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2010/04/13 17:41:17
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Buchvorstellung »Sehnsucht nach Sibirien<<
Datum 2010/04/13 23:09:51
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[Regionalforum-Saar] REGIONALGESCHICHTE IN EUROP ÄISCHER PERSPEKTIVE
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Autor 2010/04/13 23:09:51
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[Regionalforum-Saar] REGIONALGESCHICHTE IN EUROP ÄISCHER PERSPEKTIVE

[Regionalforum-Saar] Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert.

Date: 2010/04/13 22:42:23
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

From:    Eva-Maria Lerche <eva.maria.lerche(a)...   14.04.2010
Subject: Rez. NG: R. Habermas: Diebe vor Gericht
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Habermas, Rebekka: Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2008.
ISBN 978-3-593-38774-1; geb.; 412 S.; EUR 34,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Eva-Maria Lerche, Kompetenzzentrum Schreiben, Universität Paderborn
E-Mail: <eva.maria.lerche(a)... dem Begriff "Doing Recht" bezeichnet Rebekka Habermas das permanente Aushandeln von Recht, das im Mittelpunkt ihrer Studie über Diebstahlsprozesse in Kurhessen im 19. Jahrhundert steht. Ihr Interesse gilt den teils subtilen Veränderungen in der Rechtspraxis und dem Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren, Normen und Institutionen infolge der Rechtsreformen nach 1848. Sie zeigt, wie neue Konzepte von Recht und Eigentum von Prozess zu Prozess neu verhandelt, verfeinert und verfestigt wurden. Hierfür zeichnet sie den Weg vom Diebstahl über die Anzeige, die Voruntersuchung und die Gerichtsverhandlung bis zur Reaktion der Presse auf die Prozesse nach. Den Blick lenkt sie dabei insbesondere auf die Voruntersuchung, in der bereits zentrale Entscheidungen für den Prozessverlauf gefällt wurden. Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bilden die Akten von Diebstahlsprozessen aus dem Obergerichtsbezirk Marburg in der Mitte und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei das Buch weit über eine Regionalstudie hinausgeht.

 

Im ersten von drei Teilen geht Rebekka Habermas der Frage nach, wer die Diebe und ihre Opfer waren und in welchem sozialen Kontext sie sich bewegten. Dabei sucht sie, in Abgrenzung zu den Studien von Dirk Blasius, auch nach neuen Erklärungen für die Zunahme der Diebstahlsanzeigen im 19. Jahrhundert. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Diebstähle in den untersuchten Fällen im Schwerpunkt von jungen ledigen Männern im Alter von 20 bis 30 Jahren verübt wurden, die ihren Lebensunterhalt in einer Notbehelfsökonomie besorgten und dabei auf eine Vielzahl von Erwerbsmöglichkeiten ebenso wie auf familiäre Unterstützungssysteme zurückgriffen. Überraschend ist dabei, dass sich Täter und Opfer in den angezeigten Fällen meist kannten, aus demselben Dorf oder zumindest derselben Gegend stammten und auffallend oft derselben Gesellschaftsschicht zuzurechnen waren. Hier stellt Habermas die These auf, dass Diebstahl und insbesondere Diebstahlsanzeigen nicht auf ökonomischer Not beruhten, sondern aus sich verschärfenden sozialen Spannungen innerhalb der ländlichen Unterschichten resultierten. Gestohlen wurden im Wesentlichen Alltagsgegenstände, die - so die etwas zu pauschale Sichtweise von Habermas - einen nur geringen materiellen Wert aufwiesen. Dass solche Entwendungen dennoch in eine Anzeige mündeten, führt Habermas auf die hohe emotionale, soziale und symbolische Bedeutung der gestohlenen Dinge zurück. Bei den angestrengten Strafverfahren sei es den Opfern weniger um die Wiederherstellung ihres Eigentums gegangen, als vielmehr um die Wahrung ihrer sozialen Position sowie um Fragen der persönlichen Ehre. Dabei weist Habermas einen direkten Zusammenhang zwischen der sinkenden Zahl von Beleidigungsklagen und der Zunahme der Diebstahlsanzeigen nach.

 

