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2012/02/20 15:55:48
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Unterrichtsreise in die Vergangenheit
Datum 2012/02/20 20:39:37
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[Regionalforum-Saar] Missionare, Heilige und die Christianisierung Europas
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[Regionalforum-Saar] Die Mathematik im Mittelalter
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[Regionalforum-Saar] Unterrichtsreise in die Vergangenheit
Autor 2012/02/20 20:39:37
Rolgeiger
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[Regionalforum-Saar] Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit

Date: 2012/02/20 20:38:54
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Zwierlein, Cornel: Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit
zwischen Früher Neuzeit und Moderne (= Umwelt und Gesellschaft 3).
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. ISBN 978-3-525-31708-2; 433 S.;
EUR 49,95.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Peter Borscheid, Seminar für Wirtschafts- und Sozialgeschichte,
Philipps-Universität Marburg
E-Mail: <borscheid(a)... Zwierlein, Juniorprofessor für Umweltgeschichte an der
Ruhr-Universität Bochum, versteht seine Habilitationsschrift nicht als
eine Institutionengeschichte der frühen Feuerversicherung in Deutschland
und England, obwohl er umfangreiche und zum Teil bisher unbekannte
Quellen zu den Anfängen der von absolutistischen Landesherren und
Stadtoberen sowie privaten Unternehmern gegründeten Gesellschaften
präsentiert. Ausgehend von den zahlreichen und oftmals katastrophalen
Stadtbränden der Frühen Neuzeit zeigt er vielmehr, wie Sicherheit in der
Zeit um 1680/1700 zu einem zentralen Thema wurde, wie bisher als Unglück
hingenommene Ereignisse, denen die Menschen mehr oder minder mit
hängenden Armen begegneten, fortan der Sicherheitsproduktion unterlagen.
Dabei veränderte sich in einem ersten Schritt das Bewusstsein bzw. die
Einstellung gegenüber den Unglücksfällen, ehe der Aufbau entsprechender
Institutionen begann.

Die Versicherungsgeschichte hat die Epochenschwelle bisher vorwiegend an
der Lebensversicherung und der 1765 gegründeten englischen Equitable
Life festgemacht, die bei ihrer Prämiengestaltung als Erste auf der
Wahrscheinlichkeitsrechnung und Sterbetafeln aufbaute und mit ihrer
Rechenhaftigkeit einen bis dahin nie gewagten Blick in die Zukunft
ermöglichte. Cornel Zwierlein sieht den Wendepunkt bereits an der Wende
zum 18. Jahrhundert, wobei er der schon lange praktizierten
frühneuzeitlichen Seeversicherung die "Zukunftsausrichtung" abspricht
und sie lediglich als "Buchungstrick" im Rahmen der doppelten
Buchführung interpretiert. Davon unterscheide sich die Versicherung des
18. Jahrhunderts, da sie sich nicht mehr nur auf die maritimen Gefahren
beziehe und zudem die Gestaltung der Zukunft im Blick habe. Dieser
Epochenschwelle vorausgegangen war in West- und Mitteleuropa eine sich
langsam verändernde Einstellung zu Katastrophen, in denen Juristen und
andere Wissenschaftler immer öfter Ausnahmen von der Regel sahen und
immer lauter Vorsorge und Sicherheit als Lebensgrundlage und Normalität
einforderten.

Diesen Wandel belegt der Autor mit einer Vielzahl von Beispielen aus
ganz unterschiedlichen Lebensbereichen. So reflektierten die
Veränderungen in den bildlichen Darstellungen von Stadtbränden sowie die
Reaktion darauf in Predigten und literarischen Texten diesen
Mentalitätswandel ebenso wie die vermehrten Sicherheitsinnovationen, die
realisiert wurden. Parallel dazu erfolgte eine Weiterentwicklung des
Rechts, indem Juristen das Konzept der "höheren Gewalt" und des
"Zufalls", das die Haftung begrenzte oder ganz ausschloss, aufweichten.
Vor allem Leibniz bezeichnete es als unbillig und unproduktiv für den
Staat, wenn der von einem Unglück Betroffene mit seinem Schaden allein
gelassen werde. Der Staat müsse vielmehr im eigenen Interesse seine
Bevölkerung zu einer Solidaritätsgemeinschaft zusammenführen, wobei die
Schadenhilfe mittels einer Versicherung dazu diene, die Geschädigten
wieder zu vollwertigen und leistungsfähigen Mitgliedern der Gemeinschaft
zu machen. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts sorgte zudem die
Verwissenschaftlichung der Brandvorsorge und -bekämpfung, wozu bereits
vorher in der Praxis manche Neuerung entwickelt und getestet worden war,
über die neuen Medien für eine weite Verbreitung dieses Wissens. Die
schnell wachsenden Hafen- und Residenzstädte wie London oder Hamburg
sowie Preußen übernahmen als Laboratorien dieser Innovationskultur die
Führung bei der Anwendung solchen Wissens. Sie setzten auf die
Versicherung, zumal diese der "Financial Revolution", welche der
"Industriellen Revolution" voranging, zu größerer Stabilität verhalf. Da
sich der vorindustrielle Finanzmarkt vorwiegend über den bebauten
Grundbesitz absicherte, konnte dessen Wert mit Hilfe der Versicherung
stabilisiert werden, wodurch er wiederum eine höhere Sicherheit für die
Kreditvergabe bot.

