Populäre Genealogie, Geschichtswissenschaft und
Historische
Demographie
48151 Münster, Seminar für
Volkskunde/Europäische
Ethnologie, Scharnhorststr. 100, 4. Etage
Arbeitskreis Historische Demographie, in
Zusammenarbeit mit
dem Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie der
Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster und dem Centre for Digital Humanities
der
Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
16.03.2018 - 17.03.2018
Von Georg Fertig
Der Arbeitskreis Historische Demographie ist
ein 1994
gegründeter informeller Zusammenschluss von Historiker(inne)n, die
in
wechselnder Zusammensetzung Themen der Geschichte von Familie,
Gesundheit,
Lebenslauf, Sozialstruktur und Bevölkerung bearbeiten. Er tagt in
der Regel
mindestens jährlich an wech-selnden Orten.
Für die Historische Demographie ist die
populäre Genealogie
ein unverzichtbarer Partner; für die akademische
Geschichtswissenschaft
insgesamt ist sie ein eher schwieriges und irritierendes
Gegenüber. Die Tagung
soll dazu dienen, drei Ziele zu erreichen. Erstens geht es darum,
die Motive zu
verstehen, aufgrund derer Genealog(inn)en Zeit und Geld,
technisches und
historisches Gespür für Erkenntnisse einsetzen, deren Nutzen in
der
akademischen Forschung nur selten Anerkennung findet. Genealogie
ist heute
längst nicht nur „Ahnenforschung“, die sozusagen den „Stamm“ eines
Stammbaums
nach oben verfolgt; sie erkundet auch die Seitenzweige der
„Baumkrone“. Welche
Vorstellungen hinter diesem Interesse lie-gen, ist mittlerweile
Gegenstand
sozialanthropologischer Forschung geworden – zwischen der
Phantasie, dass jeder
mit jedem verwandt ist, dem Traum, eigentlich von Adel zu sein und
dem
Bedürfnis, in eine lebendige Beziehung mit den Toten zu treten,
indem man sie
kennenlernt, liegen Welten.
Zweitens geht es um die Praktiken der
Genealogie, um
Erfassen, Verknüpfen und Mitteilen. Bei der Erfassung von Daten
scheint die
genealogische Forschung mehr und mehr in einem arbeitsteiligen
Verhältnis zu
den digitalen Humanwissenschaften zu stehen: Texterfassung bei den
einen,
Personenerfassung bei den anderen. Das passt zu einer derzeitigen
Tendenz der
Geschichtswissenschaft, mehr eine Ge-schichte der vielen Texte
(historische
Kulturwissenschaft) als eine Geschichte der vielen Menschen
(his-torische
Sozialwissenschaft) sein zu wollen. – Die zweite grundlegende
genealogische
Praktik ist das Verknüpfen, also das Aufstellen von Vermutungen
darüber, ob es
sich bei zwei oder mehreren Vorkommen einer Person um dieselbe
oder um andere
Personen handelt. Lassen sich hierfür formale Regeln (Algorithmen)
formulieren,
transparent machen, revidierbar gestalten? Auf Verknüpfungen
beruht auch das
Herstellen von Beziehungen. Genealogie schließt manche historische
Personen in
diese Beziehungen ein und andere aus. Wir suchen nach den
Großeltern unserer
Großeltern, aber nicht nach den Patinnen unserer Paten oder den
Lehrern unserer
Lehrerinnen. In welchem Maße hat die Genealogie ein offenes Auge
für
Nachbarschaftsbeziehungen, für gemeinsame Lebenswege von
Schulkameraden oder im
Militär? – Die dritte wichtige Praktik ist das Kommunizieren, das
Weitergeben
von Ergebnissen. In der akademischen Wissenschaft gibt es klar
definierte
Formen des Publizierens und Zitierens; die Weitergabe
genealogischer
Forschungsergebnisse erfolgt aber oft informell. Wie kann populäre
Forschung
ihre Zitierfähigkeit sichern? Und wo sind die
Wissenschaftler(innen), die das
nicht-wissenschaftliche Wissen der populären Forschung als Wissen
ernstnehmen
und nutzen?
Drittens ist genealogische Forschung eine wichtige Ressource für
die
Historische Demographie und eine mögliche Ressource für die
Geschichtswissenschaft insgesamt. Sie hat zu verschiedenen Zeiten
in
unterschiedlichen Verhältnissen zur Wissenschaft gestanden, und
sie als von
Nichtwissenschaftlern für die Wissenschaft hergestellte
„Ressource“ zu
bezeichnen, und nicht selbst als Wissenschaft (oder
„Hilfswissenschaft“), ist
nicht ganz selbstverständlich. Innerhalb des Spektrums
akademischer,
besoldeter, regulärer wissenschaftlicher Tätigkeiten haben
genealogische
Forschungen (das Zusammenstellen von Familien, das Konstruieren
von
Stammbäumen) mehrfach einen Platz gefunden: als „Historische
Hilfswissenschaft“, im Dritten Reich, in der älteren
ethnologischen
Feldforschung und in der klassischen Phase der Historischen
Demographie und
Mikrogeschichte – vier Felder des „Selbermachens“ von Genealogie
durch
Wissenschaftler, zu denen die moderne populäre Freizeitgenealogie
in Konkurrenz
steht und denen sie technisch, in Quantität und Qualität der
erfassten Daten
oft weit überlegen ist. Da vor allem die Computergenealogie nicht
nur Daten
verknüpft, sondern sie auch in großen Massen erfasst, erweitert
sich das
Spektrum möglicher Nutzungen dieser Daten. Die Zusammenarbeit von
Genealogie
und Geschichte ist nicht auf wenige wissenschaftliche
Fragestellungen mit ihren
teils auch vergänglichen Konjunkturen beschränkt; sie hat Zukunft.
