Suche | Sortierung nach | Monatsdigest | ||
2024/04/03 09:36:26 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Online-Vortrag "Ahnenforschung in den USA - Die US-Vital-Records" am 18.04.2024 |
Datum | 2024/04/09 13:30:03 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Vortrag „Foltern, Prange rn, Henken, Pest“ |
||
2024/04/17 17:37:31 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] bitte beachten: Das Mitgliedertr effen der ASF im April findet eine Woche früher statt. |
Betreff | 2024/04/30 15:57:24 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Deutsche Stiftung für Engagem ent und Ehrenamt kommt nach WND |
||
2024/04/03 09:36:26 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Online-Vortrag "Ahnenforschung in den USA - Die US-Vital-Records" am 18.04.2024 |
Autor | 2024/04/09 13:30:03 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Vortrag „Foltern, Prange rn, Henken, Pest“ |
Date: 2024/04/03 11:00:55
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...
Der große Aufbruch. Globalgeschichte der frühen
Neuzeit
Autor Wolfgang Behringer,
Reihe Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung
Erschienen München 2023: C.H.
Beck Verlag
Anzahl Seiten 1.319 S., 119 Abb., 35 Karten und Grafiken
Preis € 48,00
ISBN 978-3406783449
Rezensiert für H-Soz-Kult von Wolfgang Reinhard,
Freiburg
Bereits das erste Wort des riesigen Buches ist eine Art von Zitat:
„Apologie“
heißt nämlich die umfangreiche Einleitung, die dem Leser in
flotter Sprache
„mit einigen Appetithäppchen Lust auf die globale Frühe Neuzeit
machen möchte“
(S. 66). In quasi sokratischer Manier provozierend verteidigt
Behringer darin
sein Vorhaben einer Globalgeschichte in Episoden durch einführende
ausführliche
Vorwegnahme strategischer Bestandteile des Buches, gewissermaßen
Selbstzitate
daraus, die ihrerseits mit zitierfähigen Schlagwörtern
überschrieben sind.
„Hanno der Elefant“ Papst Leos. X. spricht Portugals Anfänge in
Indien an.
„Neue Welt“ behandelt Kolumbus und die Anfänge der Conquista, die
klug und
ausgewogen quellenkritisch beurteilt werden. Mit „Khanbaliq“, der
alten
Hauptstadt des chinesischen Imperiums, kommt dann der globale
Seeweg nach
Westen mit seinem asiatischen Hintergrund seit Marco Polo und Ibn
Battuta zur
Sprache. „Neue Zeit“ bietet einen Abriss der muslimischen und
europäischen Entdeckungen
und ihrer Wahrnehmung samt Protagonisten wie Piri Reis, Anghiera,
Vespucci und
Mercator. Denn die Neuzeit habe in der Tat mit den Entdeckungen
begonnen.
Anschließend beschreibt „Columbian Exchange“ (Alfred W. Crosby)
den globalen
Austausch von Pflanzen und Tieren.1 „American Holocaust“
(Russell Thornton)
setzt sich sorgfältig und sachkundig mit der Las-Casas-These vom
angeblichen
spanischen Massenmord an den Indigenas und den neuesten
epidemiologischen
Erkenntnissen auseinander.2 „Silberfluss“ bezieht sich
auf die wenig
bekannte Tatsache, dass der erste „Rio de la Plata“ seinen Namen
schon 1536 in
Bolivien erhielt (im heutigen Sucre). Im Hintergrund steht dabei
die Ablösung
des chinesischen Papiergelds durch die neuen globalen Silber- und
Warenströme
und den zugrunde liegenden Bergbau. Als typisches Nebenprodukt
unter
angehäuften Lesefrüchten erfahren wir, dass die erforderliche
Quecksilbergewinnung für Amerika zu Entwaldung Sloweniens geführt
habe (S. 51).
„Der Planet atmet“ (Charles D. Keeling)3, was Behringer als Experte
klima- und
vulkangeschichtlich im Einzelnen darlegen kann samt einem Hinweis
auf die
Folgen der Wiederbewaldung Amerikas nach dem Massensterben der
Indigenen.
