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2023/11/30 08:18:45 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Zeitungen u.a. aus dem 19. Jahrhundert |
Datum | 2023/11/30 22:21:50 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Jahresband SFK 2023 erschienen |
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2023/11/26 13:34:58 Friedrich . Denne Re: [Regionalforum-Saar] Fwd: Hiwwe wie Driwwe: Die Reise zum Buch 2024 |
Betreff | 2023/11/17 18:52:15 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Jahrbuch für westdeutsche Lan desgeschichte 48 (2022) |
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2023/11/30 08:18:45 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Zeitungen u.a. aus dem 19. Jahrhundert |
Autor | 2023/11/30 22:21:50 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Jahresband SFK 2023 erschienen |
Date: 2023/11/30 09:36:24
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...
Hochstapelei:
Zur Kulturgeschichte der Täuschung im 20. Jahrhundert
Organisatoren
Tobias Becker, Freie Universität Berlin; Michael Homberg,
Leibniz-Zentrum für
Zeithistorische Forschung Potsdam; Thomas Werneke,
Humboldt-Universität zu
Berlin
14467 Potsdam
Fand statt In Präsenz
Vom - Bis 12.10.2023 - 13.10.2023
Von Attila Philipp Saadaoui, Universität zu Köln
Vom Hauptmann von Köpenick und Harry Domela bis zu Anna Sorokin:
Hochstapler und ihre Geschichten faszinieren und polarisieren
bis heute.
Bei genauerer Betrachtung ergeben sich jedoch Diskrepanzen
zwischen diesem eher
allgemeinen Interesse an den Geschichten und dem Grad ihrer
historischen
Erforschung. Dies markierte den Anlass für eine Tagung am
Leibniz-Zentrum für
Zeithistorische Forschung Potsdam am 12. und 13. Oktober 2023
unter dem Titel
„Hochstapelei: Zur Kulturgeschichte der Täuschung im 20.
Jahrhundert“. Auf
Einladung von Tobias Becker (Berlin), Michael Homberg (Potsdam)
und Thomas
Werneke (Berlin) wurde das Phänomen aus sozial-, kultur- und
medienhistorischen
Blickwinkeln beleuchtet. Dabei sollten analytische Zugänge
entwickelt, Brüche
und Kontinuitäten ausgemacht, soziale, kulturelle und
ökonomische Räume und
Begleitumstände untersucht und die Rolle medialer
Öffentlichkeiten diskutiert
werden.
Mit dem „Hauptmann von Köpenick“ nahm HANNO HOCHMUTH (Berlin)
eine der
meistrezipierten deutschen Hochstaplerbiographien in den Fokus.
Seiner Analyse
der „zweiten Karriere“ des Wilhelm Voigt, die zwischen seiner
Festnahme im
prekären Milieu der Berliner Langen Straße und seinem Tod in
Luxemburg zu
datieren sei, legte der Referent die These zugrunde, dass diese
Voigts
„eigentliche Karriere als Hochstapler“ darstelle. Seine
Geschichte über vier
Jahre als „Unternehmer seiner selbst“ mittels öffentlicher
Auftritte und
forcierter medialer Inszenierungen kapitalisierend, sei Voigt
trotz hoher
Popularität stets ein Getriebener geblieben. Die topografisch
angelegte Skizze
des Nachgangs der „Köpenickiade“ warf Schlaglichter auf die
wechselseitige
Beziehung zwischen Medien und Hochstapelei sowie den Aspekt der
Transnationalität, die Voigt in Anbetracht eines verwehrten
Aufenthaltsrechts
im wilhelminischen Deutschland schließlich in den „Ruhestand“
nach Luxemburg
führte.
Anhand der umstrittenen Kirchengründerinnen Mary Baker Eddy und
Aimee McPherson
untersuchte STEPHANIE COCHÉ (Gießen) die Wirkmächtigkeit
medialer Diskurse und
Skandalisierungen um religiöse Führungspersönlichkeiten und
„Heilerinnen“ in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beide Frauen, die in
ihren
evangelikalen Strömungen Formen von Christian Healing
als der
Schulmedizin überlegene Disziplinen propagierten, seien
zeitweise in den
Verdacht der Hochstapelei geraten. Neben der Frage, wann und
warum den beiden
Täuschungen unterstellt wurden, bildeten divergierende
Bewertungs- und
Rezeptionsprozesse ihrer Denominationen in Deutschland und den
USA den Kern des
Vortrags. Transnationale Unterschiede in der Aushandlung beider
Fälle seien
anhand von Struktur und Finanzierung ihrer Organisationen, der
Art des
Führungsanspruchs, der gesellschaftlichen Bewertung weiblicher
Führungspersonen, der Justiziabilität pseudo-medizinischer
Praktiken sowie des
Verhältnisses von Staat und Religion zu interpretieren.
