestellt werden, stellt der Katalog zum größten
Teil eine weitere Aufführung römisch-germanischer Auseinandersetzungen und
Beziehungen dar. Wenn innergermanische Auseinandersetzungen geschildert werden,
wie die zwischen Arminius und Marbod 17 n.Chr. oder der Krieg zwischen Chatten
und Hermunduren im Jahre 58, dann sind es Konflikte zwischen Kontrahenten, die
enge Bezüge zum Römerreich hatten. Dem chronologischen Teil des Kapitels folgt
ein analytischer, in dem als Träger der Bündnisse und Konflikte Stämme und
Gefolgschaften, die "Verfassung" der einzelnen Stämme, Voraussetzungen, Dauer
und Wiederholung sowie Gründe und Motive der politischen Vorgänge eingehend
behandelt werden. Eine scharfe Trennung von Stamm und Gefolgschaft ist nicht
immer durchführbar, da eine starke Gefolgschaft das politische Übergewicht
erlangen und dann den Stamm führen konnte, wie das Beispiel des Arminius zeigt.
Bei den Ausführungen zur "Verfassung" schließt sich Tausend den Forschungen von
Reinhard Wenskus an, die er in Einzelheiten jedoch korrigiert. Elbgermanen und
Oder-Weichsel-Germanen besaßen in der Regel ein Königtum, die
Rhein-Weser-Germanen dagegen eine Adelsherrschaft. Auf die "Außenpolitik" der
Stämme hatte die unterschiedliche Herrschaftsstruktur nach den hier vorgelegten
Untersuchungen jedoch offenbar keine nennenswerten Auswirkungen. Die
Abhängigkeit von den literarischen Quellen zeigt sich etwa darin, dass die
Begriffe rex und dux auf dieselbe Person bezogen werden, von Tacitus
beispielsweise auf den Hermunduren Vibilius, ohne dass sich die unterschiedliche
Bedeutung eindeutig klären ließe. Dauerkonflikte werden zwischen Cheruskern und
Sueben, Cheruskern und Angrivariern sowie zwischen Cheruskern und Chatten
erkennbar. Bündnisse existierten bei den Rhein-Weser-Germanen zwischen
Usipetern, Tenkterern und Sugambern, auf die die von Arminius geschmiedeten
Koalitionen etwa im gleichen Raum folgten, und bei den Elbgermanen in dem
"Suebenbund" Marbods, der wohl in den Markomannenkriegen neu belebt wurde. Auch
hier wissen wir über Konflikte und Allianzen Genaueres immer nur über die im
Vorfeld der römischen Grenzen siedelnden Stämme.
Das zweite Kapitel steht
unter der Überschrift "Die germanischen Stämme in Bewegung" und behandelt
Wanderungen, Expansion und Klientelverhältnisse (S. 89-141). Minutiös werden die
einzelnen Wanderbewegungen vorgestellt, die sich den Quellen entnehmen lassen.
Für den Beobachtungszeitraum registriert Tausend etwa 20 Wanderungen, deren
tatsächliche Anzahl bestimmt höher lag, da die grenzfernen nicht registriert
wurden. So muss es im 2. Jahrhundert bei den Oder-Weichsel-Germanen große
Bewegungen gegeben haben, ohne die die Markomannenkriege der Jahre 166-180 nicht
erklärbar sind. Der Expansionsdrang war bei den größeren Stämmen der Chatten,
Chauken, Cherusker, Hermunduren und Markomannen besonders ausgeprägt. Die bei
den gallischen Stämmen gut bezeugten Klientelverhältnisse lassen sich bei den
Germanen nur mit einiger Wahrscheinlichkeit erschließen.
Den
kultisch-religiösen Beziehungen ist das dritte Kapitel gewidmet (S. 143-174).
Darin geht es zuerst um die Kultgemeinschaften der elbgermanischen Suebenstämme
mit dem Zentrum im Semnonenhain, der Tamfana-Stämme im rhein-wesergermanischen
Bereich, der Nerthus-Stämme in Schleswig-Holstein und um den Kultverband der
Lugier zwischen Oder und Weichsel. Den zweiten Teil dieses Kapitels bildet ein
instruktiver Exkurs von Sabine Tausend über "Germanische Seherinnen", die in den
Kontext der übrigen antiken wie auch der frühmittelalterlichen Überlieferung
gestellt werden.