Für den globalgeschichtlichen „Zweck des Buches“ setzt Behringer
wie Fernand
Braudel auf das Konzept der „Zivilisationen“ und geht dabei
behutsam und
realistisch mit Gründen für die unbestreitbare Sonderrolle Europas
um. Er
verzichtet bewusst auf den Versuch einer systematischen
Bewältigung des
gigantischen Stoffes und will stattdessen eine Auswahl
detaillierter
Mikrogeschichten mit Schwerpunkt auf außereuropäischen
Zivilisationskontakten
vorlegen. Als Ansatz sollen 1. Ereignisse von globaler Bedeutung,
2. globale
Orte, 3. globale Lebensläufe, 4. globale Strukturen, auch wenn sie
nicht
explizit thematisiert werden, 5. globale Themen wie Rassismus und
Sklaverei
dienen (S. 65). Der „Aufbau des Buches“ folgt allerdings grob
einer
traditionellen Geschichte der europäischen Frühneuzeit mit
Vorgeschichte,
Aufbruch im 16. Jahrhundert, „Krise des 17. Jahrhunderts“ im Sinne
von Geoffrey
Parker4, Fortschritt im 18.
Jahrhundert und
Ausblick ins 19. Jahrhundert. Der „Epilog“ fasst noch einmal zehn
Perspektiven
zusammen: Weltreisen, kulturelle Renegaten, Massaker,
Ethnozentrismus,
Hybridisierung, Weltwirtschaft, Weltbevölkerung, Kolonialismus,
„Tiefenströmungen“ mit Wiederaufstieg der alten Zivilisationen,
„Weltkulturerbe“.
Abschließend gilt „Der Name der Rose“ dem Problem der Vielfalt
konkurrierender
Gruppen-, Orts- und Personennamen. Gegen Ecos Nominalismus will
Behringer
allerdings auf der Sachhaltigkeit von Namen bestehen. „Namen sind
nicht Schall
und Rauch. Sie haben eine Geschichte und sind Gegenstand von
Konflikten.“ (S.
69) Er entscheidet sich pragmatisch für ihren jeweiligen
Gebrauchswert, aber
mit der nötigen Rücksicht auf Empfindlichkeiten. Für die
Reflexionen des
Rezensenten, dessen eigene Arbeiten er ansonsten ignoriert, über
die
„unausweichliche eurozentristische Befangenheit“ (S. 70) jeder
heutigen
Historiographie und Begriffsbildung auch und gerade im Zeichen des
postkolonialen Denkens hat er freilich nur Verachtung übrig.5 Schließlich hätten auch
andere
Zivilisationen ihre Vorurteile gehabt. Ungescheut trägt er
daraufhin bereits in
der Einleitung mit großer Detailverliebtheit bis hin zu
Kuriositäten wie dem
Straußenei Leonardo da Vincis (S. 30) den Reichtum an globalem
Wissen zusammen,
den er gesammelt hat. Neben ausgiebigen Textzitaten gehört auch
eifriges
Namedropping dazu. Unermüdlich sammelt und erklärt er außerdem
alle
erdenklichen Originalnamen von Sachen, Gruppen und Personen mit
ihren deutschen
Übersetzungen und den Lebensdaten.
Der ausgearbeitete Text folgt diesem Entwurf. Seine Kapitel
bestehen ebenfalls
aus hunderten von Episoden mit durchschnittlich sechs Seiten und
flotten
Schlagwörtern als Überschriften. Bereits eine Übersicht würde den
Umfang einer
Rezension sprengen. Manche Episoden folgen zwar aufeinander oder
hängen
wenigstens irgendwie zusammen. Häufiger ist freilich ein Sprung
mit
Themenwechsel. Zusammen mit dem eingängigen Stil macht dieser
Episodencharakter
aber die Lektüre des dicken Buches dennoch zum Vergnügen.
Eingängig heißt auch,
dass es sich immer um erzählte Ereignis- und Personengeschichte
handelt. Im
Bedarfsfall werden Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte aber
kenntnisreich eingeblendet und gelegentlich auch einschlägige
Theorien
erörtert, etwa Wallerstein und Franck (S. 515). Die Bebilderung
ist
eindrucksvoll, nimmt aber mit Kapitel 4 deutlich ab. Freilich
könnte die Liebe
zum aktuellen Detail manchen Lesenden zu weit gehen. Wir erfahren
nicht nur,
dass es heute noch Nachkommen des Aztekenherrschers Moctezuma
gibt, sondern
lesen darüber hinaus „seit 2014 ist Juan José Narcilla de
Teruel-Moctezuma y
Valcarol, der 6. Herzog von Moctezuma y Toltengo (geb. 1958),
Oberhaupt dieser
Linie des spanischen Hochadels“ (S. 274). Auf der anderen Seite
ist es aber ein
Vorzug des Buches, dass regelmäßig unbekannte und nach den
üblichen
historischen Maßstäben unwichtige nicht-europäische Heldinnen und
Helden eigene
Episoden bekommen. Die vorgenommenen Neubewertungen vermögen
ebenfalls zu
überzeugen. Nur dass James Cook allzu verkürzt behandelt und
abgewertet wird
(S. 759–61, S. 904, S. 929, S. 950), will dem Rezensenten nicht
einleuchten.
