Die St. Wendeler Wählerlisten von 1919 als
Quelle zur weiblichen
Sozialgeschichte
von Andrea Recktenwald, Stadtarchiv St. Wendel.
Beim Thema „Wahlen und Demokratie“ fallen sofort die Grundsätze
einer
demokratischen Wahl ins Gedächtnis. Allgemein, unmittelbar, frei,
gleich und
geheim sind die Voraussetzungen einer Wahl in diesem Sinne. Vor
allem das Prinzip
der Allgemeinheit, das heute die Partizipation aller Bürgerinnen
und Bürger ab dem
18. Lebensjahr in Deutschland und Europa ermöglicht, trägt
maßgeblich zu diesem
demokratischen Prozess bei. Bis vor hundert Jahren war aber ein
großer Teil der
Bevölkerung in Deutschland nicht zur Stimmabgabe berechtigt. Erst
nach dem
ersten Weltkrieg konnten Frauen bei der Wahl zur
verfassunggebenden Nationalversammlung
zum ersten Mal teilnehmen und auch selbst gewählt werden. [Daneben
wurde das
Wahlrecht auch auf Soldaten und alle ab dem 20. Lebensjahr
erweitert]
In St. Wendel sind keine Hinweise dafür auszumachen, dass Frauen
aktiv für ihr
Wahlrecht eingetreten wären. Jedoch begannen sie sich 1918 im
Verein
katholischer erwerbstätiger Frauen und Mädchen und dem Verein der
weiblichen
kaufmännischen Angestellten und Beamtinnen beruflich zu
organisieren.
Für wissenschaftliche und private Nutzer des Stadtarchivs St.
Wendel hat diese
Erweiterung der Stimmberechtigten heute noch einen weiteren Wert.
Enthält doch
eine Akte (D 1.76) Wählerlisten zu verschiedenen Wahlen in den
1910er Jahren. 1919
fanden in der Stadt sowohl die Wahlen zur deutschen
Nationalversammlung als
auch zur preußischen Landesversammlung statt. Zu den Stimmbezirken
I und II
sind Listen vollständig erhalten. Unterlagen zum Wahlbezirk III
sind leider
nicht mehr vorhanden.
Betrug der Personenkreis bei der Reichstagswahl 1912 noch 1459
Bürger, stieg
dieser 1919 schon im I. und II. Bezirk zusammen auf 3052 Stimmen.
Darunter
waren jeweils etwas mehr als die Hälfte weiblich. Die
Einwohnerzahl umfasste laut
Versorgungsstatistik ca. 7872 Personen.
Informationen zur Person, wie Alter, Stand und Wohnort, sind mit
verzeichnet
und lassen jeden Einzelnen greifbar erscheinen. Die Stellung der
Frau innerhalb
der Haus- und Arbeitsgemeinschaft lässt sich in den Listen vor
allem aus ihrem
Stand ablesen und soll hier kurz vorgestellt werden.
Im Stimmbezirk I haben mehr als die Hälfte (458) der Frauen den
Stand als
Ehefrau. Es folgen die ohne Stand oder Gewerbe (147), von denen
die meisten
unverheiratete Töchter sind, was sich aus der
Familienzusammensetzung ergibt. Die
größte Gruppe unter den Berufen stellt die Anstellung als
Dienstmagd (67) dar.
Daneben gibt es eine größere Anzahl von Näherinnen (12) und zwei
Modistinnen.
Von der regen Handelstätigkeit in der Bahnhof- und Brühlstraße
zeugen die zahlreichen
Verkäuferinnen, Bürogehilfinnen und Kontoristinnen. Die Spanne der
Beschäftigungen von Frauen reicht von Köchinnen, Arbeiterinnen,
Lehrerinnen, zwei
Geschäftsinhaberinnen, einer Filialleiterin, einer Buchhändlerin
bis zu einer
Medizinstudentin.
Im Stimmbezirk II stellen ebenfalls die Ehefrauen (402), Frauen
ohne Stand
(167) und Dienstmägde (67) die größten Gruppen. Seit zehn Jahren
existiert an
der Marienstraße das Marienkrankenhaus der Franziskanerinnen mit
Schwestern und
Pfründnerinnen, die jetzt ebenfalls wahlberechtigt sind. Genauso
wie die St.
Wendeler Lehrerinnen, von denen einige in der
Maria-Magdalenenkapelle wohnen, die
zeitweise als Schule dient. Insgesamt zählt der Bezirk 16
Pädagoginnen, was
wohl dem Lehrermangel nach dem Krieg geschuldet ist. Auch hier
entdeckt man
eine Anzahl Näherinnen (17) und weitere fünf Modistinnen. In den
Tabakfabriken
und dem Eisenbahnausbesserungswerk finden Frauen Anstellung als
Arbeiterinnen.
Ahnenforscher erhalten durch die Aufstellung einen Einblick in die
Wohn- und
Berufssituation ihrer Vorfahren zu einem bestimmten Zeitpunkt und
können sich
somit eine bessere Vorstellung ihres Lebens in der Stadt machen.
Für Sozial-
und Wirtschaftshistoriker ergeben sich aufschlussreiche
Anhaltspunkte zur sozialen
Zusammensetzung der Stadt und ein erweiterter Blick auf das
Gewerbe.
Die Wählerlisten erweitern somit den Blick auf einen größeren Teil
der Gesellschaft,
was die Geschichte der Stadt vollständiger macht, und lassen ein
heterogeneres
Bild der Frauen der Zeit erkennen.
Quelle im Stadtarchiv St. Wendel:
„D 1.76 Reichstagswahl 1912, Wahl zur verfassungsgebenden
deutschen Nationalversammlung
1919
1911 - 1913, 1918 - 1923. – 325 pag.
2 lose Kladden pag. 156 ff.; 235 ff.
Enth. u. a.: Verfügungen, Verordnungen, u. a. betr. Wahlordnungen,
Wahlbezirke
etc.; Wahlbezirke Stadt St. Wendel 1912, pag. 49;
Nahe-Blies-Zeitung Nr. 147 v.
14. Dezember 1911, pag. 54: Wahlkreise im Regierungsbezirk Trier;
Wählerlisten;
Wahlergebnisse, u. a. Neunkircher Zeitung v. 17. Januar 1912, pag.
82:
Ergebnisse Reichstagswahl Ottweiler, St. Wendel, Meisenheim;
Wahlen zur
verfassungsgebenden dt. Nationalversammlung 1918/19:
Durchführung/Wahlrecht,
Wählerlisten, Ergebnisse; Wählerlisten St. Wendel zur preuß.
Landesversammlung
1919, pag. 156; Prospekte für Wahlurnen“
aus: „Unsere Archive“ Nr. 66/2021 aus Rheinland-Pfalz und dem
Saarland
downloadbar:
https://www.compgen.de/2021/10/unsere-archive-nr-66-2021-aus-rheinland-pfalz-und-dem-saarland/
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