Allied Internment Camps in Occupied Germany.
Extrajudicial
Detention in the Name of Denazification, 1945–1950
Autor(en) Beattie, Andrew H.
Erschienen Cambridge 2020: Cambridge
University Press
Anzahl Seiten XII, 248 S.
Preis £ 75.00
ISBN 978-1-108-48763-4
Sprache: Englisch
Rezensiert für H-Soz-Kult von Julia
Franziska Landau, Gedenkstätte Buchenwald
Ein „Stiefkind der Forschung“ nannte Lutz Niethammer 1998 die
Geschichte
alliierter Internierungslager nach dem Sieg über Nazi-Deutschland.
Zwar liegen
Studien für einzelne Besatzungszonen und Lager vor, es fehle
insbesondere der
systematische Vergleich der alliierten Internierungspolitik und
-praxis.[1] Diesen Vergleich zieht nun
der Historiker
Andrew H. Beattie (Sydney) in einem konsistent argumentierenden
Band. Er
vergleicht nicht nur die Internierungspolitik der Alliierten in
Deutschland,
sondern bezieht die alliierte Politik in Österreich mit ein. Dabei
räumt er mit
einigen allzu bequemen Annahmen und Fehlinterpretationen der
bisherigen Forschung
auf. Drei analytische Unschärfen stellt er auf den Prüfstand:
Zum Ersten werde auch jenseits des Kalten Kriegs die sowjetische
Politik häufig
„exotisiert“. Der sowjetischen werde das ahistorische Bild einer
idealtypischen
„westlichen Politik“ gegenübergestellt, ohne beide in ihre
historischen – hier
interalliierten – Zusammenhänge einzuordnen. Zum Zweiten
problematisiert
Beattie Unschärfen in der Verwendung des Begriffs
„Entnazifizierung“: Dieser
umfasse zum einen aus der Gegenwart an die Vergangenheit
gerichtete Erwartungen
an eine allgemeine Entfernung nationalsozialistischer Strukturen
aus der
Gesellschaft, zum anderen konkrete Maßnahmen der Alliierten zur
politischen
Säuberung. Aus dem engeren Verständnis des Begriffs
„Entnazifizierung“ jedoch, das
sich vor allem auf die Prozeduren der Spruchkammern oder
Spruchgerichte, die
Entlassungen, Fragebögen etc. konzentriert habe, falle die
Internierung
weitgehend heraus. Dieser eng gefasste Entnazifizierungsbegriff
habe wiederum
zu der Fehlannahme geführt, dass Internierungen per se nichts mit
der
Entfernung des Nationalsozialismus aus der deutschen Gesellschaft
zu tun gehabt
hätten – ein Argument, das in Bezug auf die sowjetischen
Speziallager besonders
hervorgehoben worden sei.
Die dritte von Beattie kritisierte Unschärfe betrifft die
Internierungspolitik
selbst: Da die Internierung meist in einen direkten und
ursächlichen Bezug mit
der Verfolgung und Verurteilung von NS-Verbrechen gesetzt werde,
würden ihre
eigentlichen Ziele verdeckt: Internierung nach dem Zweiten
Weltkrieg lasse
sich, so Beattie, primär als eine präventive Maßnahme der
Alliierten verstehen,
die durch die Neutralisierung potentiell gefährlicher
Personengruppen die
Sicherheit der Besatzungstruppen gewährleisten sollte. Dieser
Befund durchzieht
gleichsam als „cantus firmus“ das gesamte Buch. Weitere gemeinsame
Ziele kämen
hinzu: die Rekrutierung von Arbeitskräften (ein Anliegen nicht nur
von
sowjetischer, sondern auch von britischer und französischer
Seite), politischer
Gesellschaftsumbau (ebenfalls von allen Alliierten in
unterschiedlicher Weise
mit der Internierung verbunden), Entnazifizierung (im weiteren
Sinne) und die
Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen.
