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2018/08/25 07:00:33
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Stadt – Land – Fluss . Grabdenkmäler der Treverer in lokaler und überreg ionaler Perspektive
Datum 2018/08/30 19:54:19
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] C. Broodbank: Geburt der mediterranen Welt
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Roland Geiger
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2018/08/25 07:00:33
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Stadt – Land – Fluss . Grabdenkmäler der Treverer in lokaler und überreg ionaler Perspektive
Autor 2018/08/30 19:54:19
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] C. Broodbank: Geburt der mediterranen Welt

[Regionalforum-Saar] die Besucher einer Kirche betreffend.

Date: 2018/08/29 09:25:05
From: Roland Geiger <alsfassen(a)...

Guten Morgen,

der kanadische Journalist Robert Ward ist ein Mann, der sich selbst als Atheist bezeichnet, aber auch „Agnostiker“ gelten lassen würde, der von sich sagt, er glaube nicht an Zeichen. In seinem Buch „Pilgerwege eines Ungläubigen“, erschienen in Deutsch 2004 im Kreuz Verlag Stuttgart (ISBN 3-7831-2383-6, gibt’s bei Amazon für 18 Cent plus Versand), besucht er Santiage, Finisterre, Chartres, Lourdes, Fatima und andere große Wallfahrtsorte.

 

Meine Frau erhielt es jüngst zum Geburtstag, und ich habs mir vorgenommen als Ausgleich zu meinen üblichen Krimis und SF-Romanen. Gleich zu Beginn stieß ich auf einen Text, der mein Herz als Stadt- und vor allem Domführer hier in St. Wendel höher schlagen ließ.

 

Ich erinnerte mich an eine Führung mit einer Reisegruppe aus Speyer. Als wir hinterm Altar unter dem Hochgrab standen und ich meine Hand hinauf zum Sims des Grabes führte, um zu erläutern, wie die Sache mit der Reliquie meines Erachtens funktioniert und mich der Leiter der Gruppe mehr oder minder anfuhr, ich solle doch meine Fettfinger von dem Kunstwerk nehmen, und ich trocken erwiderte: „Sie haben recht, das ist ein Kunstwerk, aber genauso gut ist es ein sakraler Gebrauchsgegenstand, den wir berühren dürfen und sollen!“, worauf er eine Grimasse zog und von dannen stapfte.

 

Hier kommt Robert Wards Text zu den Besuchern einer Kirche, hier am Beispiel Notre-Dame in Paris:

 

(Seite 24 …)

 

Währenddessen quellen die weltlichen Horden weiterhin durch die großen Messingtore herein, strömen durch den Mittelgang nach vorn bis an die Absperrung, verweilen dort kurz, um sich den Gottesdienst anzuschauen, ziehen sich dann zurück und bilden kleine Strudel um den Andenkenstand. Längs des Weges verlangsamen sie ihren Schritt, um mit beiläufigem Interesse einen Blick in die Kapellen der Heiligen zu werfen: Genoveva, Laurentius, Clothilde und Vinzenz von Paul. Jedermann bewundert die königlich gekrönte Marienstatue aus dem 4. Jahrhundert (»die bekannteste der siebenunddreißig Mariendarstellungen in Notre-Dame«) und die leuchtenden Rosenfenster. Einige wenige zünden sogar eine Kerze vor dem Bronzekruzifix an, das Napoleon III. der Kathedrale geschenkt hat, oder vor der Muttergottes von Guadelupe oder der Maria auf der Säule beim Eingang.

 

Aber tun sie das als gläubige Beter oder als Touristen? Das ist nicht leicht zu sagen, wenn sie sich mit der Kerze in der Hand so herdrehen, dass sie gut aufs Foto kommen.

 

In der Hitze der Französischen Revolution hatte sich die gegen die Kirche angestaute Wut in der Form entladen, dass man die großen Kathedralen aus dem Mittelalter verwüstete. Der entfesselte Mob von Paris riss die Königsstatuen von der Fassade von Notre-Dame herunter (wobei es ihm egal war, dass es sich um Könige Israels handelte; Hauptsache, es waren Könige) und machte sich einen Spaß daraus, ihnen die Köpfe abzuschlagen und sie in die Seine zu schleudern. Die Szene muss den öffentlichen Racheakten gegenüber Statuen von Marx und Lenin nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime geglichen haben. Damals wie heute weinten manche den gestürzten Idolen nach, andere beklagten den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und einige wenige hatten einen Blick für die eigentliche Chance. Einer der Letzteren sprach 1793 vor dem Revolutionärskomitee der Stadt Chartres. Er sah die Zeit voraus, in der man sich nur noch von ferne an den christlichen Glauben erinnern würde und die Menschen aus aller Herren Ländern herbeigeströmt kämen, um die Schönheit der gotischen Kirchen Frankreichs zu bewundern — und für diesen Vorzug mit gutem Geld bezahlen würden. Das, so vertrat er, sei Grund genug, sie zu erhalten.

