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2023/06/25 18:33:49 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Roland Paul ist gestern gestorben |
Datum | 2023/06/27 09:43:49 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] transmortale XII – Neue Fo rschungen zu Sterben, Tod und Trauer |
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2023/06/16 13:40:07 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Änderung: "Franz von Sick ingen" statt "Taufpaten" |
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2023/06/25 18:33:49 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Roland Paul ist gestern gestorben |
Autor | 2023/06/27 09:43:49 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] transmortale XII – Neue Fo rschungen zu Sterben, Tod und Trauer |
Date: 2023/06/27 09:36:54
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...
“Ein
vordringlich
europäisches Problem”. Umweltverschmutzung und saarländische
Umweltdebatte im
deutsch-französischen Grenzgebiet 1945 bis in die 1960er Jahre
von Kaesler, Jonas
Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische
Landesgeschichte
Erschienen Saarbrücken 2022: Kommission
für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung e.V.
Anzahl Seiten 452 S.
Preis € 39,00
ISBN 978-3-939150-16-9
Rezensiert für H-Soz-Kult von Armin Heinen,
Historisches
Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Beeindruckend ist die Quellenbasis, die Jonas Kaesler zu den
französisch-saarländischen Umweltkonflikten Ende der 1950er-,
Anfang der
1960er-Jahre ausgewertet hat: Material aus dem Französischen
Nationalarchiv hat
er eingesehen, Departementsunterlagen, Unternehmensarchive,
einschlägige
Quellenbestände des Landesarchivs Saarbrücken, dazu
Privatarchive. Wir erfahren
von den Anfängen der Umweltverschmutzung im Saarland bereits
Ende des 19.
Jahrhunderts. Schon damals erwiesen sich die industriellen
Umweltbelastungen
entlang der Saar als kaum beherrschbar – wegen der Grenze zu
Lothringen und
damit den verwaltungstechnischen Sonderheiten der Region, obwohl
das Deutsche
Reich sich die Provinz doch einverleibt hatte. Der Erste
Weltkrieg und seine
Folgen verhinderten selbstbewusste staatliche Interventionen.
Jedenfalls
unterblieben erfolgreiche Eingrenzungen der Umweltschädigungen,
obwohl es
technische Lösungen gab. Stattdessen lag der Fokus auf einem
modus vivendi. Die
Rossel wurde zum Industriefluss erklärt, vergleichbar der
Emscher im
Ruhrgebiet. Und so blieb es bis nach dem Zweiten Weltkrieg.
Mehr als 200 Seiten umfasst die ausführliche Vorgeschichte des
referierten
Bandes, bis der Autor sich seinem eigentlichen Thema zuwendet,
dem Wirken der Notgemeinschaft
Kleinblittersdorf und dem Aufbegehren der Interessengemeinschaft
der
HBL-Geschädigten (die Abkürzung bezeichnete die Houillères du
Bassin de
Lorraine, also die Kohlebergwerke des grenzüberschreitenden
Lothringer
Reviers). Die erste Gruppe wandte sich gegen die
Luftverschmutzung durch ein
fehlerhaft geplantes Kohlekraftwerk westlich der Saargrenze. Die
zweite Gruppe
opponierte gegen die regelmäßigen Überschwemmungen der Rossel,
ausgelöst durch
die Verschmutzung des Flüsschens mit Schlamm und Abwässern im
lothringischen
Industriegebiet. Zuvor wird der Leser vertraut gemacht mit der
Geschichte des
Kohlebergbaus im Saarland seit dem 18. Jahrhundert und mit den
politischen
Gegebenheiten, also vor allem dem Sonderstatus des Saarraums,
1918–1935 und
1945–1956. Die Ausnutzung der saarländischen Warndtkohle durch
die HBL wird
ausführlich thematisiert und damit das politische Leitthema der
Studie
angerissen, nämlich die von französischer Seite zu
verantwortende
Umweltbelastung als typisches Kolonialverhalten. Freilich,
darüber ließe sich
lange diskutieren, denn seit 1957/59 ging es nicht mehr um ein
teilautonomes,
wirtschaftlich eng mit Frankreich verflochtenes Gebiet, sondern
um die
Interessen des „deutschen“ Nachbarstaates. Im Übrigen
unterschied sich die
paternalistische Politik der HBL kaum von der saarländischer
Unternehmen:
Ferienheime in fernen, naturverwöhnten (französischen) Gebieten
sollten die
Gesundheit und den Lebensmut der eigenen Belegschaft stärken,
eine produktive
Auszeit vom täglichen Industriealltag sicherstellen, nur dass
vergleichsweise
wenige Saarländer als HBL-Mitarbeiter einen Vorteil davon
hatten.
