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2010/04/13 17:41:17 Rolgeiger [Regionalforum-Saar] Buchvorstellung »Sehnsucht nach Sibirien<< |
Datum | 2010/04/13 23:09:51 Rolgeiger [Regionalforum-Saar] REGIONALGESCHICHTE IN EUROP ÄISCHER PERSPEKTIVE |
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2010/04/25 16:41:39 Rolgeiger [Regionalforum-Saar] Die Wiligartaburg, das „ Alte Schloss“ bei Wilgartswiesen |
Betreff | 2010/04/30 08:10:33 Rolgeiger [Regionalforum-Saar] ein Vortrag in Phoenix, Arizona |
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2010/04/13 17:41:17 Rolgeiger [Regionalforum-Saar] Buchvorstellung »Sehnsucht nach Sibirien<< |
Autor | 2010/04/13 23:09:51 Rolgeiger [Regionalforum-Saar] REGIONALGESCHICHTE IN EUROP ÄISCHER PERSPEKTIVE |
Date: 2010/04/13 22:42:23
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...
From: Eva-Maria Lerche
<eva.maria.lerche(a)...
14.04.2010 Im ersten von drei Teilen geht Rebekka
Habermas der Frage nach, wer die Diebe und ihre Opfer waren und in welchem
sozialen Kontext sie sich bewegten. Dabei sucht sie, in Abgrenzung zu den
Studien von Dirk Blasius, auch nach neuen Erklärungen für die Zunahme der
Diebstahlsanzeigen im 19. Jahrhundert. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die
Diebstähle in den untersuchten Fällen im Schwerpunkt von jungen ledigen Männern
im Alter von 20 bis 30 Jahren verübt wurden, die ihren Lebensunterhalt in einer
Notbehelfsökonomie besorgten und dabei auf eine Vielzahl von
Erwerbsmöglichkeiten ebenso wie auf familiäre Unterstützungssysteme
zurückgriffen. Überraschend ist dabei, dass sich Täter und Opfer in den
angezeigten Fällen meist kannten, aus demselben Dorf oder zumindest derselben
Gegend stammten und auffallend oft derselben Gesellschaftsschicht zuzurechnen
waren. Hier stellt Habermas die These auf, dass Diebstahl und insbesondere
Diebstahlsanzeigen nicht auf ökonomischer Not beruhten, sondern aus sich
verschärfenden sozialen Spannungen innerhalb der ländlichen Unterschichten
resultierten. Gestohlen wurden im Wesentlichen Alltagsgegenstände, die - so die
etwas zu pauschale Sichtweise von Habermas - einen nur geringen materiellen Wert
aufwiesen. Dass solche Entwendungen dennoch in eine Anzeige mündeten, führt
Habermas auf die hohe emotionale, soziale und symbolische Bedeutung der
gestohlenen Dinge zurück. Bei den angestrengten Strafverfahren sei es den Opfern
weniger um die Wiederherstellung ihres Eigentums gegangen, als vielmehr um die
Wahrung ihrer sozialen Position sowie um Fragen der persönlichen Ehre. Dabei
weist Habermas einen direkten Zusammenhang zwischen der sinkenden Zahl von
Beleidigungsklagen und der Zunahme der Diebstahlsanzeigen
nach. In der Voruntersuchung, die Rebekka
Habermas detailliert im zweiten Teil des Buches untersucht, kam allerdings
Fragen der sozialen Beziehung zwischen Dieb und Opfer ebenso wie einer
emotionalen oder symbolischen Ebene der entwendeten Dinge keine Bedeutung mehr
zu. Vielmehr wurde die Diebstahlsanzeige während der Voruntersuchung auf die
nackte Frage des Eigentums reduziert. Dabei zeigt Habermas, welche grundlegenden
Veränderungen die Wahrheitsproduktion in dieser Prozessphase erfuhr, ohne dass
es im Bereich der Voruntersuchung nennenswerte gesetzliche Reformen gegeben
hätte. So wurden zahlreiche neue Formen der Beweisproduktion eingeführt, die
durch eine enge Verschränkung von Rechtswissenschaft, Statistik und Kriminologie
einen wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch erhalten sollten. Die
Beweisproduktion, angefangen bei Leumundszeugnissen und Signalements über
Tatortskizzen und Hausdurchsuchungsprotokolle bis hin zu gutachterlichen
Stellungnahmen und Verhörprotokollen von Tätern und Opfern, folgte dabei dem
immer gleichen Prinzip der Dekontextualisierung, Entsubjektivierung und
Quantifizierung. Die Verdächtigen wurden ebenso wie das Diebesgut einem
"juristischen Säurebad" (S. 146) ausgesetzt, um das Diebstahlsdelikt von
jeglichen Fragen der sozialen Beziehungsnetze zwischen Tätern und Opfern sowie
der Bedeutungen der geraubten Dinge jenseits des materiellen Wertes zu lösen.