 

Könnte dieser kluge Mensch heute die Portale von Notre-Dame durchschreiten und sehen, wie die Scharen begierig sind, nicht nach Reliquien von Heiligen oder wundertätigen Marienbildnissen, sondern nach Dias, Bildbänden, Videos, Postkarten und Lesezeichen, so fände er sich in seiner Vorausschau voll und ganz bestätigt. Denn zwar stimmt es, dass die Christen das Haus ihrer Mutter noch nicht ganz aufgegeben haben, aber sie sind zur kleinen Minderheit gegenüber denjenigen geworden, die nur noch kommen, um die Architektur zu bewundern; gegenüber all den Besuchern also, die beim Betrachten dieses Bauwerks nicht das Haus der Muttergottes sehen, sondern deren Museum.

 

Nennen wir sie also »das Museum der katholischen Kirche von Notre-Dame zu Paris«. Seine »Dauerausstellung« besteht aus Gemälden, Farbfenstern, Skulpturen, kirchlichen Gebrauchsgegenständen und dem Bauwerk selbst. Alle diese Elemente dienten ursprünglich der religiösen Unterweisung oder Frömmigkeit; sie verwiesen über sich selbst hinaus auf das Himmelreich, spiegelten dessen Heiligkeit wider und waren von da her mit Leben erfüllt. Heute werden sie als Kunstgegenstände in Ehren gehalten und um ihrer ästhetischen Qualität oder kunsthandwerklichen Meisterschaft willen geschätzt. Sie verweisen nicht mehr auf ein Jenseits, sondern auf das historische Zeitalter und jenes künstlerische Milieu, das sie hervorgebracht hat. Es sind Kunstobjekte, und als solche sind sie so leblos wie die alten Amphoren in den Glasvitrinen irgendeines Museums.

 

Für die Augen des weltlichen Menschen, des »Museumsbesuchers«, hat Notre-Dame seinen Glanz der Heiligkeit verloren, oder zumindest ist die spezifisch katholische Natur seiner Weihe verschlissen. Zurückgeblieben ist nur noch ein ganz allgemein sakraler Charakter, der sich so gut wie nicht von demjenigen eines japanischen Tempels oder einer türkischen Moschee unterscheidet. Und trotzdem bleibt das »Museum Notre-Dame« eine Stätte der Verehrung — der weltlichen Verehrung. Schaut uns doch an, uns Touristen, wie wir mit verschränkten Armen und gedämpfter Stimme langsam gemessenen Schrittes darin umhergehen. Welcher Pilger könnte andächtiger sein?

 

Die Frage ist nur: Wem die Ehre zu erweisen sind wir hierher gekommen? Maria? Keineswegs. Wir weltliche Pilger sind gekommen, dem »Menschen« die Ehre zu erweisen. Dem Menschen als Schöpfer von Bauwerken. Dem Menschen als Künstler. Dem Menschen als Entwerfer komplexer Glaubenssysteme. Wenn wir an dieser Stätte Ehrfurcht empfinden, dann vor der Genialität der Baumeister, der Kunstfertigkeit der Handwerker, dem tiefen und kühnen Glauben der Pariser des Mittelalters. Wir richten unsere Aufmerksamkeit jetzt darauf, zu bewundern, welche Schönheit der Mensch zu schaffen fähig ist, und vielleicht fragen wir uns auch noch, was daraus geworden ist. Wir schlendern durch Notre-Dame »mit einem vagen, auf nichts Bestimmtes gerichteten Gefühl, als erwarteten wir, auf die Spur irgendeiner verlorenen Verheißung zu stoßen«, wie das John Ralston Sauls denkwürdig formuliert hat.

 

Und die ganze Zeit, mitten zwischen uns Besuchern mit ihrem vagen, auf nichts gerichteten Gefühl, gehen die Gläubigen, die Klebenden Ausstellungsstücke«, ihren spirituellen Verrichtungen nach. Die Gläubigen von Notre-Dame sind größtenteils keine Pilger, sondern hier ansässige Beter (obwohl man sagen könnte, jeder Kirchgang eines Beters stelle einen kleinen Pilgergang dar). Man kann sie leicht herauserkennen, denn Beter und Touristen verfügen, ähnlich wie unterschiedliche Vogelarten, über ihre je eigenen, deutlich erkennbaren Weisen der Bezugnahme zur Kathedrale. Während der Besuch des Touristen in Notre-Dame die Form eines langsamen, kreisrunden AbgrasRituals annimmt, wechselt der Beter zwischen tiefem, gesammeltem Stillsein und tatkräftigen zweckvollen Verrichtungen.

