Sir William Siemens 1823–1888. Eine Biographie
Autor Wolfgang König
Erschienen München 2020: C.H.
Beck Verlag
Anzahl Seiten 320 S.
Preis € 29,95
ISBN 978-3-406-75133-2
Rezensiert für H-Soz-Kult von Nils Havemann,
Abteilung
Neuere Geschichte, Historisches Institut, Universität Stuttgart
Lange Zeit neigten Biografien über bekannte Unternehmer dazu,
deren Handlungen
und Entscheidungen zu legitimieren und ihnen eine klare
Zielgerichtetheit
zuzuschreiben. Sie erzählten von genialen Erfindern, die durch
einen
Geistesblitz eine neue technische Idee entwickelten, sie
entschlossen im
eigenen Unternehmen umsetzten und schließlich in Form von
attraktiven Produkten
erfolgreich vermarkteten. Daher herrschte über viele Jahrzehnte –
nicht zuletzt
unter dem Einfluss der Unternehmen selbst, welche die Entstehung
solcher
Biografien über ihre Finanzierung häufig inhaltlich zu lenken
versuchten – das
Narrativ von Persönlichkeiten vor, die durch Wagemut,
Geradlinigkeit und
Durchsetzungskraft ein weltumspannendes Firmenimperium aufzubauen
vermochten.[1]
Mittlerweile haben neue methodische Ansätze, mit denen nicht nur
der
individuelle Lebenslauf, sondern auch das volks- und
betriebswirtschaftliche
Umfeld sowie das geistig-kulturelle Milieu stärker untersucht
werden, zu
weitaus differenzierteren Betrachtungen geführt.[2] Längst ist dadurch ins
Bewusstsein
gedrungen, dass bei vielen bekannten Unternehmern der Grat
zwischen Erfolg und
Scheitern ziemlich schmal und von gewaltigen Rückschlägen
gekennzeichnet war,
die sie durch eigene Fehlentscheidungen zu verantworten hatten.
Dass diese
Abkehr von hagiografischen Darstellungen dem Respekt vor der
Lebensleistung
einzelner Unternehmer keinen Abbruch tun muss, belegt die
vorliegende Studie
von Wolfgang König über Wilhelm Siemens, mit der nach Werner von
Siemens[3] und Carl von Siemens[4] nun auch der dritte Bruder
aus der
Gründergeneration des heutigen Großkonzerns eine angemessene
Biografie erhalten
hat.
Anfangs deutete wenig darauf hin, dass das 1823 geborene siebte
von 14 Kindern
zusammen mit seinen Brüdern die Entstehung eines
Industrieunternehmens
vorantreiben würde, das bereits Ende des 19. Jahrhunderts weit
über Europa
hinaus agierte. Aufgewachsen nahe Lübeck in der Familie eines
Gutspächters, die
zwar großen Wert auf Bildung legte, aber mit wirtschaftlichen
Problemen zu
kämpfen hatte, verließ er bereits mit 15 Jahren die Schule. Unter
dem Einfluss
und mit Unterstützung seines älteren Bruders Werner gelang es ihm,
sich trotz
seiner fehlenden Gymnasialbildung an der Universität Göttingen
innerhalb von
rund zehn Monaten ein naturwissenschaftliches Grundlagenwissen
anzueignen. In
einer Maschinenfabrik in Magdeburg erhielt er innerhalb von rund
zwei Jahren
den Feinschliff, den er für die erwünschte Laufbahn eines
Ingenieurs benötigte.
Im Jahr 1843, im Alter von 20 Jahren, reiste Wilhelm nach England,
um ein von
Werner entwickeltes galvanotechnisches Verfahren zu vermarkten.
Wenngleich ihm
dies gelang, mündeten seine weiteren Bemühungen, Erfindungen
gewinnbringend zu
verkaufen, zunächst in einem finanziellen Fiasko. Dennoch
entschied er sich
dazu, in England zu bleiben, wahrscheinlich weil er sich am
Vorabend der
europäischen Revolutionsbewegung in der konstitutionellen
Monarchie des
Inselreiches wohler fühlte als im obrigkeitsstaatlichen Preußen.
Unter
bisweilen prekären Bedingungen verdingte er sich bei verschiedenen
englischen
Unternehmen, in denen „William“ zu einem kenntnisreichen Ingenieur
heranreifte.
Erst in den 1850er-Jahren wendete sich allmählich das Blatt, als
er in seiner
„geschäftliche[n] Doppelexistenz“ (S. 34) – freier Erfinder in
einem eigenen
Ingenieurbüro und Leiter des englischen Zweigs der 1847 in Berlin
gegründeten
Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske – zu reüssieren
begann.
