Das ist sicher eine interessante Arbeit! Toll!
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-------- Ursprüngliche Nachricht -------- Von: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)... Datum: 04.07.24 00:23 (GMT+01:00) An: Stefan Reuter via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)... saarland-l(a)... Pfalz-L <pfalz-l(a)... Hunsrueck-L <hunsrueck-l(a)... Eifel-L(a)... KENT CUTKOMP via IGGP-L <iggp-l(a)... Betreff: [Regionalforum-Saar] Taufe – Ehe – Tod. Praktiken des Verzeichnens in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern
Taufe – Ehe – Tod. Praktiken des Verzeichnens
in
frühneuzeitlichen Kirchenbüchern
Autor Eva Marie Lehner
Erschienen Göttingen 2023: Wallstein
Verlag
Anzahl Seiten 375 S.
Preis € 34,00
ISBN 978-3-8353-5380-0
Rezensiert für H-Soz-Kult von Inken Schmidt-Voges, Seminar für
Neuere
Geschichte, Fachbereich 06, Philipps-Universität Marburg
Kirchenbücher gehören so selbstverständlich zum Standardrepertoire
frühneuzeitlicher Quellengattungen – etwa für Studien zur
Familiengeschichte,
Historischen Demographie, Historischen Anthropologie,
Mikrogeschichte – und als
Basisreferenz für personengeschichtliche Untersuchungen, dass ihr
serieller und
standardisierter Charakter häufig als gegeben angenommen wird.
Natürlich ist
bekannt und wird reflektiert, dass insbesondere in der Phase ihrer
Einführung
noch wenig Standardisierung vorlag, die Verzeichnung lückenhaft
war und die
Serialität der Daten noch lange fragmentarisch blieb. Umso
erstaunlich
erscheint, dass noch keine Studie vorlag, die sich mit den
Verzeichnungspraktiken der verschiedenen beteiligten Akteur:innen
auseinandersetzte und danach fragte, inwiefern und warum gerade in
den ersten
Jahrzehnten nach der Einführung standardisierter Vorgaben die
vielfältigen
Formen und Varianzen in den Verzeichnungen zu deuten sind. Wie
sind sie in den
sozialen Kontext einzugliedern und welche Rolle spielten die
Kirchenbuchschreiber dabei, die vorgefundenen sozialen Praktiken
ihrer
Gemeindemitglieder mit den geltenden Normen in Form
administrativen Schriftguts
in Übereinstimmung zu bringen?
Diese Lücke füllt Eva Marie Lehner mit ihrer Dissertation in
hervorragender
Weise. Sie untersucht anhand mehrerer hundert katholischer,
lutherischer und
reformierter Kirchenbücher ausgewählter Gemeinden aus dem 16. und
17.
Jahrhundert insbesondere die erste Phase der Einführung,
Etablierung und
Durchsetzung von Kirchenbüchern. Ihr Interesse gilt dabei der Art
und Weise,
wie die beteiligten Akteure bei den drei großen „rites de passage“
– Taufe, Ehe
und Tod – ihre Einträge in die Kirchenbücher strukturierten, sie
anreicherten
mit weiteren Informationen, die sie für wichtig erachteten und wie
die (neuen)
Praktiken des Verzeichnens auch Rückwirkungen auf die sozialen
Praktiken der
Gemeindemitglieder zeitigten. Theoretisch und methodisch entfaltet
sich die
Arbeit zwischen Praxeologie, Intersektionalität und
Wissensgeschichte, was in
der Einleitung luzide und überzeugend miteinander vor dem
Hintergrund der
Problemstellung ausgeführt und diskutiert wird.
Ausgehend von der Bedeutung der drei Ereignisse für die
Individuen, aber auch
für die jeweiligen Gemeinden strukturiert Lehner die Arbeit nicht
nach
Konfessionen oder spezifischen Zeitschnitten, sondern fragt nach
den
biographischen, ein- und ausschließenden, ordnenden und
administrierenden
Praktiken in den Kirchenbüchern vor dem Hintergrund der
theologischen wie auch
sozialen Bedeutung des Ereignisses. Dementsprechend gruppieren
sich die
Unterkapitel um verschiedene mit diesen Schwellensituationen
verbundene
Herausforderungen und Problemstellungen, denen die Pfarrer und
Diakone mit
ihrer Verzeichnispraxis begegnen mussten.
So wird im Kontext der Taufe die Problematik der Verzeichnisse an
sich mit
Blick auf die konfessionellen Unterschiede und die Haltung zu
möglichen
Zweit-/Wiedertaufen problematisiert. Großen Raum nehmen in der
Arbeit, wie auch
in den Kirchenbüchern, die vielfältigen Verzeichnispraktiken zur
Taufe oder
Nicht-Taufe von Kindern ein, die unter oder kurz nach der Geburt
verstarben oder
von der Hebamme notgetauft wurden. Die oftmals genaue Beschreibung
der Umstände
verweist auf die große Bedeutung, aber auch hohe Fragilität jener
Passageriten,
die theologisch wie körperlich von großen Unsicherheiten geprägt
waren. Aber
auch Konfessions- und Religionswechsel lassen sich in den
Taufeinträgen
nachvollziehen.