Auf Seite 217 wird es schließlich ernst. Hier beginnt der Autor
seine
eigentliche Erzählung mit dem Bau des HBL-Kraftwerks in
Grosbliederstroff,
unmittelbar an der Grenze zum Saarland. Geplant war eine
Quadratur des Kreises:
eine ökonomisch attraktive Verwendung der
nicht-kommerzialisierbaren
Kohlenqualitäten, eine Stärkung der Energiebasis für Lothringen,
eine
nachholende Industrialisierung für Frankreich insgesamt. Selbst
an Rußfilter
dachte man und an Schornsteine. Aber was schließlich realisiert
wurde, genügte
technisch bei Weitem nicht den Anforderungen, mit Folgen sowohl
auf
französischer Seite als auch auf saarländischer: Die Filter
waren viel zu klein
geplant und funktionierten zudem nicht richtig. Es gab zwar
Schornsteine, aber
die waren „zu niedrig geraten“. „Die HBL“ reagierten mit:
„Schweigen,
Abstreiten, wissenschaftlichen Expertisen,
Entschädigungsangeboten“, jedenfalls
auf französischer Seite, im lothringischen Raum also. Es folgten
Investitionen
in neue Technik und höhere Schornsteine. Dies war der gewohnte
Verlauf, wie er
sich spätestens im 19. Jahrhundert ausgebildet hatte. Aber mit
dem
Volksentscheid von 1955 hatte sich das Saarland gegen eine
Fortführung der
Wirtschaftsunion mit Frankreich entschlossen, hatte eine
Mehrheit den
politischen Anschluss an Deutschland unterstützt. Die auf
saarländischer Seite
Betroffenen fühlten sich in dieser Situation ohnmächtig, denn
sie hatten keinen
verlässlichen Zugriff mehr auf die französischen
Verantwortlichen und das
französische Rechtssystem. So setzten sie auf die
bundesrepublikanische
Öffentlichkeit, auf direkten Kontakt zu den Landesbehörden, auch
auf Hilfen aus
Bonn. Die HBL zeigte ihren guten Willen, beauftragte eine
deutsche Firma mit
der Nachrüstung des Kohlekraftwerkes. Auch die Schornsteine
wurden erhöht, was
zwar keine Verringerung der Schadstoffbelastung brachte, aber
eine stärkere
Verdünnung der Emissionen in der Luft. Später erhielt die
Gemeinde
Kleinblittersdorf noch einen nennenswerten Zuschuss von 600.000
DM für ein
neues Freischwimmbad. Im Gegenzug löste sich die
Kleinblittersdorfer
Notgemeinschaft auf.