Dass es zwei Hochphasen sogenannter „falscher Indianer“ in
Europa gab, deren
Auftreten als Indikator gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse
gelesen werden
könne, exemplifizierte MARTIN DEUERLEIN (Tübingen) anhand zweier
Fallbeispiele.
Einer ersten Phase, visualisiert durch den US-amerikanischen
Hochstapler Edgar
Laplante, der in den 1920er-Jahren als falscher Häuptling und
Repräsentant
durch Europa reiste, sei eine zweite Phase in den 1970er-Jahren
gefolgt. Das
Beispiel Craig Carpenter zeige, dass „beanspruchte Identitäten“
in rechts- wie
linksalternativen Milieus der Bundesrepublik zu spiritueller
Autorität
verhelfen konnten. Während der Erfolg „falscher Indianer“ in den
1920er-Jahren,
strukturell begünstigt durch flexibles Reisen, transnationale
Begegnungen und
langsame Informationsflüsse, primär auf der Unterhaltung ihres
Publikums
basierte, habe er in den 1970er-Jahren spirituelle Bedürfnisse
alternativer
Szenen bedient. Fragen warf im Anschluss der Begriff der
Authentizität im
Spannungsfeld von kultureller Selbstaneignung und beanspruchter
Identität auf.
KLARA LÖFFLER (Wien) setzte Bewerbungsgespräche,
Personalinterviews und
Dating-Plattformen als Felder hochstaplerischer Praxis ins
Zentrum ihres
Vortrags. Perspektiven der Erzählforschung und der
Autobiographieforschung
vereinend, untersuchte sie Strategien „biographischer Arbeit“ in
Konkurrenzsituationen, die nach Auffassung der Referentin über
bloße
Selbstinszenierung hinausgingen. Bewerbungsverfahren im
Wissenschaftsbetrieb
attestierte sie dabei ein „Authentizitätsparadoxon“, das sich
aus
standardisierten, zahlenlastigen Lebensläufen einerseits und
Freiheiten im
Anschreiben andererseits ergebe. Beide Gattungen seien an
jeweilige Erwartungen
der Ausschreibenden angepasst und dadurch vereinheitlicht,
sodass
Körperlichkeit und Auftreten der Bewerbenden zunehmend in den
Fokus rückten.
Einen vergleichbaren Trend machte sie für Dating-Portale aus,
bei denen Logiken
der Aufmerksamkeitsökonomie griffen. Der Vortrag verdeutliche,
dass der Druck
zur Selbstoptimierung steige und hochstaplerischen Praktiken in
Konkurrenzsituationen eine zunehmende Akzeptanz zukomme.
Einblicke in ihr Dissertationsprojekt zum Thema „Hochstapelei
als soziale
Figuration“ verband INGA KLEIN (Hamburg) mit einer Analyse der
Hochstapler-Autobiographien von Mike Wappler, Gert Postel und
Jürgen Harksen.
Deren Erfolg sei durch Etikettierungsprozesse innerhalb medialer
Diskurse
begründet, die Hochstapler:innengeschichten skandalisiert,
ironisiert oder
romantisiert und ihrer Monetarisierung damit Vorschub geleistet
hätten. Den
Biographien entnahm sie unterschiedliche Narrative der
„retrospektiven Legitimierung“,
zu welchen neben der Inszenierung als „Geschichtenerzähler“ auch
Relativierungen durch den Verweis auf soziale Differenzen und
die „Demaskierung
gesellschaftlicher Unmoral“ zählten. Diese Narrative dienten
jeweils der
gesellschaftlichen Rehabilitierung der Hochstapler und
eröffneten ihnen neue
Handlungsspielräume und Öffentlichkeiten. In der anschließenden
Diskussion
wurde deutlich, dass diese Formen retrospektiver Inszenierung
Grenzen der
Narrativierbarkeit unterliegen, etwa in Bezug auf Straftaten.