In der Voruntersuchung, die Rebekka Habermas detailliert im zweiten Teil des Buches untersucht, kam allerdings Fragen der sozialen Beziehung zwischen Dieb und Opfer ebenso wie einer emotionalen oder symbolischen Ebene der entwendeten Dinge keine Bedeutung mehr zu. Vielmehr wurde die Diebstahlsanzeige während der Voruntersuchung auf die nackte Frage des Eigentums reduziert. Dabei zeigt Habermas, welche grundlegenden Veränderungen die Wahrheitsproduktion in dieser Prozessphase erfuhr, ohne dass es im Bereich der Voruntersuchung nennenswerte gesetzliche Reformen gegeben hätte. So wurden zahlreiche neue Formen der Beweisproduktion eingeführt, die durch eine enge Verschränkung von Rechtswissenschaft, Statistik und Kriminologie einen wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch erhalten sollten. Die Beweisproduktion, angefangen bei Leumundszeugnissen und Signalements über Tatortskizzen und Hausdurchsuchungsprotokolle bis hin zu gutachterlichen Stellungnahmen und Verhörprotokollen von Tätern und Opfern, folgte dabei dem immer gleichen Prinzip der Dekontextualisierung, Entsubjektivierung und Quantifizierung. Die Verdächtigen wurden ebenso wie das Diebesgut einem "juristischen Säurebad" (S. 146) ausgesetzt, um das Diebstahlsdelikt von jeglichen Fragen der sozialen Beziehungsnetze zwischen Tätern und Opfern sowie der Bedeutungen der geraubten Dinge jenseits des materiellen Wertes zu lösen. Übrig blieb eine Reduktion des Vergehens auf die Fragen, ob der Verdächtige den Diebstahl begangen habe, welchen exakten Wert die gestohlenen Dinge hatten und wer genau der Eigentümer dieser Dinge war. Besondere Bedeutung kam dabei den Verhörprotokollen zu, in denen stets eine "komplexe Realität in ein spezifisches Deutungsschema" (S. 152) überführt wurde. Auf diese Weise erfuhr allerdings nicht nur die Rechtspraxis eine Veränderung. Ebenso wurde auf diesem Weg von Prozess zu Prozess ein neuer, absoluter Eigentumsbegriff festgeschrieben, der immer konkretere Gestalt annahm. Fragen der Ehre, der Beziehungen und der emotionalen und symbolischen Bedeutungen der Dinge wurden hingegen zum Verschwinden gebracht.

 

Der Einrichtung von Schwurgerichten und der Einführung der öffentlichen Verhandlung als Folge der Rechtsreformen nach 1848 wird gemeinhin eine große Bedeutung für die Entwicklung der Rechtsordnung zugesprochen. Rebekka Habermas stellt diese Relevanz jedoch im dritten Teil des Buches infrage bzw. ordnet sie in einen neuen Kontext ein. Sie zeigt, dass die Schwurgerichte - vor denen ohnehin nur besonders schwere Diebstahlsfälle verhandelt wurden - nicht dem Volk, sondern nur den Männern des Bürgertums zu einer stärkeren Präsenz im Gericht verhalfen. Ebenso weist sie nach, dass die öffentliche Gerichtsverhandlung lediglich als der Ort inszeniert wurde, an dem exklusiv Recht gefunden und durch die öffentliche Kontrolle des Publikums legitimiert wurde. Zum einen wurde die öffentliche Verhandlung durch die Voruntersuchung und die so genannte abschließende Zusammenstellung in weiten Teilen vorstrukturiert. Hierdurch war nicht erst die Verhandlung, sondern bereits die Voruntersuchung ein bedeutender Ort der Rechtsaushandlung. Zum anderen verhielten sich Zeugen, Richter und vor allem das Publikum in der Praxis nicht entsprechend der für sie vorgesehenen Rollen. Hierzu zählt, dass beispielsweise die Zeugen zu spät oder gar nicht vor Gericht erschienen und so den betont ritualisierten Charakter der Verhandlung unterminierten. Die Richter wiederum urteilten trotz der scheinbar eindeutigen und strukturierenden Voruntersuchungen extrem uneinheitlich und sprachen damit dem Gerechtigkeits- und Gleichheitsanspruch der neuen Rechtsordnung Hohn. Als wichtigsten Punkt schließlich führt Rebekka Habermas an, dass das Publikum und vor allem die Presse eine Diebstahlsverhandlung keinesfalls auf eine Frage des Eigentums beschränkten, sondern vielmehr das Gericht als einen Ort darstellten, an dem sehr wohl Alltagsprobleme und soziale Beziehungen verhandelt wurden. Aus dieser Diskrepanz zwischen dem Bemühen, den Diebstahl auf das juristisch Wesentliche zu reduzieren, und dem hierzu entgegengesetzten Verhalten der Öffentlichkeit entwickelte sich eine unvorhergesehene Dynamik, die erneut Veränderungen der Rechtspraxis bewirkte.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der erste Teil des Buches nur eingeschränkt dem Anspruch gerecht wird, die Lebenswelt der Diebe und ihrer Opfer darzustellen. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse bleiben recht vage. Vor allem aber werden die gestohlenen Dinge ungeprüft als materiell wertlos bezeichnet, ohne sie näher im Kontext einer Notbehelfsökonomie zu beleuchten. Die These, dass die Zunahme der Diebstahlsanzeigen im 19. Jahrhundert darauf zurückzuführen sei, dass es den Opfern auch um Fragen der Ehre und der sozialen Position gegangen sei, wirkt zwar zunächst schlüssig. Allerdings bleibt Rebekka Habermas hier eine überzeugende Antwort auf die Frage schuldig, warum die emotionale und symbolische Bedeutung der gestohlenen Dinge die Antriebsfeder für Diebstahlsanzeigen war, wenn zugleich in den Verfahren selbst eben diese Bedeutungen vollständig zum Verschwinden gebracht wurden. Besondere Beachtung verdienen hingegen der zweite und dritte Teil der klar strukturierten und verständlich geschriebenen Studie. Hier überzeugt Habermas mit ihrem differenzierten Blick auf die vielen Facetten der Praxis der Rechtsentwicklung jenseits der normativen Quellen. Zentral für die Forschung ist insbesondere, dass sie die Voruntersuchung als den Ort herausarbeitet, an dem Recht ausgehandelt und ein moderner absoluter Eigentumsbegriff verfestigt wurde.


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Ewald Frie <ewald.frie(a)... zur Zitation dieses Beitrages
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