 

Man braucht bloß den touristischen Museumsgänger, wie ich einer bin, zu beobachten, wie er in Notre-Dame von Kapelle zu Kapelle schlendert, genau wie er das im Louvre von einem Gemälde zum andern tun würde, oder im Zoo von einem Käfig zum nächsten, immer mit der Hoffnung auf eine Überraschung, eine angenehme Zerstreuung für sein Auge oder eine kurze interessante Anregung für seinen Geist. Er bleibt in Bewegung, weil es für ihn keinen natürlichen Ort oder Grund zum Haltmachen gibt und er nichts wirklich anderes zu tun hat, als sich eben alles anzuschauen. Deshalb besteht sein typischer Weg darin, einmal alles im Kreis zu umwandern, wobei seine Füße einen langsamen Rhythmus annehmen, während seine Augen von Punkt zu Punkt gleiten und Eindrücke aufschnappen, um sie in den siebartigen Einkaufskorb seines Gedächtnisses zu packen. Sofern er genügend Zeit hat und nicht zu große Massen da sind, setzt er sich vielleicht auch einige Minuten auf einen der Kirchenstühle, um »alles auf sich wirken zu lassen«. Ist das getan, kann er guten Gewissens eine Postkarte heimschicken, um zu melden, er habe heute Notre-Dame »abgehakt«.

 

Im Gegensatz dazu setzt sich der Beter auf einen Platz ungefähr in der Mitte der Kirche und konzentriert sich ganz auf den Altar, mag da nun gerade ein Gottesdienst stattfinden oder nicht. Hat er seine Gebete verrichtet, so geht er zum Beichten oder besucht eine der Kapellen. Er hält sich unterwegs nicht bei anderen Kapellen und ihren Kunstschätzen auf, und wenn er sich zum Beten hinkniet, ist es ihm banausenhaft gleich, ob der Gegenstand seiner Andacht ein Werk des dreizehnten oder achtzehnten Jahrhunderts ist oder ob er der flämischen oder der provenzalischen Schule entstammt. Zudem »hakt« er nie Notre-Dame »ab«, denn schon in den nächsten paar Tagen wird er wieder hier sein, um zur Kommunion zu gehen, wieder zu beten oder wieder zur Beichte zu gehen. Kurz: Der Beter kommt nicht — oder jedenfalls nicht nur — in die Kirche, um sie zu erleben, sondern um sie zu gebrauchen.

 

Darin trennen sich die Wege des Touristen und des Beters. Denn der Tourist ist weithin entfremdet von dem, was er hier vorfindet. Seine Erfahrung ist die eines lebenden Objekts, das ein totes Objekt besucht. Bestenfalls, sofern das Feuer seiner

 

Einbildungskraft stark genug ist, kann er dem, was er sieht, ein bisschen Leben einhauchen und es ein klein wenig zum Glimmen bringen. Doch früher oder später wird ihm vermutlich wieder die Puste ausgehen. Der Gläubige dagegen begegnet in Notre-Dame etwas Lebendigem. Für ihn verfügt die Kirche über einen lebendigen Pulsschlag: Er kann sie berühren, kann etwas hören; sie gibt ihm Antwort.

 

Allerdings wird es starker Konzentration bedürfen, wenn man mitten im heutigen Getümmel noch diesen Pulsschlag wahrnehmen möchte. Heutzutage wirken sogar die Kerzenanzünder verdächtig so, als übten sie sich in einer »interaktiven Erfahrung«. Das ist einer dieser Augenblicke in einem Weltkulturerbe, die weniger bringen, als sie versprechen, denn letztlich hat etwas, das allen gehört, damit aufgehört, irgendjemand Bestimmtem zu gehören.

 

Also genug damit. Die Sonne scheint und Paris wartet.

 

Von der Mitte des Vorplatzes her werfe ich noch einmal einen Blick auf die hochragende Fassade zurück und sehe Maria, die sich wie ein Ausrufezeichen vor ihrem großen Rosenfenster erhebt und ihre Herrschaft über alles, was sie überblickt, beansprucht. Aber über ihr verlaufen noch höhere Brustwehren, und dort sind die Touristen die Herren, strömen vor und zurück, setzen sich neben den Wasserspeiern für Fotos in Pose, zeigen einander interessante Punkte der im Schimmer daliegenden Stadt.

 

Sind diese Barbaren auf den Brustwehren das Zeichen dafür, dass Marias Herrschaft zu Ende ist? Ereilt ihre Verehrung vollends das Schicksal, in der trockenen Hitze des Säkularismus zu verwelken?

 

Oder habe ich einfach an der falschen Stelle mit meiner Ausschau begonnen? … (Seite 28)

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Roland Geiger, St. Wendel.