Das Kapitel, in dem König beschreibt, wie sich William Siemens in
England um
Aufträge für die Verlegung von Telegrafenlinien bemüht, ist das
spannendste des
Buches. In ihm spielt der Autor seine technischen Kenntnisse aus,
die es ihm
ermöglichen, die komplexen Bedingungen, unter denen die Welt
allmählich
verkabelt wurde, bis in die physikalischen Einzelheiten hinein
derart klar
darzustellen, dass selbst der Laie sie verstanden zu haben glaubt.
Überdies
schildert König auch diesen Teil der Biografie, die 1865 zur
Gründung der
Siemens Brothers and Company Limited als englische Filiale des
deutschen
Unternehmens führte, als einen von Fehleinschätzungen und
innerfamiliären
Konflikten begleiteten Prozess, der durchaus mit einem Scheitern
der
unternehmerischen Expansionsbemühungen hätte enden können.
Dieser chronologischen Erzählung des Lebensweges folgt ein
systematischer Teil,
der sich unter anderem mit Aspekten seiner Eingliederung in die
englische
Gesellschaft und seiner Erhebung in den Adelsstand, mit seinen
technischen
Innovationen wie zum Beispiel im Bereich der Stahlerzeugung
(„Siemens-Martin-Prozess“)
und seinen wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Diesen
Kapiteln ist wie der
gesamten Biografie anzumerken, dass sie keine ausgefeilte
wissenschaftliche
Qualifikationsschrift ist. Die Unbefangenheit, mit der König ohne
nähere
Definitionen etwa Begriffe wie „Netzwerk“ oder
„Familienunternehmen“ verwendet,
die Schnörkellosigkeit der Einleitung und des nicht einmal zwei
Seiten
umfassenden Fazits sowie die reichhaltige Bebilderung offenbaren
das Ziel
dieser Biografie: Das Buch soll möglichst viele Menschen auch
außerhalb der
Geschichtswissenschaft erreichen.
Es ist zu hoffen, dass dieses Kalkül aufgeht, denn König hat nicht
zuletzt
wegen des Verzichts auf ausufernde theoretische Ausführungen eine
farbige, gut
lesbare Studie vorgelegt, in der das Bild der biografierten Person
durch die
Berücksichtigung ihrer Misserfolge an Schärfe gewinnt. Auch das
der langen
Geschichte des heutigen Siemenskonzerns wird dadurch um eine
wichtige Facette
bereichert.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu schon Klaus
Kunkel (Hrsg.), Vom
Hofbericht zur Pop-Broschüre. Über Firmenfestschriften,
Unternehmerbiographien
und Selbstdarstellungen, Köln 1971. Einen Streifzug durch solche
älteren unternehmerischen
(Selbst-)Darstellungen unternimmt u.a. Susanne Knabe,
Firmenjubiläen.
Geschichtsbewusstsein deutscher Unternehmen 1846 bis 1997, Inaug.
Diss.,
München 2004. Zum Widerspruch von unabhängiger Forschung und
finanzieller
Abhängigkeit des Historikers in diesem Bereich vgl. jüngst Teresa
Brandt,
Paradoxien der Unternehmensgeschichtsschreibung. Wissenschaftliche
Arbeit
zwischen Berufshabitus und sozialer Abhängigkeit, Bielefeld 2021.
[2] Zu den verschiedenen
theoretischen Ansätzen,
Biografien von Unternehmern zu erforschen, vgl. Werner Plumpe,
Unternehmer –
Fakten und Fiktionen. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Unternehmer –
Fakten und
Fiktionen. Historisch-biographische Studien, München 2014, S.
1–26.
Beispielhaft dafür, wie sich das Urteil über einzelne Unternehmer
durch neue
methodische Zugriffe versachlichen kann, sei genannt die Studie
von Christian
Marx, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines
deutschen
Großunternehmens, Göttingen 2013.
[3] Johannes Bähr, Werner von
Siemens 1816–1892.
Eine Biografie, München 2016.
[4] Martin Lutz, Carl von Siemens
1829–1906. Ein
Leben zwischen Familie und Weltfirma, München 2013.
Zitation
Nils Havemann: Rezension zu: König, Wolfgang:
Sir William
Siemens 1823–1888. Eine Biographie. München 2020. ISBN 978-3-406-75133-2, In: H-Soz-Kult,
08.10.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29392>.