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2009/08/19 10:39:14
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] 7000 Jahre Alltag in der Grenzregion
Datum 2009/08/25 22:24:46
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Tour-de-braille macht Station in St. Wendel
2009/08/04 15:39:15
Rolgeiger
Re: [Regionalforum-Saar] Sitten und Bräuche im erste n Lebensjahr
Betreff 2009/08/25 22:24:46
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Tour-de-braille macht Station in St. Wendel
2009/08/19 10:39:14
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[Regionalforum-Saar] 7000 Jahre Alltag in der Grenzregion
Autor 2009/08/25 22:24:46
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Tour-de-braille macht Station in St. Wendel

[Regionalforum-Saar] Stumm - das Musical - und meine Meinung dazu

Date: 2009/08/24 10:29:58
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Alles gelogen. Gestern abend in Neunkirchen habe ich es erfahren. Dort muß man es schließlich wissen, denn dort ist es passiert. Vor über hundert Jahren schon.

 

Carl Ferdinand Stumm, Chef des Stummschen Stahlwerkes, war gar nicht der Kapitalist, als den man ihn immer darstellt. Der sich um seine Arbeiter kümmerte, um damit die Produktivität seines Unternehmens zu fördern. Im Gegenteil. Er hat die Produktivität gefördert, um seine Arbeiter zu unterstützen.

 

Ein reicher Mann der Oberschicht – so haben sie ihn immer genannt. Alles nicht wahr. Er war eine ganz arme Sau. Unverstanden von seinen Zeitgenossen, vor allem von seinen Arbeitern und Angestellten. Unverstanden und völlig zu Unrecht kritisiert.

 

Nach dem Selbstmord seines Vaters wuchs er ohne diesen auf – eine Mutter hatte er übrigens auch nicht (jedenfalls gestern abend nicht). Er vollzieht ein Studium und arbeitet dann in der Hammerschmiede – quasi von der Pike auf. Er bleibt immer ein Eisenschmied, auch als sein 50. Geburtstag ansteht. 50 soll er werden und sieht aus wie 70. Vorzeitig ergraut, etwas zu kräftig geraten, bestimmt Freßattacken, um den Stress abzubauen. Als er nach Berlin fährt, um dort beim Kaiser ein richtungsweisendes Sozialpaket, extra für seine Arbeiter geschnürt, vorzustellen und durchzuboxen, kommt es in Neunkirchen zum Chaos.

 

Zwei Werkmeister, denen ihre Position zu Kopf gestiegen ist, drehen jetzt völlig durch. Sie verarschen den Buchhalter und schicken den heimlich Verliebten zu Stumms Frau Ida. Sie lassen sich die Beförderung eines Arbeiter zum Vorarbeiter durch Hurendienste von dessen Ehefrau bezahlen. Sie schmuggeln Pamphlete der sozialistischen Partei in eine Tasche eines unliebsamen Arbeiters, lassen diesen aufliegen, und entlassen ihn.

 

Ein anderes Ehepaar heiratet heimlich, also fliegt der Ehemann ebenfalls, und die beiden Typen lassen ihn und seine schwangere Frau von der Polizei verhaften und ins Gefängnis stecken. Sie beschäftigen Kinder in Stumms Bergwerken im Kohlerevier. Nur den einen Arbeiter, der zum Streik aufruft in der einzigen Sozi-freien Kneipe in Neunkirchen, den schmeißen sie nicht raus. Denen ist die Macht zu Kopf gestiegen, und es ist niemand da, ihnen Einhalt zu gebieten.

 

Doch ist nichts so fein gesponnen, es kommt alles an das Licht der Sonnen.

 

Stumm kehrt aus Berlin zurück, sein genehmigtes Sozialpaket in der Tasche, und stellt sich seinen Arbeitern. "Ich bin einer von Euch in der Hammerschmiede. Und werde immer einer von Euch sein. Und so dankt Ihr es mir!" Er stellt die beiden Bösewichte, die ihn und seine Getreuen so schmählich im Stich ließen, und wirft sie hochkantig hinaus. Sie werden später vom ehemaligen Buchhalter erschossen. Stumm hat jetzt genug. Er droht, die Hütte zu schließen. Er will nicht mehr. Da schwenken seine Arbeiter  die Fähnlein bunt und jauchzen: "Unser Herr!" Auch der angehende Sozi erkennt den Undank in seinen Gedanken und das Unrecht in seinem Tun. Betroffen senkt er den Kopf und schämt sich.

 

Alles ist wieder gut und doch irgendwie nicht. Stumm nimmt die Pistole, mit der sich schon sein Vater entleibt hat, und will sich erschießen, überlegt es sich aber in letzter Sekunde anders, als ihm à la Hamlet der Geist seines Vaters erscheint.

 

Alles wird gut, und unsere Geschichte, so wie wir sie nicht kennen, kann beginnen. Es gibt keine Gewerkschaften – gegen wen sollten sie kämpfen (Röchling war eh ein böser Sozi), keine SPD – gleiche Frage – und natürlich auch keine Linken (armer Oskar! Hat nix zu tun.)

 

Armer Herr Stumm, er stirbt kurz darauf an Magen- und Mundkrebs. Buchstäblich verhungert.