Als „vorökologisch“ hat Jens Ivo Engels die 1950er- und
1960er-Jahre
charakterisiert, geprägt durch Naturschützer und oligarchisch
geführte
Interessenverbände, welche sich für den Erhalt ihres Lebensraums
und den Schutz
ihres Eigentums einsetzten.[1] Da der Darmstädter
Umwelthistoriker auch
die Proteste in Kleinblittersdorf untersucht hat, blieb Jonas
Kaesler für seine
eigene Arbeit nicht viel Spielraum. Anders als Engels richtet er
seinen Blick
denn auch weniger auf die Protestformen denn vor allem auf die
handelnden
Akteure selbst, im Falle Kleinblittersdorfs vor allem auf die
Funktion des
Bürgermeisters Karl Brettar für die Strukturierung der
Auseinandersetzung. In
der Folge entwickelt der Verfasser ganz unterschiedliche
Erzählstränge,
einerseits eine Erzählung von den HBL, typisiert als
Unternehmen. Hier
interessieren die HBL als Aggregatgröße, als kollektiver Akteur.
Auf der
anderen Seite stehen die Initiativen einzelner Saarländer mit
ihren
differierenden Strategien, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, Geld
für Kampagnen
einzuwerben, politische Allianzen herzustellen. Letzteres fiel
dem gut
vernetzten Kleinblittersdorfer Bürgermeister trotz allem schwer,
weil jegliche
Politisierung des deutsch-französischen Verhältnisses die
beginnende Aussöhnung
erschweren musste.
Ganz ähnliche Erfahrungen machten auch die von der Verschmutzung
der Rossel
Betroffenen: „Schweigen, Abstreiten, wissenschaftliche
Expertisen,
Entschädigungsangebote“ vonseiten der HBL, schließlich
technische Innovationen.
Die konnten zwar die Umweltverschmutzung nicht gänzlich
zurückdrängen, aber
eindämmen. Im Hintergrund standen politische
Nachbarschaftsverhandlungen
zwischen Deutschland und Frankreich und vor allem neue,
strengere
Umweltbestimmungen in Frankreich selbst. Die nachholende
Industrialisierung des
Landes provozierte auch eine verspätete Gesetzgebung zur
Bändigung der
industriellen Umweltschäden. Doch darüber erfahren wir leider
nur wenig.
Insgesamt liegt eine die Sachverhalte umfassend beschreibende
Studie zu den
saarländischen Umweltgrenzkonflikten Ende der 1950er-, Anfang
der 1960er-Jahre
vor. Der regionalgeschichtliche Fokus dominiert, wenn auch der
Autor die
einschlägigen umweltgeschichtlichen Studien zu Deutschland und
Frankreich zur
Kenntnis genommen hat. Was fehlt, ist ein klarer roter Faden,
denn Jonas Kaesler
greift viele Fäden auf. Auch wäre etwas mehr redaktionelle
Sorgfalt
erforderlich gewesen. So findet der Leser zwei verschiedene
Titelvarianten:
„... bis in die 1960er-Jahre“ (Hardcoverumschlag), “... bis in
die siebziger
Jahre“ (Titelseite). Immer wieder fehlen zwischen einzelnen
Worten Leerzeichen,
wie überhaupt der Eindruck entsteht, dass es bei der Umsetzung
der
Computervorlage manche Probleme gegeben hat. Das
Literaturverzeichnis ließe
sich übrigens auch leicht erweitern. Doch wer sich für die
Geschichte des
Saarlandes und die umweltgeschichtliche Verflechtung des Raums
mit Lothringen
interessiert, wer mehr wissen will über die Politisierung der
lothringisch-saarländischen Umweltkonflikte vom 19. bis Mitte
des 20.
Jahrhunderts, wird in Jonas Kaeslers Studie zahlreiche
anschauliche
Erläuterungen finden.
Anmerkung:
[1] Jens Ivo Engels,
Naturpolitik in der
Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in
Naturschutz und
Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006.
Zitation
Armin Heinen: Rezension zu: Kaesler, Jonas: “Ein vordringlich
europäisches
Problem”. Umweltverschmutzung und saarländische Umweltdebatte im
deutsch-französischen Grenzgebiet 1945 bis in die 1960er Jahre.
Saarbrücken 2022
, ISBN 978-3-939150-16-9,, In: H-Soz-Kult,
22.06.2023, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-133571>.