Festzumachen ist die Epochenschwelle schließlich an der Gründung
neuartiger Feuerversicherungen. Zwei Modelle setzten sich durch: das
britische Modell, das auf Handels- und Aktiengesellschaften beruhte,
sowie das mitteleuropäische Modell, das die Prämienversicherung mit
Staatlichkeit verknüpfte. Das 1681 in London als Aktiengesellschaft
gegründete erste Fire Office unterschied von Beginn an zwei
Risikoklassen und arbeitete mit Prämien und nicht mit nachträglichen
Umlagen. Gleichwohl dauerte es noch rund 150 Jahre, bis die
Feuerversicherungsgesellschaften über eine verlässliche statistische
Kalkulationsgrundlage verfügten. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts
ermittelten die Versicherungspraktiker in der Feuer- wie in der
Seeversicherung die Höhe der Prämien weiterhin nach groben
Erfahrungswerten.

Cornel Zwierlein geht schließlich der Frage nach, warum die
Epochenschwelle in Nordeuropa stattfand, obwohl Südeuropa bis dahin die
größere Erfahrung mit dem Versichern hatte. Zwar vermag er zur
Beantwortung dieser Frage nur Teilerklärungen zu liefern, gleichwohl
bleibt festzuhalten, dass der katholische Süden auf Unglücksfälle und
Katastrophen weiterhin mit nachträglichen karitativen Kollekten
antwortete, wohingegen der Norden vorsorgend neuartige
Sicherheitsinstitutionen einsetzte, die im calvinistischen Kulturraum
privatwirtschaftlich und im lutherischen Kulturraum staatswirtschaftlich
organisiert waren und die Bürger zur Eigenvorsorge verpflichteten. Im
Gegensatz zum Süden setzte der Norden nicht mehr länger auf die
Barmherzigkeit der Mitmenschen, sondern definierte Solidarität völlig
neu, nämlich als allgemeine Pflicht, einer Feuerversicherung
beizutreten. Damit einher ging, wie der Autor dies nennt, eine
"Transformation von Gefahren- in Risikogemeinschaften", das heißt, die
vielen Nachbarschaftsbeziehungen wurden aufgebrochen und die Bevölkerung
einer ganzen Provinz in eine einzige Risikogemeinschaft beordert.
Gleichzeitig erfolgte im Zuge der zunehmenden Verbreitung von
Druckmedien eine Ausweitung der Solidarität. Stadtbrände oder
Katastrophen wie das große Erdbeben von Lissabon weckten fortan die
Hilfsbereitschaft weit über die Grenzen eines Landes hinaus.

Dies alles arbeitet der Autor auf einer außerordentlich breiten
Quellengrundlage Schritt für Schritt und letztlich sehr überzeugend
heraus. Es ist bewundernswert, wie er die Veränderungen im Recht oder in
den bildlichen Darstellungen, die der Epochenschwelle vorausgingen,
äußerst kenntnisreich analysiert und welche Fülle an Schriften, die sich
auf das Versicherungswesen bezogen, er ausfindig machen konnte. Er
präsentiert sehr überzeugend die unterschiedlichen Impulsgeber, welche
zur Entstehung der privatwirtschaftlichen und der staatlichen
Feuerversicherung beitrugen. Schließlich ist es ihm auch gelungen, die
verschiedenen Entwicklungspfade miteinander zu verknüpfen. Das alles
macht den eigentlichen Wert dieser Studie aus.

Gleichwohl sind einige Schwächen nicht zu übersehen. Der erste betrifft
den Stil. Aus fast jedem Satz ist das Bemühen des Autors herauszulesen,
das Geschehen mit einer neuen Wortbildung oder einem Fremdwort zu
umschreiben. Einfache und klare Aussagen wären hier weitaus
überzeugender und angebrachter gewesen. Zweitens konnte er der
Versuchung nicht widerstehen, die vielen, zum Teil noch von niemandem
gesichteten und ausgewerteten Quellen, die ihm in die Hand kamen, in
möglichst großem Umfang in seine Untersuchung einzubringen. Dies führt
dazu, dass er nicht selten von seiner zentralen Fragestellung abweicht,
dem Leser zwar interessante Quellen vorlegt, die jedoch bisweilen nichts
oder sehr wenig zur Beantwortung seiner Fragestellung beitragen.
Drittens gehört das Schlusskapitel über die "Globalisierung von
Sicherheitsregimen" nicht in dieses Buch. Die Ausbreitung der
Versicherung über Nord- und Westeuropa hinaus bzw. die Auslandstätigkeit
von europäischen Versicherungsunternehmen ist eine Geschichte des 19.
und 20. Jahrhunderts und folgte anderen Gesetzen als die Entstehung der
modernen Versicherung an der Epochenschwelle 1680/1700. Es ist richtig,
dass die europäischen Versicherer im Ausland zunächst nur Europäer und
Menschen europäischer Abstammung versicherten und nur langsam die
dortigen Risiken kennenlernten, doch betrifft dies ein ganz anderes
Thema.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Niels Grüne <ngruene(a)...