Die Eheschließung brachte wiederum ganz andere Herausforderungen
für die
Pfarrer, aber auch die Eheleute und ihre Verwandten mit sich. Sehr
genau wurde
festgehalten, inwieweit die zu trauenden Paare möglicherweise
schon vor ihrer
Hochzeit auch eine sexuelle Beziehung gepflegt hatten, ob gar
schon Kinder
vorhanden waren oder Schwangerschaften, deren Legitimität durch
eine Heirat
nachträglich hergestellt werden sollte. Ein Effekt der immer
wichtiger
werdenden Fähigkeit, die eigene Ehe auch jenseits der
Herkunftsfamilie und
-gemeinde in Zeiten hoher Mobilität nachweisen zu können, zeigte
sich in den
Anmerkungen zur Trauung bzw. Taufe bei auswärtigen Paaren, indem
sie eine
entsprechende Bescheinigung vorweisen oder eben nicht beibringen
konnten. Wie
zentral innerhalb weniger Jahrzehnte das offizielle Verzeichnis
einer Heirat in
den Kirchenbüchern für die Legitimität der Ehe auch für die
Gemeindemitglieder
wurde, arbeitet Lehner anhand mehrerer „Selbstanzeigen“ heraus.
Insbesondere im
Falle von Schwangerschaften oder offenkundigen sexuellen
Beziehungen
informierten die Beteiligten den zuständigen Pfarrer über ihre
offizielle, aber
offensichtlich (noch) nicht notierte Verheiratung und brachten
auch Zeugen bei,
um etwaige Zweifel oder Ehrenstrafen auszuräumen. Zunächst
verblüfft im
Ehekapitel der ausführliche Rekurs auf Taufbücher im Unterkapitel
zu ehelichen
und unehelichen Kindern. Aber schnell wird deutlich, dass der
eheliche Status
von Eltern sich gerade beim Fehlen einer offiziellen Heirat
oftmals viel eher
bei der Taufe der Kinder ablesen ließ – waren im Ehebuch doch
gerade nur die
offiziellen Hochzeiten verzeichnet.
Der Abschnitt zum Eintrag von Todesfällen und Sterbeprozessen in
den Sterberegistern
zeigt wiederum eigene Schwerpunkte, die sich aus den theologischen
Bedürfnissen, den administrativen Vorgaben, aber auch den sozialen
und
körperlichen Gegebenheiten ableiten ließen. Mit Blick auf die
Bedeutung des
„guten Sterbens“ waren zu plötzliche wie auch zu langwierige
Sterbeprozess eine
besondere Notiz wert, gerade weil sie besondere Herausforderungen
an das „gute“
Sterben stellten. Einen erstaunlich tiefen Einblick erhält man
hier in die
Vielfältigkeit der körperlichen Gebrechen und Formen des Sterbens,
die Menschen
in der Frühen Neuzeit ereilen konnten. Ausnahmesituationen
stellten dabei immer
wieder Epidemien wie auch Kriegszeiten dar, in denen die gerade
gewonnenen
Routinen der Administration einerseits, aber auch der sozialen
Praktiken andererseits
durcheinander gerieten. Eindrucksvoll schildert Lehner die
Auswirkungen des
Dreißigjährigen Krieges in den Fluchtbewegungen, den
Pestereignissen und
sozialen Unordnungen, die sich nicht zuletzt durch die hohe
Mobilität der
Menschen in diesen Krisenzeiten ausdrückten.
Die Vielzahl der mit der Analyse der Verzeichnungspraktiken
verbundenen
Schlaglichter auf das Alltagsleben, die sozialen Beziehungen,
Integrations- und
Exklusionspraktiken, Herausforderungen durch die Wechselfälle des
Lebens ist in
der Rezension nicht abzubilden. Die durchweg ausgewogene
Präsentation von
konkreten Beispielen und verallgemeinernden, kontextualisierenden
Abschnitten
führt die Leserin und den Leser durch eine spannende
Quellengattung, deren
Forschungspotential auf diese Weise noch einmal viele weitere
Dimensionen
öffnet. Aber nicht nur mit Blick auf die Individuen und Gemeinden,
sondern auch
auf die Pfarrer, Diakone und andere Verzeichnende. Denn sie waren
es, die die
normativen Vorgaben der Kirchenordnungen und des kanonischen
Rechts mit der
Praxis ihrer Gemeinden zu einer sinnstiftenden Einheit bringen
mussten – und
letztlich dafür auch bei Visitationen Verantwortung übernehmen
mussten. Eva
Marie Lehners Studie zeigt ganz hervorragend, wie rasch einerseits
die
Verzeichnispraktiken auf die sozialen Praktiken einwirken konnten
und eine
relevante Größe darstellten. Aber sie zeigt andererseits auch, wie
heterogen,
eigensinnig, fluide und situativ die Verzeichnispraktiken dennoch
über viele
Jahrzehnte hinweg blieben – trotz aller kirchenobrigkeitlichen
Bemühungen, hier
Einheitlichkeit und Klarheit herzustellen.
Die Studie regt nicht nur zum inspirierenden Lesen an (bei dem
einige
rhetorische Redundanzen und letzte übersehene Tippfehler nicht ins
Gewicht
fallen), sondern hoffentlich auch zu vielen weiteren
Forschungsarbeiten, die
sich auf dieser praxeologischen Ebene mit Kirchenbüchern
beschäftigen, ihre
Zugänglichkeit herstellen und zu systematisch-strukturellen
Analysen einladen –
gerade auch mit Blick auf die weitere Entwicklung bis ins 19.
Jahrhundert.
Zitation
Inken Schmidt-Voges, Rezension zu: Lehner, Eva Marie: Taufe – Ehe
– Tod.
Praktiken des Verzeichnens in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern.
Göttingen 2023
, ISBN 978-3-8353-5380-0, In: H-Soz-Kult, 04.07.2024, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-132739>.
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