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2010/01/08 10:13:47
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[Regionalforum-Saar] Tagber: Die biographische Methode in der Regionalgeschichte
Datum 2010/01/08 10:21:17
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[Regionalforum-Saar] SZ:
2010/01/17 22:25:01
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[Regionalforum-Saar] Fwd: Konf: Sexual Violence in World War II - Bonn 02/10
Betreff 2010/01/26 20:50:00
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[Regionalforum-Saar] L. Schmugge: Ehen vor Gericht
2010/01/08 10:13:47
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[Regionalforum-Saar] Tagber: Die biographische Methode in der Regionalgeschichte
Autor 2010/01/08 10:21:17
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[Regionalforum-Saar] SZ:

[Regionalforum-Saar] Kriegerwitwen

Date: 2010/01/08 10:16:37
From: rolgeiger <rolgeiger(a)...

From:    Eva-Maria Silies <eva-maria.silies(a)...   08.01.2010
Subject: Rez. ZG: A. Schnädelbach: Kriegerwitwen
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Schnädelbach, Anna: Kriegerwitwen. Lebensbewältigung zwischen Arbeit und
Familie in Westdeutschland nach 1945. Frankfurt am Main: Campus Verlag
2009. ISBN 978-3-593-38902-8; 366 S.; EUR 36,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Eva-Maria Sillies, Historisches Seminar, Universität Hamburg
E-Mail: <eva-maria.silies(a)... Frauen- und Geschlechtergeschichte hat sich in den letzten Jahren
durch zahlreiche Studien mehr und mehr auch den Nachkriegsjahrzehnten
geöffnet.[1] Eine bisher kaum untersuchte Gruppe nimmt nun die
Dissertation von Anna Schnädelbach in den Blick: die Kriegerwitwen.
Schnädelbach bezeichnet so Frauen, die ihren Mann im Ersten oder Zweiten
Weltkrieg verloren hatten, und fragt nach ihrer Stellung in der
westdeutschen Gesellschaft nach 1945, die sich geschlechterpolitisch vor
allem durch die Herstellung "normaler" Geschlechterverhältnisse (in
Anlehnung an Hanna Schisslers Konzept eines "project of
normalization"[2]) ausgezeichnet habe. Mit den rund 1 Million
Kriegerwitwen (1950, S. 72f.) stellt Schnädelbach eine Gruppe in den
Mittelpunkt, die dieses Normalisierungsprojekt gefährden konnte, denn
die Witwen waren mehr oder weniger öffentlicher Ausdruck der
Kriegsfolgen, der Bedürftigkeit und andersartiger
Familienkonstellationen. Die Autorin fragt, wie die Kriegerwitwen ihren
Status erlebten, welche Strategien sie zur Bewältigung einsetzten und ob
sie sich konform zu den an sie gerichteten Erwartungen verhalten haben.
Sie bedient sich dabei einer Vielzahl analytischer Konzepte der
kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft, unter
anderem Bourdieus Konzept des sozialen Raumes, Ansätzen der
Geschlechterforschung, kommunikationswissenschaftlichen
Öffentlichkeitskonzepten, der historischen Diskursanalyse und der
Erfahrungsgeschichte. Das führt nicht nur dazu, dass die Einleitung
relativ lang ausfällt, sondern auch, dass Schnädelbach zur Einordnung
ihrer analytischen Konzepte und Vorgehensweisen bereits hier viele ihrer
Ergebnisse nennt und diese dann teilweise später mit ihren
Quellenanalysen nur noch illustrieren kann.

Die Arbeit gliedert sich entlang verschiedener Felder in der Debatte um
die Kriegerwitwen. Als erstes skizziert Schnädelbach die rechtlichen und
sozialen Rahmenbedingungen und verweist auf zwei wichtige
sozialpolitische Systeme: die Fürsorge und die Kriegsopferversorgung.
Während letztere ab 1950 als status- und einkommensunabhängige
Grundrente gezahlt wurde, war erstere lediglich als Bedarfsversorgung
konzipiert und unterlag dem Individualitäts- und Subsidiaritätsprinzip.
Schon hier verweist Schnädelbach darauf, dass eine Gleichsetzung der
Fürsorge-Mitarbeiter mit einem patriarchalischen Staat - ein Blick, den
Schnädelbach ohne genauere Belege der bisherigen Forschung unterstellt
(S. 100, 318) - den tatsächlich ambivalenten Beziehungen zwischen den
Kriegerwitwen und den für sie zuständigen Behörden nicht gerecht wird.