Inhaltlich versuchen die Episoden die außereuropäische Welt
möglichst
weitgehend zu berücksichtigen. Die europäische Frühneuzeit
hingegen kommt eher
selten zur Geltung, wenn Europa indirekt beteiligt war oder es
sich um seine
Alleinstellungsmerkmale handelt wie den Parlamentarismus (S.
145–51) und die
neue europäische Wissenskultur. Aus diesem Grund nimmt der
europäische Anteil im
18./19. Jahrhundert zu.
Dem Rezensenten sind zwar allerhand Ungereimtheiten aufgefallen:
„Oceanus
Indicus Superioris“ (S. 23) müsste heißen „Indiae Superioris
Oceanus“;
Francesco Barberini war der Neffe, nicht der Bruder des Papstes
(S. 472) und
die Borja-Krise (S. 474) hatte nichts mit Galilei zu tun;
Buckingham wird mit
Strafford verwechselt (S. 548); auf S. 663 können Lebensdaten
nicht stimmen;
Friedrich Wilhelm I. war König, nicht nur Kurfürst (S. 726); der
Regent war der
Neffe, nicht der Bruder Ludwigs XIV. (S. 738); den „Vulkan Nyey“,
der auch im
Register fehlt, gibt es nicht, denn es ist einfach der neue (nye)
Vulkan (S.
830); auf S. 896 muss es „George IV.“ heißen. Das mag angesichts
von Behringers
Detailverliebtheit ärgerlich sein, spielt aber aufs Ganze gesehen
keine Rolle.
Denn die Nachprüfung von anderen auffallenden Behauptungen seines
Buches hat
fast immer mit der Bestätigung seiner Aussagen geendet.
Dazu wurde allerdings weitgehend das Internet herangezogen, was
bemerkenswerte,
zum Teil fast wörtliche Übereinstimmung mit Behringers Text ergab.
Offensichtlich beruht der Reichtum des Werkes weitgehend auf
seinen
jahrzehntelangen Recherchen im Netz (S. 1005 f.), die freilich nur
ausnahmsweise belegt werden. Auch der an und für sich sehr
eindrucksvolle
gelehrte Apparat des Buches führt nicht für alle Endnoten zu
passgenauen
Nachweisen, zum Beispiel im Falle des von Japanern für Hasekura
Tsunegagas
Mexikoreise nachgebauten Schiffes (S. 486 und S. 1102). Woher
stammen dann aber
jeweils die Ausführungen im Text?
Es könnte freilich sein, dass wir mit dieser Globalgeschichte eine
neue Art
digital gestützter Historiographie vor uns haben, die überhaupt
nur mit
großzügigen formalen Vorgaben möglich ist. Auch konzeptionell geht
sie
großzügig neue Wege, indem sie die Authentizitätsfiktion der
Quellen ohne
Bedenken übernimmt, obwohl diese uns oft nur westlich gefiltert
vorliegt, etwa
die Aktivitäten der kongolesischen Prophetin Kampa Vita in Texten
italienischer
Kapuziner (S. 618–22). Behringer dürfte auch hier den puristischen
Bedenken des
Rezensenten zum Trotz erfolgreich einen neuen Weg gewählt oder
wenigstens
erprobt haben. Bleibt angesichts seiner detailverliebten
Mikroperspektive
allerdings immer noch die Frage offen, ob wir das alles wirklich
wissen müssen.
Wir müssen zwar nicht, aber es bereitet uns Vergnügen!
Anmerkungen:
1 Alfred W. Crosby, The
Columbian Exchange.
Biological and Cultural Consequences of 1492, New York 1972, Ndr.
London 2003.
2 Russell Thornton, American
Indian Holocaust
and Survival. A Population History since 1492, Norman / OK 1987.
3 Charles D. Keeling, The
Concentration and
Isotopic Abundances of Carbon Dioxide in the Atmosphere, in:
Tellus 12 (1960),
S. 200–203.
4 Geoffrey Parker, Global
Crisis. War, Climate
Change and Catastrophe in the Seventeenth Century, Yale 2013.
5 Wolfgang Reinhard,
Einleitung: Weltreiche,
Weltmeere – und der Rest der Welt, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.),
1350-1750
Weltreiche und Weltmeere (Geschichte der Welt 3), München 2014, S.
9–52;
Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der
europäischen
Expansion 1415-2015, 6. Aufl., München 2023 (1. Aufl. 2016).
Zitation
Wolfgang Reinhard, Rezension zu: Behringer, Wolfgang: Der große
Aufbruch.
Globalgeschichte der frühen Neuzeit. München 2023 , ISBN
978-3406783449, In:
H-Soz-Kult, 03.04.2024, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-140592>.