Anlässlich des 200. Geburtstages von Karl Marx (*1818 in Trier,
†1883 in London) im Mai 2018 soll eine internationale Tagung zu
seinem Werk an der Universität Trier und an ausgewählten Orten
in der Stadt Trier veranstaltet werden, die dessen Werk und
Wirkung in historischer und systematischer Weise zur Diskussion
stellt.
Karl Marx gehört – neben Max Weber, Ferdinand Tönnies, Georg
Simmel und Karl Mannheim – zu jenen deutschsprachigen
Klassikern, deren Werke sozialwissenschaftliche, politische,
historische und gesellschaftliche Diskussionen und
wissenschaftliche Forschungen interna¬tional nachhaltig geprägt
haben und weiterhin prägen. Marx‘ Name steht zugleich für jene
Generation von Gelehrten, für die eine Beschäftigung mit
sozialen, politischen und historischen Fragestellungen ohne
philosophische Fundierung undenkbar war. Marx begründet das
Paradig¬ma einer »kritischen« Analyse und Theorie, das –
abgesehen von den insbes. von Max Weber und der frühen
Kritischen Theorie geführten Debatten – die theoretische
Landschaft in den Sozial- und Geschichtswis¬senschaften seit
Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts in
den USA und in Europa – entscheidend prägt. Marx‘ Geschichts-
und Kapitaltheorie beeinflussten sowohl das methodologische als
auch das theoretische Verständnis sozialer Wirklichkeit in
zahlreichen wissenschaftlichen Diskussionen nachhaltig und bis
heute gehen von der Rezeption seines Werkes neue Impulse für
deren Analyse aus.
Die Konferenz soll zentrale gegenwärtige und internationale, mit
dem Werk von Karl Marx verbundene Forschungsstränge
zusammenführen und die Weiterentwicklung sowie die theoretische
und empirische Relevanz dieses Paradigmas für die Gegenwart
diskutieren. Im Zentrum der Tagung steht dabei die konsequente
Historisierung der Arbeiten von Marx mit dem Ziel einer
Untersuchung ihrer systematischen Tragfähigkeit für aktuelle
Analysen gesellschaftlicher Konstellationen.
Namhafte Vertreter und kritische Kenner des Ansatzes aus Europa,
Asien und den USA sowie jüngere Forscher wurden gebeten, die
theoretischen und empirischen Möglichkeiten und Anschlussfelder
zu skizzieren, die Marx‘ Denken für ein Verständnis der
gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit bereithält, die aktuell
durch Stichworte wie „Globalität“, „Multikulturalität“,
„Migration“ und „Individualisierung“ geprägt sind.
Der Kongress unternimmt eine Bestandsaufnahme, wie weit die
Rezeption und Weiterentwicklung von Marx’ Denken „nach dem
Marxismus“, nach dem Scheitern der sich auf Marx berufenden
politischen Regime, gediehen ist. Die wesentlichen Instrumente
einer postmarxistischen Beschäftigung mit Marx als Person, als
bis heute äußerst einflussreicher Denker und aktiver Politiker
sind: Historisierung, Kontextualisierung, Entmystifizierung und
eine nicht dogmatische Rezeption des gesamten, heterogenen und
keineswegs widerspruchsfreien Oeuvres. Eines Oeuvre, das zudem
erst in jüngster Zeit historisch-kritisch ediert worden ist
(MEGA²). Zugleich hat Marx’ Denken – vor allem in
popularisierten Versatzstücken und Einzelaspekten, aber durchaus
auch in anspruchsvollen, „wissenschaftlichen“ und systematischen
Aneignungen (Lesezirkel, Arbeitskreise) – angesichts der
gegenwärtigen Krisen des Kapitalismus wieder große Aktualität
gewonnen und Hoffnungen geweckt, aus dem Oeuvre von Marx
Handlungsanleitungen und Lösungen für aktuelle politische
Problem ableiten zu können.
Die Herangehensweise der neun thematischen Sektionen, einer
Eröffnungs- und einer Abschlusssitzung für eine größere
Öffentlichkeit sowie zweier Einzelvorträge des geplanten
Kongresses ist in erster Linie geschichtswissenschaftlich und
sozialwissenschaftlich. Dabei sind für den Kongress sowohl
historische wie systematische und gesellschaftspolitische
Fragestellungen von Interesse. Der Kongress richtet sich auch an
ein breiteres, interessiertes Publikum und soll der Diskussion
viel Raum bieten. Durch begleitende studentische Blogs und
andere Formen der Öffentlichkeitsarbeit sollen die Ergebnisse
auch unmittelbar in die Öffentlichkeit getragen werden. Darüber
hinaus sollen die Beiträge der Tagung im klassischen Format von
zwei Tagungsbänden dokumentiert und so einer weiteren
Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Die Einführungsveranstaltung wird grundlegende Fragen und
Paradigmen einer undogmatischen Beschäftigung mit Marx und
seinem Denken im 21. Jahrhundert aufwerfen und zur Diskussion
stellen. Die beiden Sektionen 1 und 3 zielen sodann auf eine
exemplarische Historisierung der Marxschen Theorie und fragen
zugleich, wie weit diese Historisierung seit dem Ende des
„marxistischen“ Ostblocks gediehen ist. In bewusster Abgrenzung
von der im 20. Jahrhundert dominanten Deutung steht auf der
Trierer Tagung auch die Hypothese auf dem Prüfstand, dass Marx
nur als westlicher (d.h. in der preußischen Rheinprovinz und von
westeuropäischen Diskursen geprägter) Denker zu verstehen sei.