Programm
Freitag 16.3.2018
12:00 Begrüßung und Einführung (Georg FERTIG
für den
Arbeitskreis Historische Demographie, Elisabeth TIMM für das
Seminar für
Volkskunde/Europäische Ethnologie)
12:30 – 14:00 Geschichte der Genealogie
Jürgen SCHLUMBOHM (ehemals MPI für Geschichte,
Göttingen):
Volksgenealogie, Dorfsippenbuch, bevölkerungsbiologisches
Gesamtkataster, 1920-1950
Katharina HERING (Georgetown): Populäre
Genealogie als
Migrationsgeschichte: Praktiken der Familiengeschichtsforschung
über die
Pennsylvania Germans (Pennsylvania Dutch), 1891–1966
14:00 – 14:30 Kaffeepause
14:30 – 16:30 Varianten der Zusammenarbeit
Roland LINDE (Detmold/Westfälische Gesellschaft
für
Genealogie und Familienforschung): Zur Methodik genealogischer
Forschung in
frühneuzeitlichen Quellen und ihrer transparenten Darstellung.
Erfahrungen
einer Arbeitsgruppe von Laienforschern und Wissenschaftlern
Harald LÖNNECKER (TU Chemnitz/Bundesarchiv
Koblenz):
Zwischen allen Stühlen. Genealogie als Wissenschaft und Praxis
Iris GEDIG (Erftstadt): Aspekte populärer
Genealogie:
Bericht aus der Praxis der Genealogie-Website
“Familienbuch-Euregio“ (Würselen
und umgebende Regionen)
16:30 – 16:45 Pause
16:45 – 18:15 Aktuelle demographische
Forschungen I: Krisen
in der Familie
Benjamin MATUZAK (MPI Halle): Coping and
Caring:
Institutionalised Vulnerability and Resilience of Families under
Economic
Pressure during Modernisation (Würselen, Meerssen, and Sart,
1850-1920)
Matthias ROSENBAUM-FELDBRÜGGE (Radboud
University Nijmegen):
Coping Strategies in Response to Crises: Family Split and
Migration Following
Parental Death in the Netherlands, 1863-1910
Ab 18:30 Abendessen im L’Incontro,
Scharnhorststr. 61 (auf
eigene Rechnung, für die Platzreservierung wird um Anmeldung bis
zum 10.3. bei
Samstag 17.3.2018
9:00 - 10:30 Ortsfamilienbücher
Volker WILMSEN (Münster/Westfälische
Gesellschaft für
Genealogie und Familienforschung): Mehr als nur Kirchenbücher -
die Quellen für
das Häuser- und Ortsfamilienbuch Albachten
Georg FERTIG: Ortsfamilienbücher als Quelle für
die Wirtschafts-
und Sozialgeschichte
10:30 – 10:45 Pause
10:45 - 13:15 Round Table: Was brauchen
Wissenschaftler von
Genealogen, was brauchen Genealogen von Wissenschaftlern?
(Moderation: Michael
Hecht, Konzeption: Katrin Moeller)
Sandro GUZZI-HEEB (Univ. Lausanne/Centre
Régional d'Etudes
des Populations Alpines)
Jan KEUPP (CDH Münster)
Katrin MOELLER (Univ. Halle, Historisches Datenzentrum
Sachsen-Anhalt)
Stephanie THIEHOFF (Univ. Southampton, Social Statistics &
Demography)
Elisabeth TIMM (Univ. Münster)
Jesper ZEDLITZ (Univ. Kiel / Compgen e.V.)
sowie alle Referentinnen und Referenten
13:15 - 14:15 Mittagspause
14:15 - 15:45 Aktuelle demographische
Forschungen II:
Demographie Ungarns
Karl-Peter KRAUSS (Fachbereich Demographie /
Sozialgeographie, Institut für donauschwäbische Geschichte und
Landeskunde):
Historische Anthropologie und Genealogie. Komplementarität in der
Annäherung an
eine Einwanderungsgesellschaft: Deutsche „Kolonisten“ im
Königreich Ungarn (18.
und frühes 19. Jahrhundert)
Gábor KOLOH (ELTE-Univ. Budapest): Birth
control in
Kleinmanok. Case study of a Lutheran German Village in Hungary
Kontakt
Prof. Dr. Georg Fertig, Universität Halle,
Institut für
Geschichte,
Steintorcampus, 06099 Halle (Saale)