Über die Frage,
ob es sich dabei um ein überwiegend männliches Phänomen handle,
herrschte
Uneinigkeit.
Eine „Topographie des Hochstaplers in der Weimarer Republik“ bot
der Vortrag
von TOBIAS BECKER (Berlin) an. Davon ausgehend, dass die
Biographie Harry
Domelas neue Perspektiven auf die Gesellschaft der
Zwischenkriegszeit gewähren
könne, machte er eine Reihe von Orten aus, die sich auch in
zahlreichen anderen
Hochstaplergeschichten wiederfinden ließen. Beginnend mit der
„Straße“ als
sozialem Topos zwischen Reichtum und Elend, führte der Vortrag
über den
„Bahnhof“, einem Symbol für Stillstand und Bewegung, einem
Berliner
Obdachlosenasyl („die Palme“) und den homosexuellen „Strich“ im
Tiergarten zu
den Stationen „Provinz“, „Hotel“, „Gericht“, „Gefängnis“ und
„Kino“. Der
topographische Ansatz verdeutlichte nicht nur das hohe Maß an
sozialer und
tatsächlicher Mobilität von Hochstapler:innen, deren rastloses
Umherwandern
neben Urbanität auch die Provinz betreffe, sondern eröffnete
auch neue sozial-
und kulturhistorische Einblicke. Das Thema signifikanter „Orte
der
Hochstapelei“ wurde im Laufe der Tagung immer wieder
aufgenommen.
Über die Häufung von Hochstapler:innen im Dunstkreis der
exilierten
Hohenzollern sprach HENNING HOLSTEN (Berlin). Anhand des
Hochstaplers Ignaz
Trebitsch-Lincoln und des Schriftstellers George Sylvester
Viereck skizzierte
er ein Spannungsfeld zwischen Putschversuchen, Gerüchten und
forcierter
Imagekorrektur zur Zeit der Weimarer Republik, ehe er die
öffentliche Rezeption
der Familienverhältnisse des Adelshauses thematisierte. Die
Beispiele des
Prinzen Joachim, dessen Frau ihn mit einem Hochstapler betrogen
hatte, sowie
des falschen Adeligen Alexander Zoubkoff, der die Prinzessin
Victoria täuschte,
offenbarten für Holsten einen „Hochstapler-Magnetismus“ der
Hohenzollern, deren
„Celebrity-Faktor“ konstitutiv für mediale Skandalisierungen
gewesen sei. Die
Hohenzollern seien in einer Melange aus „Schuldkomplex und
Rachephantasien“
immer wieder an Hochstapler:innen geraten, die Reichtum und
Sozialprestige
erwartend den Wegfall zentraler Sicherheits- und
Kontrollmechanismen aus
monarchischer Zeit ausnutzten.
Perspektiven der neueren Diplomatie-Forschung einnehmend, fragte
TILL KNOBLOCH
(Chapel Hill) anschließend nach den Mechanismen der Täuschung
als Strategie
nationalsozialistischer Außenpolitik. Hitler habe die Kulissen
diplomatischer
Treffen ebenso wie seine Kleidung und seinen Habitus bewusst
kontrolliert, um
sich gegenüber ausländischen Vertretern gemäßigt und
pazifistisch zu inszenieren.
Dadurch habe er über einige Zeit selbst hochrangige
französische, britische und
polnische Akteure über seine wahren Absichten täuschen können.
Während über als
hochstaplerisch interpretierbare Episoden im Leben Hitlers
diskutiert wurde,
standen im Anschluss an den Vortrag auch die Grenzen zwischen
Hochstapelei,
Tiefstapelei und strategischer Täuschung als Begleiterscheinung
des
diplomatischen Tagesgeschäfts zur Debatte.