Alle diese mit der Internierung verbundenen Ziele seien von den
Alliierten lange
vor Ende des Zweiten Weltkriegs diskutiert worden. Dabei sei die
Internierung
in erster Linie als eine eigenständige, sicherheitspolitische
Maßnahme
verstanden worden, wie Beattie in den Quellen zur European
Advisory Commission
oder der Alliierten Kontrollkommission nachweist. Diese
Gemeinsamkeiten seien
bislang vernachlässigt worden. Gleichzeitig bestätigt Beattie die
großen
Unterschiede in der Internierungspraxis, die sich vor allem im
Laufe des Jahres
1946 immer deutlicher abzeichneten: in der Versorgung mit
Nahrungsmitteln und
Medizin, der Gewährung von Kontakten mit der Außenwelt, den
Versuchen der
Umerziehung und der Vorbereitung auf ein Leben in Freiheit. Die
sowjetischen
Lager hoben sich auf drastische Weise von den übrigen
Internierungslagern ab:
Den Insassen blieb jeglicher Kontakt mit der Außenwelt versagt,
sie litten
unter Beschäftigungslosigkeit und hatten keine Möglichkeit, sich
zu äußern oder
zu verteidigen. Sie wurden nur unzureichend ernährt und
medizinisch versorgt,
die Sterblichkeit war erschreckend hoch (zwischen 25 und 33
Prozent).
Wer wurde interniert und für wie lange? Beattie trägt akribisch
die bislang
zugänglichen Zahlen zusammen und bestätigt die bisher bekannte
Größenordnung
von über 400.000 Menschen; in allen Zonen waren dies zu zwei
Dritteln Männer
zwischen 40 und 60 Jahren. In den Westzonen dauerte die
Internierung häufig
länger als angenommen, so befanden sich im August 1947 noch 44.000
Menschen in
amerikanischer Internierung. Der größte Teil der ca. 280.000
Internierten in den
Westzonen wurde bis Ende 1948 entlassen. In der sowjetischen
Besatzungszone mit
insgesamt etwa 130.000 internierten Deutschen wurden im Sommer
1948 etwa 28.000
Personen entlassen, 43.000 verstarben in Haft, 15.000 blieben bis
1950 und
14.000 darüber hinaus in Haft. Im Hinblick auf den internierten
Personenkreis
widerspricht Beattie Annahmen, die auch in Überblicksdarstellungen
zur
deutschen Geschichte genannt werden: Etwa, dass in sowjetischen
Lagern
überdurchschnittlich viele Fabrikbesitzer und Bürgerliche einsaßen
(nein, nur
etwa 2 Prozent, bei 30 Prozent Arbeitern) oder „more Social
Democrats than Nazi
leaders“[2] – dies gelte nur, wenn man
unter „Nazi
leaders“ ausschließlich Funktionäre der Gau- und Reichsebene
verstünde (S.
118). Die Westmächte hätten sich keineswegs nur auf die
„Kerntruppen des
Dritten Reichs“ konzentriert und überwiegend SS-Mitglieder
interniert (S.
132f.; etwa ein Drittel bis ein Viertel). In allen Zonen seien
mehr
Parteifunktionäre der unteren als der oberen Ebene interniert
worden, was auch
der pyramidalen Struktur der NSDAP entsprach.
Beattie diskutiert umfänglich die umstrittene Frage nach der
Belastung der
Internierten: Es seien, so Beattie, die ursprünglich geltenden
Kriterien der
Alliierten anzuwenden, die im Nürnberger Prozess alle Ränge der SS
sowie alle
politischen Leiter der NSDAP, einschließlich der Block- und
Zellenleiter, in
die Anklage aufgenommen, im Urteilsspruch vom Oktober 1946
allerdings die
lokalen Funktionäre unterhalb der Ebene der Ortsgruppenleiter
ausgeschlossen
hatten. Die unteren, unbezahlten Funktionäre hätten jedoch als das
„Fundament
der Diktatur“ zu gelten – so Carl-Wilhelm Reibel 2002 in seiner
Studie zu den
NSDAP-Ortsgruppen: In den lokalen NSDAP-Stellen wurden
Haushaltungskarteien
geführt, Denunziationen angenommen und weitergeleitet, die
Verfolgung deutscher
Juden und politischer Gegner umgesetzt, „Fremdarbeiter“ überwacht
und Menschen
für den „Volkssturm“ rekrutiert.[3] Diese letzte Funktion
erscheint auch im
Kontext einer sicherheitspolitisch motivierten Internierung
relevant. Die
sowjetische Besatzungsmacht – mit der Bedeutung lokaler
Parteistrukturen aus
eigener Praxis vertraut – schätzte die unteren Parteifunktionäre
als gefährlich
ein und internierte sie in großer Zahl. Da es in der sowjetischen
Zone keine
Entlassungsstrategie gab, resultierte aus diesem Faktum eine
doppelte Tragik:
Diese Gruppe wäre zum großen Teil in den Westzonen nicht
interniert worden – in
der SBZ überlebte fast jeder Zweite aus dieser Gruppe die Haft
nicht.