Für das zweite Feld, den "Schauplatz Behörde", nutzt Schnädelbach Akten
des Sozialamtes Marburg aus den 1950er-Jahren. Am Beispiel von 34 Witwen
kann sie die Interaktion mit der Behörde darstellen. Sie zeigt, dass die
Witwen zwar die Versorgung ihrer Familien in vielen Fällen nicht leisten
konnten und auf Unterstützung angewiesen waren, zugleich aber
versuchten, eine allzu intime Untersuchung durch das Amt abzuwehren.
Überzeugend kann Schnädelbach darstellen, dass die Frauen nicht nur die
Position der hinterbliebenen Ehefrau ausfüllten, sondern zugleich auch
Mutter, Tochter oder Schwiegertochter, oftmals Haushaltsvorstand und
erwerbstätige Hauptverdienerin der Familie waren und damit "verschiedene
Subjektpositionen" (S. 163) einnahmen. Die Kriegerwitwen waren nicht nur
Versorgte, die öffentliche Unterstützung benötigten, sie waren zugleich
auch Versorgende. Ebenso kann Schnädelbach nachweisen, dass im Kontakt
mit den Behörden häufig nicht die geschlechtliche Markierung als "Frau"
ausschlaggebend für die Art der Behandlung war, sondern dass soziale
Merkmale wie Bildung und eventuell vorhandenes soziales oder
ökonomisches Kapital ebenso entscheidend waren.

In einem weiteren Feld analysiert Schnädelbach die so genannten
"Onkelehen", von denen es Mitte der 1950er-Jahre 100.000 bis 150.000
gegeben haben soll. Gemeint waren außereheliche Beziehungen zwischen
einer Kriegerwitwe und einem neuen Partner. Die Witwe hätte durch eine
Heirat ihren Versorgungsanspruch verloren. Die gesellschaftlichen
Debatten um die "Onkelehen" waren moralisch aufgeladen und verwiesen auf
die Bedeutung der "Normalfamilie" in der bundesrepublikanischen
Nachkriegsgesellschaft. Diese "Normalfamilie" auf der Grundlage der
Eheschließung war der normative Maßstab, an dem das Verhalten der Witwen
und ihrer Partner gemessen wurde, so dass diese in zahlreichen Fällen
kritisiert wurden. Dabei kam es nicht zu einer generellen
Solidarisierung unter Frauen, denn einige verheiratete Frauen drückten
ihre Sorge aus, die Kriegerwitwen könnten ihnen die Ehemänner
"ausspannen" und damit bestehende Ehen gefährden. Schnädelbachs
Bezeichnung der Kriegerwitwen als "Vamp" (S. 272) erscheint aber nicht
als angemessene Charakterisierung der zeitgenössischen Vorstellungen.
Überhaupt wird Sexualität von Schnädelbach zwar häufiger erwähnt, aber
wenig auf den Kontext der 1950er-Jahre bezogen. Neuere Studien wie die
von Dagmar Herzog über Sexualität in den 1950er-Jahren[3] finden keine
Berücksichtigung.

Anhand der Briefe von Kriegerwitwen an den Familienminister Wuermeling
kann Schnädelbach zudem zeigen, dass diese sich zwar nicht als Gruppe
mit gemeinsamen Zielen konstituierten, aber durch die Veröffentlichung
ihrer privaten Erfahrungen die Grenzen ihres privaten Lebens selbst
verschoben. Auch wenn sie zu Beginn des Kapitels konstatiert, es habe
eine Ambivalenz zwischen den Moralvorstellungen auf der einen Seite und
der "pragmatischen Sicht der Dinge" (S. 170) auf der anderen Seite
gegeben, kommt sie insgesamt zu dem Ergebnis, dass es für die
Kriegerwitwen keine Möglichkeit zur freien Identitätsbildung gegeben
habe: Sie wurden entweder als Witwen oder als Ehefrauen gesehen, die
sich zur finanziellen Absicherung von einer Identität zur anderen
bewegen konnten, aber nicht als Partnerinnen leben oder die eigene
ökonomische Unabhängigkeit anstreben sollten.