Auf das Phänomen ehemaliger NS-Funktionäre, die sich nach dem
Zweiten Weltkrieg
mittels biographischer Untertreibungen sozial neu erfanden, kam
THOMAS WERNEKE
(Berlin) zu sprechen. Diesen „Nachkriegstiefstaplern“ stellte er
mit dem
Beispiel Fritz Rößler, der unter falscher Identität zunächst
seinen eigenen Tod
bezeugt, seine Frau erneut geheiratet, seine eigenen Kinder
adoptiert und
später eine Karriere als rechtsextremer Politiker in der
Bundesrepublik
eingeschlagen hatte, eine exzeptionelle Hochstaplerbiographie
entgegen. MICHAEL
HOMBERG (Potsdam) knüpfte an diese „offenen Flanken“ an, indem
er die Rezeption
des DEFA-Films „Der Hauptmann von Köln“ analysierte. Dieser sei,
die
mangelhafte Verfolgung ehemaliger NS-Akteure in der
Bundesrepublik
persiflierend, in der DDR gefeiert und im Westen entsprechend
als Politikum
gehandelt worden. Während beide Referenten die Konstruktion
neuer Identitäten
als „Extremfall der Nachkriegszeit“ bewerteten, seien „kleinere
Korrekturen“
des eigenen Lebenslaufs in DDR und Bundesrepublik vielfach
vorgekommen. Die
Analyse dieser Neuinszenierungen im Spiegel der Geschichte der
Hochstapelei
biete vielversprechende Möglichkeiten zur Erforschung
deutsch-deutscher
Karrieren und Deutungskonflikte nach dem Krieg.
MAXIMILAN KUTZNER (Würzburg) nahm die Affäre um die gefälschten
„Hitler-Tagebücher“ zum Anlass für die Frage, ob der Fälscher
Konrad Kujau als
Hochstapler interpretierbar sei. Anhand unterschiedlicher
Definitionskriterien
ordnete er ein, dass dieser durch sein Handeln zwar keinen
sozialen Aufstieg
erwartet, sich jedoch in einem elitären Kreis von Sammlern
bewegt und dort
unter falschem Namen Expertisen ausgesprochen habe. Auch habe er
die
Wahrnehmung seiner eigenen Person beim „Stern“-Reporter Gerd
Heinemann aktiv
gesteuert, eine Phase der Monetarisierbarkeit
nationalsozialistischer
Geschichte antizipiert und sich dadurch in einer Zeit moderner
Transformationsprozesse mit hochstaplerischen Mitteln
durchzusetzen versucht.
Die Frage, ob es sich bei Hochstapelei um ein explizites
Phänomen von
Transformationsgesellschaften handle oder ob sie nur als solches
scheine, weil
hier der Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen liege, wurde im
Anschluss
diskutiert und begleitete den weiteren Tagungsverlauf.
Ein Spannungsfeld zwischen ministerialer Kontrolle,
bürokratischen Grenzen und
„individueller Titelsucht“ leuchtete OLGA SPARSCHUH (München)
mit ihrem Vortrag
über zahnärztliche Doktortitel im Deutschen Kaiserreich aus.
Anhand von Akten
der Kultusministerien zeigte sie, dass Bildungsnachweise in der
Migration
häufig ihre Referenzwerte verloren, was den Schwindel und Handel
mit in- und
ausländischen Abschlüssen befeuerte. Zahnärztliche Doktortitel
seien in
Deutschland vor 1919 nicht vergeben worden und damit nur im
Ausland (durch
Studium oder Einkauf) zu erlangen gewesen. Die Konjunktur der
„Titelschwindel“
habe verschiedene Reaktionen des Staates ausgelöst, wobei in
hohem Maße
Informationen über ausländische Institute und deren Seriosität
gesammelt worden
seien. Ihre transnationale Dimension, ihre kollektive Bedeutung
für eine ganze
Berufsgruppe und ihre Einmaligkeit (ein einmal erworbener Titel
musste in der
Regel nicht bestätigt werden) verleihe dieser Form der
Hochstapelei ihre
Besonderheit.
Die Karriere des Devendra Nath Bannerjea, der sich in den
1920er-Jahren als
angeblicher Professor aus Kalkutta in die Arbeit des
Internationalen Komitees
für Geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes einbrachte, nahm
MARIA FRAMKE
(Erfurt) zum Anlass, nach der Bedeutung von Netzwerken für
(erfolgreiche)
Hochstapelei zu fragen. Bannerjea, der eine universitäre
Laufbahn fingiert und
verschiedene akademische Titel zu tragen vorgegeben hatte, sei
insbesondere
nach seiner Enttarnung von einem klug aufgebauten, prominent
besetzten Netzwerk
gestützt worden und habe seine Karriere deshalb in Deutschland
fortsetzen
können. Der Vortrag arbeitete die Gewichtigkeit von Beziehungen
und
Empfehlungsschreiben im Kontext vorgetäuschter Expertise heraus
und betonte
geringe Kommunikationsgeschwindigkeiten als begünstigenden
Faktor
internationaler Hochstaplerbiographien.