 

So erzählt es das Musical "Stumm – das Musical", das ich gestern abend in Neunkirchen in der wie immer und trotz neuen Fenster zugigen Gebläsehalle erleben durfte.

 

Die Darsteller waren toll, die Kostüme phantastisch, detailgetreu, den Schauspielern wie auf den Leib geschneidert. Sogar mein Onkel, der Betriebsleiter Wolter, sah in Frack und Zylinder super aus.

 

Die Musik wurde wirklich klasse eingesetzt und spielte zusammen mit dramaturgischen Effekten wie fliegenden Funken, dröhnenden Aufbauten, die als Trommeln eingesetzt wurden, und Massenszenen, die die große Bühne gut füllten.

 

Die Lieder blieben stellenweise leider etwas undeutlich. Ich erinnere mich an die Szene, als Stumms Leib- und Werksarzt eben dem Stumm den Kopf wäscht. Da kam kaum ein verständliches Wort in unserer Ecke (ich saß in Reihe 10 auf Platz 339) an, aber das war auch nicht notwendig, man wußte schon, worum es ging.

 

Besonders gut gefallen haben mir Ida Stumm mit ihrer tollen Singstimme und die schwangere Ehefrau eines entlassenen Arbeiters, die trotz Stumms Verbot geheiratet hatten und von den bösen Werkleitern entlassen wurden. Sie brachte ihr Lied, das sie im Gefängnis sang, so eindrucksvoll wieder, da mußte sogar ich schlucken. Ihr Ehemann spielt zwar gut, aber seine Singstimme ist extrem nasal, das stört ungemein.

 

Sehr eindrucksvoll auch die beiden Büttel, die die Festnahme durchführen, vor allem die hohe Stimme des jüngeren, die niemand erwartet hätte.

 

Bestes – weil eindrucksvollstes – Lied war meines Erachtens das Lied "Die Medizin" auf die Toten des Bergwerksunglücks.

 

Völlig kitschig und unglaubwürdig war der Teil der Haupthandlung, die sich mit der verboten Romanze (die keine war) zwischen dem Arbeiterskind Jacques und Stumms Tochter Berta, genannt "Bertinchen", beschäftigt. Hier sollten die sozialen Unterschiede heraugekehrt werden und das Standesdenken der Menschen in der damaligen Zeit. Viel besser und glaubwürdiger wäre es gewesen, beide 14 oder 15 Jahre alt sein zu lassen, nicht erst zwölf. Jerres, so was frühreifes wie den Jungen hab ich noch nie erlebt. Er redet wie ein Alter und sieht aus wie und ist ein Dreikäsehoch. Das mag putzig kommen, wirkt aber kitschig und aufgesetzt. Als Jacques im Bergwerk verletzt wird, versöhnt sich Bertinchen wieder mit ihm, nachdem sie ihn vorher auf Fordern der Mama abserviert hat. Toll. Und dann? Romanze? Das glaubt der Regisseur ja wohl selber nicht. Ich auch nicht.

 

Und dann der Kracher – die französische Einlage. Nanette, Stumms Hausmädchen (eine wirklich starke Besetzung - das war ernst gemeint) stellt ihm einen französischen Architekten vor, der mit großer Can-Can-Tanzgruppe einfällt und dem biederen Musical für ein paar Minuten einen Flair von großer Welt vermittelt. Paßt wie die Faust aufs Auge. Sollte vielleicht  als Hommage an das nahe Frankreich verstanden werden, ich fands billig. Vielleicht waren dem Regisseur auch nur die sonstigen Kostüme zu hoch geschlossen, und er wollte unbedingt zeigen, daß unter den selben auch damals schon nacktes Fleisch vorhanden war, nun, das ist ihm auf jeden Fall gelungen. Aber hierher gepaßt hats m.E. nicht. Oh, das Volk war natürlich hochbegeistert, es gab frenetischen Zwischenapplaus. Nun ja, panem et circenses.

 

Was bleibt:

Musikalisch meist sehr beindruckende gut drei Stunden pralles Leben und Aktion, tolle, engagierte Darsteller, starke Musik, starke Songs und Texte.

 

Eine Geschichte, die gut zu unserem manchmal etwas verlogenen Zeitgeist paßt. Nur nicht die Wahrheit sagen oder auch nur andeuten. War alles nie so schlimm, wie die doofen, trockenen Historiker in ihren Studierstübchen das darstellen wollen. Wir, die wir mit der Gnade der späten Geburt und dem scheltenden Zeigefinger der Besserwissenden einer späteren Zeit gesegnet sind, wir wissen, was damals abging. Außerdem ist alles Kunst, und damit alles erlaubt.

 

Roland Geiger

 

"Groessres mag sich anderswo begeben, Als bei uns, in unserm kleinen Leben,
Neues - hat die Sonne nie gesehn.
Sehn wir doch das Grosse aller Zeiten Auf den Brettern, die die Welt bedeuten,
Sinnvoll, still an uns voruebergehn.
Alles wiederholt sich nur im Leben, Ewig jung ist nur die Phantasie,
Was sich nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie! "

 

Friedrich Schiller, An die Freunde