Um interfamiliäre Kontakte geht es in dem kurzen vierten
Kapitel (S. 175-182). Einblicke in die Heiratspolitik germanischer Adelsfamilien
lassen sich vor der Völkerwanderungszeit lediglich bei den Cheruskern und
Chatten gewinnen. Im fünften Kapitel über die wirtschaftlichen Beziehungen
treten archäologische Befunde neben die literarischen Zeugnisse (S. 183-204).
Ziemlich einmalig ist der Fall von Marbods Königssitz in Böhmen, an dem der
durch Tacitus bezeugte Aufenthalt römischer Kaufleute durch eine
Fundkonzentration von Importgütern aus dem Imperium bestätigt wird. Dagegen sind
wir bei einer ähnlich hohen Konzentration römischer Importe auf den dänischen
Inseln Fünen und Lolland ausschließlich auf die archäologischen Zeugnisse
angewiesen. Diese zur See erreichbaren Handelsposten dienten offenbar als
"Eingangstor" in das nördliche Germanien. Nachdrücklich unterstreicht Tausend
die Bedeutung der "Bernsteinstraße" als Handelsweg von der Donau an die Ostsee
sowie an Oder und Elbe, während er die vom Rhein ausgehenden Routen deutlich
relativiert.
Die Schlussbetrachtungen stellen den verkehrsgeographischen
Aspekt und die zeitliche Dimension der Thematik in den Mittelpunkt (S. 205-225).
Die vorgelegten Untersuchungen zeigen eine Zweiteilung in die
Rhein-Weser-Germanen mit engen Beziehungen nach Gallien einerseits und in die
Elbgermanen und Oder-Weichsel-Germanen andererseits. Die Beziehungen beider
Gruppierungen beschränkten sich auf wenige Kontaktzonen im Stromgebiet der Elbe.
Diese Zweiteilung hat von den antiken Autoren allein Tacitus mit der
Unterscheidung von "Germania" und "Suebia" erkannt. Wird man diesem Ergebnis der
Arbeit ohne weiteres zustimmen können, so scheint der Versuch, die Zäsur der
Markomannenkriege und des nachfolgenden 3. Jahrhunderts für die germanische
Geschichte in Frage zu stellen, nicht in gleichem Maße geglückt zu sein.
Zweifellos gab es auch in dem behandelten Zeitraum schon ausgedehnte Wanderzüge,
aber es fehlen die wenigen großen Stammesverbände der späteren Zeit. Um eine
Kontinuität herzustellen, müssen die mehr als 30 kleinen und mittelgroßen Stämme
der frühen Kaiserzeit fünf oder sechs Machtblöcken zugeordnet werden, die es
zeitweise gab, die aber nicht mit den späteren Stammesverbänden gleichgesetzt
werden können. Allein das seit der Zeit der Soldatenkaiser anhaltend gefährliche
Bedrohungspotential, das die Germanen an den Grenzen von Rhein und Donau
darstellten, unterscheidet die Situation des 3. bis 5. Jahrhunderts von der des
1. und 2. Jahrhunderts. Ohne nähere Berücksichtigung bleiben die neueren
ethnographischen Forschungen zu den germanischen Stämmen.
Den Abschluss
des Bandes bildet ein Anhang über die Bevölkerungsgrößen germanischer Stämme von
Günter Stangl (S. 227-253). Die hier vorgenommenen interessanten Berechnungen
über Territorien, Stammesgrößen, Anbauflächen und Heeresaufgebote müssen
allerdings angesichts der literarischen wie der archäologischen Quellenlage
weitgehend hypothetisch bleiben. Die Mindestanzahl eines selbständigen Stammes
wird auf 10.000 Personen geschätzt, die höchste auf etwa 100.000. Es folgen ein
breit gefächertes Literaturverzeichnis (S. 254-270) sowie Quellen-, Personen-
und Ortsregister (S. 271-282). Ein wichtiger informativer Bestandteil der Arbeit
sind die 14 Landkarten. Für die Aufarbeitung und Interpretation der Verhältnisse
"im Inneren Germaniens" in ihrer Widerspiegelung durch die griechisch-römische
Literatur und unter dem Aspekt einer vergleichenden Betrachtung ist in Tausends
Buch wirklich Beachtliches geleistet worden.
Diese Rezension wurde
redaktionell betreut von:
Udo Hartmann
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