Hochstaplerische Praxis und ihre Rezeption auf Seiten von
Polizei, Justiz und
Öffentlichkeit diskutierte PAUL FRANKE (Berlin). Am Beispiel von
Max
Kiesewetter und Martin Berzewske, die als „Dr. Schulz“ und „Dr.
Schmitt“
verhaftet wurden, skizzierte er die Folgen eines Düsseldorfer
Kunstdiebstahls. In
der Bewertung des „moralischen Charakters“ der beiden gefassten
Hochstapler,
die zwischen „Abenteuer-Naturen“ und Verbrechern changierte,
habe innerhalb der
Justiz Uneinigkeit bestanden. Der Begriff des Hochstaplers habe
im Laufe der
1920er-Jahre eine Bedeutungsverschiebung vom „Schwindler“ zum
„gewissenlosen
Kriminellen“ erfahren. Damit lenkte der Vortrag die
Aufmerksamkeit auf einen
grundlegenden Wandel der moralischen Beurteilung von
Hochstapelei, in dessen
Verlauf die kriminologische Kategorie des „Berufsverbrechers“
konstruiert und
hochstaplerische Praktiken zum Stigma eines „bösartigen
Charakters“ erhoben
worden seien.
Am Beispiel der Finanzbetrügerinnen Adele Spitzeder und Damara
Bertges testete
LAETITIA LENEL (Berlin) Kategorien von Hinterbühne, Vorderbühne,
Kontext,
Aufdeckung und Öffentlichkeit. Sie belegte, dass der
Finanzbetrug als soziale
Praxis in beiden Fällen auf täuschende Interaktionen von
Hochstapler:innen
aufgebaut habe, es sich bei dem Phänomen gewissermaßen um eine
hochstaplerische
„Gemeinschaftsleistung“ innerhalb von Netzwerken handle.
Hochstapelei
interpretierte sie dabei als Indikator für „Verteilungskonflikte
ökonomischen
Kapitals“ und hob den Kontext der Krise hervor, der
finanzbetrügerische
Aktivitäten in Umbruchsgesellschaften begünstige. Anschließend
wurden das Motiv
der „Kränkung“ für Betrügende und Betrogene sowie die Rolle von
„Vertrauen“ und
„Erwartung“ in hochstaplerischen Interaktionen diskutiert.
Schließlich referierte FLORIAN VÖLKER (Potsdam) über die
Pop-Gruppe „Milli
Vanilli“ und deren Produzenten Frank Farian, der zwei Models als
falsche Sänger
engagiert hatte. Der Vortrag skizzierte einen Betrug, der durch
ein Netz aus
absoluter Kontrolle, Erpressung und Ausnutzung vonseiten des
Produzenten
aufrechterhalten wurde. Er lenkte den Blick auf die Höherwertung
körperlicher
Inszenierung gegenüber Authentizität innerhalb der Musik- und
Unterhaltungsindustrie und diskutierte die Grenzen zwischen
Betrug, Hochstapelei
und branchenüblichen Praktiken. Einigkeit bestand in der
anschließenden
Diskussion über den erkenntnistheoretischen Mehrwert, den
postkoloniale
Perspektiven auf diesen Fall bieten könnten.
Zwei von spannenden Vorträgen, intensiven Diskussionen und einem
instruktiven
Podiumsgespräch mit der Autorin ANETT KOLLMANN, STEPHAN POROMBKA
(Berlin) und
dem Autor WIELAND SCHWANEBECK begleitete Tage zeigten, dass die
Erforschung der
Geschichte der Hochstapelei noch zahlreiche Fragen und
Anknüpfungspunkte
bietet, die mit der Schärfung der Begrifflichkeit beginnen. Die
Tagung
verdeutlichte, dass Hochstapler:innen nicht nur als Akteure
untersucht, sondern
auch als Perspektive für die Erforschung historischer Phänomene
nutzbar gemacht
werden können. Fragen der Periodisierung, der Räumlichkeit und
Transnationalität, der Psychologisierung und Pathologisierung,
der
Körperlichkeit und des Geschlechts, der Medialisierung sowie der
Interpretation
hochstaplerischer Aktivitäten zwischen anthropologischer
Grundkonstante und
transformationsgesellschaftlichem Phänomen wurden diskutiert und
regen zu
weiterer Forschung an.