Übrig blieb eine Reduktion des Vergehens auf die Fragen, ob der Verdächtige den
Diebstahl begangen habe, welchen exakten Wert die gestohlenen Dinge hatten und
wer genau der Eigentümer dieser Dinge war. Besondere Bedeutung kam dabei den
Verhörprotokollen zu, in denen stets eine "komplexe Realität in ein spezifisches
Deutungsschema" (S. 152) überführt wurde. Auf diese Weise erfuhr allerdings
nicht nur die Rechtspraxis eine Veränderung. Ebenso wurde auf diesem Weg von
Prozess zu Prozess ein neuer, absoluter Eigentumsbegriff festgeschrieben, der
immer konkretere Gestalt annahm. Fragen der Ehre, der Beziehungen und der
emotionalen und symbolischen Bedeutungen der Dinge wurden hingegen zum
Verschwinden gebracht. Der Einrichtung von Schwurgerichten und
der Einführung der öffentlichen Verhandlung als Folge der Rechtsreformen nach
1848 wird gemeinhin eine große Bedeutung für die Entwicklung der Rechtsordnung
zugesprochen. Rebekka Habermas stellt diese Relevanz jedoch im dritten Teil des
Buches infrage bzw. ordnet sie in einen neuen Kontext ein. Sie zeigt, dass die
Schwurgerichte - vor denen ohnehin nur besonders schwere Diebstahlsfälle
verhandelt wurden - nicht dem Volk, sondern nur den Männern des Bürgertums zu
einer stärkeren Präsenz im Gericht verhalfen. Ebenso weist sie nach, dass die
öffentliche Gerichtsverhandlung lediglich als der Ort inszeniert wurde, an dem
exklusiv Recht gefunden und durch die öffentliche Kontrolle des Publikums
legitimiert wurde. Zum einen wurde die öffentliche Verhandlung durch die
Voruntersuchung und die so genannte abschließende Zusammenstellung in weiten
Teilen vorstrukturiert. Hierdurch war nicht erst die Verhandlung, sondern
bereits die Voruntersuchung ein bedeutender Ort der Rechtsaushandlung. Zum
anderen verhielten sich Zeugen, Richter und vor allem das Publikum in der Praxis
nicht entsprechend der für sie vorgesehenen Rollen. Hierzu zählt, dass
beispielsweise die Zeugen zu spät oder gar nicht vor Gericht erschienen und so
den betont ritualisierten Charakter der Verhandlung unterminierten. Die Richter
wiederum urteilten trotz der scheinbar eindeutigen und strukturierenden
Voruntersuchungen extrem uneinheitlich und sprachen damit dem Gerechtigkeits-
und Gleichheitsanspruch der neuen Rechtsordnung Hohn. Als wichtigsten Punkt
schließlich führt Rebekka Habermas an, dass das Publikum und vor allem die
Presse eine Diebstahlsverhandlung keinesfalls auf eine Frage des Eigentums
beschränkten, sondern vielmehr das Gericht als einen Ort darstellten, an dem
sehr wohl Alltagsprobleme und soziale Beziehungen verhandelt wurden. Aus dieser
Diskrepanz zwischen dem Bemühen, den Diebstahl auf das juristisch Wesentliche zu
reduzieren, und dem hierzu entgegengesetzten Verhalten der Öffentlichkeit
entwickelte sich eine unvorhergesehene Dynamik, die erneut Veränderungen der
Rechtspraxis bewirkte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
der erste Teil des Buches nur eingeschränkt dem Anspruch gerecht wird, die
Lebenswelt der Diebe und ihrer Opfer darzustellen. Die sozialen und ökonomischen
Verhältnisse bleiben recht vage. Vor allem aber werden die gestohlenen Dinge
ungeprüft als materiell wertlos bezeichnet, ohne sie näher im Kontext einer
Notbehelfsökonomie zu beleuchten. Die These, dass die Zunahme der
Diebstahlsanzeigen im 19. Jahrhundert darauf zurückzuführen sei, dass es den
Opfern auch um Fragen der Ehre und der sozialen Position gegangen sei, wirkt
zwar zunächst schlüssig. Allerdings bleibt Rebekka Habermas hier eine
überzeugende Antwort auf die Frage schuldig, warum die emotionale und
symbolische Bedeutung der gestohlenen Dinge die Antriebsfeder für
Diebstahlsanzeigen war, wenn zugleich in den Verfahren selbst eben diese
Bedeutungen vollständig zum Verschwinden gebracht wurden. Besondere Beachtung
verdienen hingegen der zweite und dritte Teil der klar strukturierten und
verständlich geschriebenen Studie. Hier überzeugt Habermas mit ihrem
differenzierten Blick auf die vielen Facetten der Praxis der Rechtsentwicklung
jenseits der normativen Quellen. Zentral für die Forschung ist insbesondere,
dass sie die Voruntersuchung als den Ort herausarbeitet, an dem Recht
ausgehandelt und ein moderner absoluter Eigentumsbegriff verfestigt
wurde. |