In weiten Teilen liest sich Beatties Buch als kritischer Kommentar
zu jüngeren
Darstellungen der Geschichte sowjetischer Speziallager.[4] Anders als dort behauptet,
seien die
Internierten zu ihrer NS-Vergangenheit befragt und entsprechend
kategorisiert
worden; es seien Akten angelegt und viele Internierte an
sowjetische oder
deutsche Gerichten übergeben worden – auch wenn hier keinesfalls
von fairen
Verfahren die Rede sein kann (S. 91f.).[5] Es sei zwar richtig, dass
über
Entlassungen aus sowjetischen Lagern danach entschieden wurde, ob
die
Internierten eine Gefahr für die Sicherheit der Besatzungsmächte
darstellten,
aber die westlichen Besatzungsmächte hätten sich angesichts eines
grundsätzlichen Misstrauens gegenüber den Deutschen die gleiche
Frage gestellt.
Internierung sei Beattie zufolge nicht als Untersuchungshaft für
potentielle
Kriegsverbrecher zu verstehen, sondern eine im Kontext des
Kriegsendes präventiv
gedachte Absicherung der Besatzungsherrschaft aller Alliierten.
Bei der
Betonung interalliierter Gemeinsamkeiten geraten jedoch manchmal
die
Besonderheiten aus dem Blick, etwa in der Parallelisierung der
Legal Branch der
britischen Militärregierung, ab April 1946 zuständig für britische
Internierungslager, mit dem sowjetischen Innenministerium MWD und
dessen
Unterabteilung Gulag, zuständig für die sowjetischen Speziallager
ab 1948 (S.
159).
Dies ist ein notwendiges Buch, das Gemeinsamkeiten und
Unterschiede
gesamtalliierter Internierungspolitik auf einer breiten
Quellenbasis nüchtern
und gründlich herausarbeitet und eine sachliche Grundlage schafft,
auf der
weiter zu forschen ist: über die in der Kriegs- und Nachkriegszeit
entstandene
Kooperation der Alliierten in Fragen der Internierung und bei der
Verurteilung
von NS-Verbrechen wie auch über die Grenzen dieser Kooperation.
Wenn die
sowjetischen Lager begrifflich als „stalinistische
Internierungslager“ am
besten zu fassen und von den westalliierten Internierungslagern
nicht zu
trennen, aber doch zu unterscheiden sind, so bleibt ihr
unmenschlicher
Charakter doch weiterhin konkret zu benennen. Eine breite
Wahrnehmung in der
deutschen Öffentlichkeit – auch mittels einer deutschen
Übersetzung – ist dem
Buch zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Lutz Niethammer, Alliierte
Internierungslager in Deutschland seit 1945. Vergleich und offene
Fragen, in:
Sergej Mironenko u.a. (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in
Deutschland, Bd. 1:
Studien und Berichte, Berlin 1998, S. 97–116; zuletzt zur
amerikanischen
Besatzungszone: Kathrin Meyer, Entnazifizierung von Frauen. Die
Internierungslager in der US-Zone Deutschlands 1945–1952, Berlin
2004.
[2] Stefan-Ludwig Hoffmann,
Germany Is No More.
Defeat, Occupation, and the Postwar Order, in: Helmut Walser Smith
(Hrsg.), The
Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 602.
[3] Carl-Wilhelm Reibel, Das
Fundament der
Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932–1945, Paderborn 2002.
[4] Bettina Greiner, Verdrängter
Terror.
Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in
Deutschland, Hamburg
2010 [englische Ausgabe: Suppressed Terror. History and Perception
of Soviet
Special Camps in Germany, Lanham 2014]; Ulrich Merten, The Gulag
in East
Germany. Soviet Special Camps, 1945–1950, Amherst 2018. Zu
Letzterem finden
sich auch zahlreiche Richtigstellungen der aufgeführten
Zahlenangaben.
[5] Siehe auch Andreas Weigelt
u.a. (Hrsg.), Todesurteile
sowjetischer Militärtribunale gegen Deutsche (1944–1947). Eine
historisch-biographische Studie, Göttingen 2015.
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