Konferenzübersicht
Jürgen Danyel (Potsdam): Begrüßung
Tobias Becker (Berlin) / Michael Homberg (Potsdam) / Thomas
Werneke (Berlin):
Einleitung: Hochstapelei: Zur Kulturgeschichte der Täuschung
Sektion I: Grenzenlose Hochstapelei? Von Hauptmännern,
Propheten und
„Indianern“
Moderation: Rüdiger Graf (Potsdam)
Hanno Hochmuth (Potsdam): Von der Langen Straße nach Luxemburg:
Die Wege des
Hauptmanns von Köpenick
Stephanie Coché (Gießen): Religiöses Phänomen oder
Scharlatanerie? Diskurse um
Mary Baker Eddy und Aimee McPherson in den USA und in
Deutschland
Martin Deuerlein (Tübingen): Häuptlinge & Plastikschamanen:
„Falsche
Indianer“ im Europa der 1920er und 1970er Jahre
Sektion II: Brüchige Biographien: Erfindung und Erzählung
Moderation: Martin Schaad (Potsdam)
Klara Löffler (Wien): Erfinde Dich neu! Hochstapeleien aus Sicht
einer
praxeologischen (Auto-)Biographieforschung
Inga Klein (Hamburg): Retrospektive Inszenierungen.
Autobiographische Stimmen
im Diskurs über Hochstapelei seit den 1980er Jahren
Sektion III: Republik der Hochstapler? Betrug und
Betrugswahrnehmung in der
Weimarer Republik
Moderation: Rüdiger Graf (Potsdam)
Tobias Becker (Berlin): Auf der Straße, im Gefängnis und im
Kino: Harry Domelas
Ort(e) in der Weimarer Republik
Henning Holsten (Berlin): Hochstapler-Magneten. Die Hohenzollern
nach ihrer
Entmachtung
Sektion IV: „Deutsche Karrieren“: Hochstapelei im und nach
dem
Nationalsozialismus
Moderation: Franka Maubach (Berlin)
Till Knobloch (Chapel Hill): Hochstapler Hitler – Über Täuschung
als Prinzip
der NS-Außenpolitik
Michael Homberg (Potsdam) und Thomas Werneke (Berlin): Von
„U-Boot-Fahrern“ und
„Emporkömmlingen“. Deutsch-deutsche Nachkriegskarrieren und das
Politikum um
den „Hauptmann von Köln“ in den 1950er Jahren
Maximilian Kutzner (Würzburg): Ich, der Führer. Konrad Kujau und
die
gefälschten Hitler-Tagebücher
Sektion V: Gefälschte Expertisen: (Ein-)Bildung und
Wissenschaft
Moderation: Franka Maubach (Berlin)
Olga Sparschuh (München): „Titelschwindel“ im Kaiserreich.
Zahnärztliche
Doktortitel zwischen Bewertungsdifferenzen und Betrug
Maria Framke (Erfurt): Was macht den Experten authentisch?
Devendra Nath
Bannerjea, antiimperialer Aktivismus und das internationale
Komitee für
Geistige Zusammenarbeit, 1922-1925
Sektion VI: Die Ökonomie des Hochstapelns: Märkte und Meriten
Moderation: Jürgen Danyel (Potsdam)
Paul Franke (Berlin): Kleopatra und die Abenteuernaturen – die
Hochstaplerbiographien von Max Kiesewetter und Martin Berzewske
(1924-1931) in
praxeologischer Analyse
Laetitia Lenel (Berlin): Die Währung des Vertrauens:
Finanzbetrüger:innen von
Adele Spitzeder bis Bernard Madoff
Florian Völker (Potsdam): „Girl you know it’s true”? Zu Milli
Vanilli, Frank
Farian und der Frage, wer eigentlich wen betrogen hat
Öffentliche Abendveranstaltung: Podiumsdiskussion
Annett Kollmann (Berlin) / Stephan Porombka (Berlin) / Wieland
Schwanebeck
Zitation
Attila Philipp Saadaoui, Tagungsbericht: Hochstapelei: Zur
Kulturgeschichte
der Täuschung im 20. Jahrhundert, In: H-Soz-Kult,
30.11.2023, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-140130>.