Gefragt werden soll: Welche biografischen Prägungen und
intellektuellen Einflüsse charakterisieren das Denken von Karl
Marx? Welche politischen Netzwerke haben es beeinflusst und sind
durch es entstanden? Welche Leitmotive ergeben sich aufgrund
dieser Rahmenbedingungen für einen konstruktiven Anschluss an
Marx‘ Analysen im beginnenden 21. Jahrhundert?
Als Verbindung zwischen dem geschichtlichen Marx, der in den
beiden historisch ausgerichteten Sektionen als Denker und
Politiker des 19. Jahrhunderts begriffen wird, und der
weltweiten Ausstrahlung sowie den aktuellen Fragen an Marx, die
am zweiten und dritten Kongresstag im Mittelpunkt stehen sollen,
rekonstruiert Sektion 7 die spannende Geschichte der Edition
seiner Werke und zugleich den Prozess der Kanonisierung der von
Marx äußerst zahlreichen hinterlassenen Manuskripte. Denn diese
Editionen waren keine allein wissenschaftlichen Vorhaben zu
einem der wichtigsten Denker des 19. Jahrhunderts, sondern immer
auch politische Projekte unterschiedlicher Akteure (SPD, KPdSU,
SED – um nur die wichtigsten zu nennen). In diesem Kontext
behandelt die Sektion auch die Entstehung des Marxismus, um
exemplarisch den Pluralismus der Marx-Rezeption – insbesondere
im Gegensatz zu den russischen (leninistischen/ stalinistischen/
ehemals ostdeutschen (DDR)) und später chinesischen Orthodoxien
– abzubilden.
In weiteren Sektionen widmet sich der Kongress vor allem
systematischen Fragen. Dazu zählt insbesondere auch diejenige
nach der Aktualität der in Marx‘ Werk entfalteten Analysen,
Diagnosen und Prognosen für die Geschichte der Wohlfahrt. In
zwei Sektionen wird nach Marx‘ Beiträgen und Impulsen für die
„Modern History of Welfare“ gefragt, wie sie sich in den letzten
150 Jahren variantenreich institutionalisiert und transformiert
hat (Sektionen 2 und 4). Im historischen Rückblick erweist sich
die Entstehung der vielfältigen Varianten des Wohlfahrtsstaates
als Ergebnis der Auseinandersetzung mit marxistischen Theorien
und der sich darauf berufenden kommunistischen und
sozialistischen Staatsformen. Verbunden mit dem Versuch der
Abwehr und mit der Abgrenzung von kommunistischen und
sozialistischen politischen Strömungen im Inneren und im
Wettbewerb mit bereits etablierten kommunistischen und
sozialistischen Varianten von Wohlfahrtlichkeit im Äußeren
entwickelten sich wohlfahrtsstaatliche Institutionen,
sozialpädagogische und sozialarbeiterische Dienstleistungen
sowie theoretisch-konzeptionelle Entwürfe. Hier interessieren
vor allem drei Epochen: die Zeit der Entstehung
wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ab dem späten 19.
Jahrhundert bis zum Beginn des 2. Weltkrieg, die
Blockkonfrontation nach dem 2. Weltkrieg bis 1990 mit ihrem
Dualismus wohlfahrtlicher Welten und die Epoche der
Transformation von Wohlfahrtlichkeit in den post-sowjetischen
und -sozialistischen Staaten und der (Rhetorik der) Krise von
Wohlfahrtlichkeit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten.
Die globale Dimension der Marx-Rezeption nimmt Sektion 6 in den
Blick und untersucht die Relevanz seines Werkes für
gesellschaftliche Problemanalysen des und im „globalen Süden“.
In diesem Rahmen soll das Erbe von Marx im Kontext kolonialer
und post-kolonialer Situationen der Vergangenheit und Gegenwart
erörtert und seine Bedeutung für soziale und politische
Bewegungen sowie die intellektuellen Konstellationen in
Lateinamerika, Süd-Asien und Afrika reflektiert werden.
In weiteren Sektionen des Kongresses sollen (jüngere) Versuche,
Marx‘ Ansätze zur Lösung von Problemen in
Gegenwartsgesellschaften zum Gegenstand werden. Diese werden in
drei Blöcken aufgegriffen, die sich den ökonomischen,
politischen und kulturellen Dimensionen des Werkes wie dieser
Probleme zuwenden. Geht es mit Blick auf die ökonomischen
Aspekte von Marx‘ Werk um Probleme, die sich im Zuge der
Krisenanfälligkeit eines finanzmarktgetriebenen Kapitalismus
einstellen (u.a. Erschöpfen der Wachstumsdynamik, Mobilität des
Kapitals, Auslagerung von Verelendungsprozessen an
nicht-westliche Gesellschaften), so mit Blick auf
(sozial-)politische Probleme im Kern um die Frage nach
forcierten sozialen Ungleichheiten aufgrund von Implikationen
und Effekten einer fortschreitenden Privatisierung
gesellschaftlicher Vorsorgemaßnahmen, Angst vor Armut,
Gerechtigkeitsfragen und die Möglichkeiten staatlichen Handelns
sowie schließlich in sozio-kultureller Hinsicht um die
wechselseitige Durchdringung von ökonomischen und kulturellen
Faktoren oder um Fragen der Möglichkeit einer normativen
Theoriebildung (Sektionen 5, 8 und 9).