Der ökonomische Faktor wird im letzten analysierten Feld thematisiert:
Wie ging die bundesrepublikanische Gesellschaft mit der außerhäuslichen
Erwerbsarbeit der Kriegerwitwen um? Schnädelbach stellt dieses Thema in
den Kontext der allgemeinen Debatte um weibliche Erwerbsarbeit, die
grundsätzlich umstritten war. Für viele Kriegerwitwen entstand aber das
Dilemma, dass sie häufig aufgrund der unzureichenden materiellen
Versorgung einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten, obwohl dadurch
Kinderversorgung und Haushaltsführung erschwert wurden. Dennoch wurde
die Erwerbsarbeit der Kriegerwitwen gesellschaftlich nicht als
eigenständige, selbstbestimmte Form der sozialen Sicherung angesehen,
sondern lediglich als eine geduldete Notwendigkeit, die dem Verlust des
eigentlichen Ernährers der Familie geschuldet war. Bei der Vermittlung
von Arbeitsstellen waren Kriegerwitwen zweifach benachteiligt: Zum einen
waren die Behörden eher bestrebt, (kriegsgeschädigte) Männer in
Erwerbsarbeit zu vermitteln, zum anderen wurden erwerbstätige
Kriegerwitwen überwiegend schlecht bezahlt.

Immer wieder greift Schnädelbach ein Konzept der Genderforschung - das
"doing gender" [4] - auf und wendet es auf die Kriegerwitwen an: "doing
Witwe" bedeutet, dass in der öffentlichen Debatte, aber auch von den
Betroffenen selbst, witwenspezifische Eigenschaften hergestellt und
erwartetes Verhalten formuliert und ausgeführt wurde. Auch wenn der
Begriff in seiner "Denglisch"-Ausformung unglücklich ist, kann
Schnädelbach überzeugend zeigen, dass die Kriegerwitwen keine passiven
Objekte waren, sondern Strategien entwickelten, um ihre persönliche wie
familiäre Lage zu beeinflussen. Letztlich fielen die Kriegerwitwen mit
ihren Lebensformen aus dem gesellschaftlich geforderten Rahmen der
Normalisierung der Familienverhältnisse raus, so dass ein jahrelang
anhaltender öffentlicher Diskurs über die Kriegerwitwen entstand. Anna
Schnädelbach hat mit der Arbeit über diese gesellschaftliche Gruppe, die
keine Randgruppe, sondern eine Lebensrealität vieler Frauen, ihrer
Kinder und weiterer Angehöriger darstellte, nicht nur das Feld der
Frauen- und Geschlechterforschung nach 1945 um einen wichtigen Aspekt
bereichert. Sie hat auch gezeigt, dass über die Gesellschaftsgeschichte
der frühen Bundesrepublik noch sehr viel Neues und Interessantes
erforscht werden kann.

Anmerkungen:
[1] Vgl. Sybille Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte
der Unehelichkeit in Deutschland 1900-1970, Göttingen 2004; Silke Kral,
Brennpunkt Familie: 1945 bis 1965. Sexualität, Abtreibungen und
Vergewaltigungen im Spannungsfeld zwischen Intimität und Öffentlichkeit.
Marburg 2004; Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien
zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945-1960,
Göttingen 2001; Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am
Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in
Westdeutschland 1948-1969, Göttingen 1999; Robert G. Moeller, Geschützte
Mütter. Frauen und Familie in der westdeutschen Nachkriegspolitik,
München 1997.
[2] Hanna Schissler, Normalization as Project. Some Thoughts on Gender
Relations in West Germany during the 1950s, in: Dies. (Hrsg.), The
Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949-1968, Princeton
2001, S. 359-375.
[3] Vgl. Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der
deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München 2005.
[4] Vgl. dazu Candace West / Don H. Zimmerman, Doing Gender, in: Gender
& Society 1 (1987), S. 125-151.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Kirsten Heinsohn <kirsten.heinsohn(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-015>